…«
»Nein, natürlich nichts über Christy. Darauf habe ich euch doch mein Wort gegeben.«
Darian nickte energisch. »Natürlich, klar! Ich wollte auch gar nicht behaupten, dass – ich meine – ich wollte nicht indiskret werden, ich wollte nur wissen, ob es dir gut geht.«
Seth ließ sich nichts anmerken. »Danke.«
»Tja also, wenn du mal jemanden zum Reden brauchst, ich bin auf jeden Fall für dich da!«
»Das gilt umgekehrt genauso.«
Jetzt nickte Darian verlegen.
»Behalte Louis bitte im Auge«, sagte Seth, als er sich dem Fahrstuhl zuwendete. »Ich mache mir Sorgen um ihn.«
»Ich mache mir Sorgen um uns alle.«
Seth zögerte einen Moment. Obwohl es das Ehrlichste und Offenste war, das er Darian in den letzten 12 Monaten hatte sagen hören, brachte er es nicht übers Herz, darauf zu antworten. Die Angst stieg wieder in ihm auf, diese unerklärliche Panik. Er nickte kurz, dann hetzte er, ohne zurückzuschauen, auf den Fahrstuhl zu.
Warum konnten sie nicht mehr ganz normal miteinander reden, so wie früher? Es war so, als ob sie nur noch in einer Geheimsprache kommunizierten, wie Kinder, die ein so schlechtes Gewissen hatten, dass sie sich nicht mal gegenseitig in die Augen schauen konnten. Als die Fahrstuhltüren sich endlich schlossen, konzentrierte er sich auf den Gedanken, diesen Laden mit seiner kafkaesken Morbidität endlich verlassen zu können. Normalerweise würde er total begeistert in den Urlaub gehen, aber diesmal war er sich nicht sicher, was da draußen auf ihn warten würde.
Noch während der Fahrstuhl auf dem Weg in die Tiefgarage war, ertappte sich Seth dabei, wie er seine Therapiestunde in Gedanken Revue passieren ließ.
Visionen von Raymond, dem Schnee, Bilder, wie sie beide rannten – eine Endlosschleife ratterte durch seinen Kopf. Und seine Eltern waren auch immer irgendwie dabei, sie lungerten wie Gespenster in seinem Kopf herum. Düstere, entfremdete Wesen, die ihn von einem anderen Ort und einer anderen Zeit aus beobachteten.
Er versuchte, alle seine Gefühle herunterzuschlucken. Vielleicht fühlte er sich nur schuldig.
Wenn es eine Sache gab, mit der sich Seth Roman richtig gut auskannte, dann waren es Schuldgefühle. In seinem Inneren hatte es schon immer einen ungesunden Kontrast gegeben – einerseits liebte er das Leben, doch dem gegenüber stand ein unentwegter Selbsthass, der ihm, in Verbindung mit allem, was passiert war, das Gefühl gab, ein kompletter Versager zu sein. Er hatte nicht nur sich selbst enttäuscht, sondern war einfach in jeder Hinsicht gescheitert: als Sohn, als Bruder, als Ehemann, und dadurch, dass er sein Gottvertrauen verloren hatte, sogar als Christ.
Er war aber der Meinung, dass auch Gott versagt hatte. Er hatte sie alle im Stich gelassen: Seinen Eltern hatte er das Leben genommen, seinem Bruder den Verstand, und übrig gelassen hatte er von ihren Leben nur Trümmer. Ihre Welt war in Flammen aufgegangen, und nur Seths Schuldgefühle waren übrig geblieben, kraftvoller und unerschütterlicher als sein Glaube je gewesen war.
Obwohl er früh Feierabend gemacht hatte, geriet er auf dem Weg aus Boston heraus in den Berufsverkehr, der durch das Aufkommen von Eisregen noch zäher wurde. Eine Blechlawine so weit das Auge reichte, nur das regelmäßige Quietschen der Scheibenwischer konnte Seth ein bisschen ablenken.
In jener Nacht hatte es auch geregnet. Er erinnerte sich an den heftigen Wolkenbruch in der Situation, als die schrecklichen Nachrichten ihn erreicht hatten: Als der Notarzt am Unfallort eintraf, war sein Vater bereits tot gewesen. Seine Mutter hatte es noch ins Krankenhaus geschafft, war aber nicht mehr zu Bewusstsein gekommen und am nächsten Tag gestorben.
Der Anblick seiner Mutter in diesem Krankenhausbett – ein seelenloser Klumpen aus Fleisch und Apparaten, mit so vielen Kabeln und Schläuchen in ihr, dass man kaum sagen konnte, wo sie aufhörte und die Armada aus Maschinen begann – war eine Sache, die Seth nie aus seinem Gehirn hatte verbannen können. Ihr Kopf war ein Matschhaufen voller grauenhafter Wunden gewesen, ihr Mund weit aufgesperrt, weil ein faustgroßer Atemschlauch daraus hervorragte. Sie sah überhaupt nicht mehr aus wie ein Mensch.
Raymond hatte damals neben dem Bett gesessen und unkontrolliert geschluchzt, wobei er Seth hin und wieder angeschaut hatte; sein Blick schrie dabei förmlich: Tu irgendwas!
Seth betete stundenlang, so wie seine Mutter es ihm beigebracht hatte, er bat Gott um ein Zeichen, eine Erklärung, oder gar ein Wunder. Aber es kam keine Antwort. Diese Erinnerung markierte die letzte Situation, in der Seths Bruder noch etwas hatte, für das es sich zu leben lohnte. Als ihre Mutter dann starb, ging sein Wunsch – oder vielleicht sogar seine Fähigkeit – irgendjemandem oder irgendetwas eine Bedeutung beizumessen, mit ihr. Nach dem Unfall hatte Seth die Schule in der Hoffnung verlassen, sich um seinen Bruder kümmern zu können, aber nur wenige Tage nach der Beerdigung hatte Raymond seine mageren Habseligkeiten in einen Seesack gepackt und war einfach gegangen. Obwohl er im Verlauf der folgenden Jahre sporadisch immer mal wieder auftauchte, blieb er doch die meiste Zeit einfach verschwunden. Seth nahm einen Verkäuferjob an und ertränkte seine Sorgen in Alkohol. Nach einer Weile hatte er genug beisammen, um in ein eigenes Appartement zu ziehen, und wechselte schließlich vom Verkauf in den Kundendienst. Raymond zog hingegen während dieser Zeit quer durch die USA und verbrachte in mehreren Bundesstaaten Zeit im Gefängnis, weil er kleinere Straftaten verübt hatte oder mit ortsansässigen Bürgern aneinandergeraten war. Seth sah oder hörte kaum etwas von ihm, außer in den seltenen Fällen, wo er Kautionsgeld brauchte oder mal einen Brief aus einer Zelle schrieb. Trotz seines langsam ungesund werdenden Alkoholkonsums schaffte es Seth, einen Job bei Severance zu bekommen, wo er seitdem arbeitete. Die nächsten Jahre änderte sich kaum etwas bei ihm, es war eine einsame und düstere Zeit. Und dann lernte er Peggy kennen. Sie hatte die ausdrucksvollsten Augen, die er je gesehen hatte, sowie ein extrem ansteckendes Lachen. Sie war leidenschaftlich, direkt, intelligent und hatte einen wunderbaren Sinn für Humor, den Seth sehr entwaffnend fand. Sie trug kaum Make-up, da sie über eine sehr natürliche Schönheit verfügte, die zu ihrer ungekünstelten Art passte. Peggy war Bildhauerin, Malerin und Lehrerin, eine Künstlerin, die sich in Jeans und alten Turnschuhen einfach viel wohler fühlte, als in Kleid und High Heels. Sie trug Halstücher und geflochtene Armbänder, verrückte Ringe an Fingern und Zehen, und sie tanzte immer barfuß, wenn sich eine Chance dazu ergab. Für Peggy war Seth ein düsterer, grübelnder, mysteriöser und vielschichtiger Mann, den sie faszinierend fand. Und obwohl sie nicht weiter vom Leben eines festangestellten Dienstleisters hätte entfernt sein können, glaubte sie, dass Seth ihr tief im Inneren ähnelte. Das war einer der Gründe, warum er sich sofort in sie verliebte. Sie war nicht nur in der Lage, das Gute in Menschen zu sehen, sondern sogar die Wahrheit. Sie wusste nicht nur von den Qualen, die er durchgemacht hatte, sie sah mehr als nur die Schmerzen seiner Vergangenheit. Sie sah die Person, die er sein wollte, die Person, die er eines Tages sein konnte.
***
Als sie sich bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung für das örtliche Tierheim kennenlernten, waren sie beide Anfang 20 gewesen. Seth hatte damals gerade bei Severance angefangen, und Peggy hatte einige Monate zuvor ihren Abschluss in Kunstwissenschaft an der Lesley University gemacht. Sie arbeitete als Freiwillige in dem Tierheim, und da Seth sich einen Hund anschaffen wollte, hatte er den perfekten Grund, sie anzusprechen.
An jenem Tag ging er mit einem Welpen namens Petey nach Hause. Am darauffolgenden Abend ging er mit Peggy essen und ins Kino. Ein paar Monate und diverse Dates später gingen sie am Ufer des Charles River spazieren, und Seth machte ihr einen Heiratsantrag.
Kurz darauf wurden sie in einer kleinen Zeremonie von einem Friedensrichter verheiratet. Peggys Eltern, die beide Professoren in Cambridge waren, vertraten ihre Familie, und Seths Nana kam für ihn. Obwohl Raymond versprochen hatte, sein Trauzeuge zu werden, wurde er unerwartet in Pennsylvania festgehalten, nachdem er in eine Kneipenschlägerei geraten war. An seiner statt war in letzter Minute Darian eingesprungen, den Seth damals gerade erst besser kennenlernte. Irgendwann kam Raymond dann tatsächlich in Boston an, zu diesem Zeitpunkt waren Seth und Peggy bereits von ihrer Hochzeitsreise auf den Bermudas zurück und hatten ein nettes Appartement im Stadtteil Back Bay bezogen.
Nach zwei Ehejahren erfuhr Peggy, dass sie keine Kinder