»Cool.« Sie schaute sich kurz konspirativ um. »Am Samstag ist 'ne Demo, magst du mitkommen?«
»Danke, aber ich–«
»Komm schon, das wird ein Riesenspaß! Und deiner Seele würde es auch mal gut tun. Wir marschieren für den Frieden und protestieren dann vor ein paar Medienunternehmen – du weißt schon, Fernsehsender, Zeitungen und so – das wird supergeil, du solltest echt mitkommen. Wir haben Schilder, Sprechchöre, das volle Programm«, sagte sie mit fast tödlichem Sarkasmus. »Wie cool ist das bitteschön?«
Seth nickte hilflos. »Ziemlich cool, schätze ich.«
»Würde dir bestimmt gut tun, mal auf die Straße zu gehen und ein paar Dinge in Bewegung zu setzen. Raus aus dem Anzug und dann: Fight the Power, du weißt schon!« Sie blinzelte und legte den Kopf schief, das wirkte ein bisschen wie eine Punkrockversion des 40er-Jahre-Filmstars June Allyson.
»Ich würde wirklich gern mitkommen, Ruthilde, aber …«
»Apathie, Junge, Apathie – die wird die Menschheit noch ausrotten!«
»Ich will ja nicht apathisch sein, es ist nur …«
»Wie wäre es dann mit Sonntag?« Sie veränderte ihre Position und kniete sich auf ihren Stuhl, was sie oft tat, um ihre Oberarme bequem auf der Trennwand ablegen zu können. »Da kommen ein paar Leute bei mir in der Wohnung vorbei, alle total cool. Wir müssen uns irgendwie organisieren, damit wir was gegen diese faschistoide Maschinerie ausrichten können, die im Moment unsere Regierung fernsteuert. Ich meine, das ist viel schlimmer, als die Leute denken. Sogar die Presse steckt da mit drin. Und wenn die Zeitungen schon nicht mehr die Wahrheit sagen, wer beschützt uns dann vor der Diktatur? Es ist inzwischen echt ein Witz. Die Presse gehört irgendwelchen großen Firmen, und die haben ihre eigenen Interessen, du weißt schon! Deswegen benehmen die sich schon lange nicht mehr wie richtige Journalisten. Stimmungsmacher sind das, nichts weiter. Ausgedachte Storys und so, die berichten nur noch, was ihnen erlaubt wird und stellen nichts mehr infrage. Die hängen ihre Fahne in den Wind, Hauptsache Einschaltquoten und bloß keine Wellen machen, denn Wellen sind schlecht fürs Geschäft. Es ist finster, Seth, wirklich übel. Es ist eine Menge im Gange, und nichts davon ist gut, okay?«
Er nickte pflichtbewusst. »Okay.«
»Also, willst du kommen?« Sie grinste wieder. »Sonntag, meine ich.«
»Würde ich machen, Ruthilde, aber dieses Wochenende habe ich echt viel zu tun.« Er versuchte, ihr Lächeln so gut er konnte zu erwidern. »Trotzdem vielen Dank, ist nett, dass du an mich denkst.«
Sie seufzte. »Eines Tages wirst du schon ja sagen. Ich weiß, dass es noch Hoffnung für dich gibt!«
»Gut zu wissen.«
»Nein, ernsthaft, ich spüre das. Ich habe eine wirklich gute Intuition. Schon als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, wusste ich gleich, dass du keiner von diesen verkackten Robotern bist, die hier überall rumwackeln. Tief im Inneren bist du genau wie ich.«
»Ja, wir sind wie eineiige Zwillinge«, lachte er.
»In Körper und Geist«, sagte Ruth, wobei ihr Lächeln langsam verblasste. »Du weißt, was ich meine.«
»Ja, vielleicht hast du recht.«
»Du kannst die ganze Scheiße doch genauso wenig leiden, wie ich. Selbst dieses komische Firmengefängnis hier.«
Er schaute weg und widmete sich wieder seiner Aufräumtätigkeit. »Nun ja …«
»Ich weiß, ich weiß, du bist im Management und musst deswegen die Fassade aufrechterhalten. Das macht doch nichts, ist cool. Wir reden nur ein bisschen, oder? Ich meine, das ist doch okay, oder?«
»Klar, ich wollte gar nicht–«
»Es ist nur so, dass der Laden hier nichts voranbringt, mehr sag' ich ja nicht. Das Konzept vom Kapital, das den Menschen ihre Individualität aussaugt, das ist doch auf jeden Fall jenseits von Gut und Böse, meinst du nicht?«
»Mit der Einstellung wirst du es hier aber nicht weit bringen«, sagte Seth mit einem Augenzwinkern.
»Tja, wer will das auch schon?«
»Das ist allerdings 'ne gute Frage.«
»Ich finde, das ist ungefähr so wie mit dem Huckepackfisch.«
Seth starrte sie fragend an.
»Der Huckepackfisch.« Sie verdrehte die Augen. »Natürlich gibt es eigentlich so einen langen, wissenschaftlichen Namen dafür, irgendwas Lateinisches. Aber man nennt ihn den Huckepackfisch, weil er sich an andere Fische andockt. Ich hab neulich auf dem Discovery-Channel eine Sendung darüber gesehen, sehr cool. Weißt du, das ist so ein seltener Fisch, der im Amazonas lebt. Total klein, ungefähr so groß wie mein kleiner Finger, und der hat so Tentakel, mit denen er sich an größere Fische dranhängt. Diese ekligen Fressschläuche wachsen ihm aus dem Bauch raus, okay? Ich hab vergessen, wie sie diese Dinger genau genannt haben, aber auf jeden Fall ernährt er sich dadurch von seinem Wirt, ist halt so eine Art Parasit. Aber mit dem Unterschied, dass normale Parasiten ihren Wirt schädigen, aber ihn trotzdem am Leben lassen, weil sie sonst selbst sterben. Aber beim Huckepackfisch ist das anders. Der frisst einfach weiter, bis sein Wirtfisch tot ist, er tötet ihn ganz langsam, Stück für Stück. Der Huckepackfisch ist also kein Parasit, sondern ein Jäger, der als Parasit getarnt ist, verstehst du? Er kann auch ohne den Wirt überleben, also tötet er ihn am Ende und sucht sich dann den nächsten, an den er sich andocken kann. Dann geht das Spiel von vorne los. Echt 'ne fiese Nummer, oder?«
Seth fühlte sich auf einmal irgendwie unwohl. »Ja, das ist echt … faszinierend.«
»Mich hat das irgendwie an mein Leben erinnert. Ist doch so, als wären wir die armen Fische, die hier einfach so rumschwimmen und versuchen, ihr Bestes zu geben, aber die Firma, die Regierung, wer auch immer, ist der Huckepackfisch, den wir nicht mehr loswerden und der uns immer mehr auslaugt, bis wir sterben.«
»Grundgütiger, ist das nicht ein bisschen sehr pessimistisch, Ruthilde?«
»Es ist 'ne trostlose Welt da draußen, Alter.«
»Okay, ich werde darauf achten, mich vom Amazonas fernzuhalten.«
»Ich weiß, dass du auch was auf dem Herzen hast«, sagte sie, wobei sie ihre Stimme zu einem Flüstern senkte und einen ernsteren Tonfall annahm. »Ich beobachte dich manchmal, wie du grübelst, und ich kann es in deinem Gesicht sehen. In diesem sorgenvollen Ausdruck, den du dann hast, erkenne ich mich wieder, weißt du? Du bist nicht so wie die meisten anderen. Du bist ein Denker, so wie ich.«
»Okay, also was ich gerade denke, ist, endlich mal den Laden hier zu verlassen.« Seth stand auf und schnappte sich seine Tasche. »Ich seh' dich in ein paar Wochen.«
»Ich wette, du vermisst mich jetzt schon«, sagte sie mit einem resignierten Beiklang in der Stimme. »Hab einen schönen Urlaub.«
»Ich tu mein bestes. Sei brav!«
Ruthilde grinste ihn neckisch an und tauchte langsam hinter der Trennwand ab. »Aber nicht brav zu sein, macht viel mehr Spaß!«
Seth verschluckte ein Lachen und verließ seinen Arbeitsbereich. Er schaute noch im Büro von Bill Jacobs vorbei, dem Abteilungsleiter, aber das Meeting verlief ziemlich ereignislos. Anschließend ging er in Richtung Aufenthaltsraum.
Nachdem er den Wasserspender und ein ganzes Meer von Arbeitsplätzen passiert hatte, lockerte er seine Krawatte und ließ einen erleichterten Seufzer los. Zwei Wochen ohne diesen Laden würden ihm unermesslich gut tun.
Außer Louis Dodge und Darian Stone war der Aufenthaltsraum menschenleer. Sie hatten verabredet, sich dort zu treffen, denn da sie alle in verschiedenen Abteilungen arbeiteten – Darian in der Buchhaltung und Louis beim Versand – waren ihre Feierabendzeiten meistens ziemlich unterschiedlich.
»Hey Jungs«, sagte er halblaut.
Louis winkte ihn an den Tisch heran, an dem er und Darian saßen. »Ich wollte nach der Arbeit zu O'Learys rübergehen, eine Kleinigkeit essen und ein paar Drinks nehmen. Bist du dabei?«
»Danke, aber ich kann leider nicht.« Seth stellte seinen Aktenkoffer