der meisten Menschen liegt in der Mitte dazwischen, allerdings mit größerer Neigung nach der Seite des Schlimmeren hin. Nun sind unter den Arten der Lust manche ein notwendiges Bedürfnis, andere nicht: manche sind es nur bis zu einem gewissen Grade, und nicht mehr wo sie darüber hinausgehen oder darunter bleiben. Ganz ähnlich verhält es sich auch mit dem Begehren und mit der Unlust. Wer dem was Lust bereitet im Übermaß nachjagt, nicht aus übermäßiger Begierde, sondern mit ausdrücklichem Vorsatz, und dabei kein anderes Ziel als nur die Lust selbst im Auge hat, der ist ein unverbesserlicher Wüstling. Denn die notwendige Folge ist, daß ein solcher Mensch nicht dazu gelangt Reue zu empfinden, und daß er deshalb unverbesserlich ist. Denn wo keine Reue, da auch keine Besserung. Den Gegensatz zu ihm bildet der, der hinter dem Maß zurückbleibt; der die rechte Mitte einhält, ist der über die Lüste Erhabene, ihm gleicht derjenige, der körperlichen Schmerz nicht aus Schwachheit, sondern mit überlegtem Entschluß meidet.
Unter denen, die ihr Verhalten nicht nach Grundsätzen regeln, wird der eine von der Lust getrieben, der andere von der Scheu vor der aus dem Begehren entspringenden Unlust. Man sieht, es ist ein Unterschied zwischen dem Wüstling aus Grundsatz und diesen letzteren. Nun urteilt jedermann, daß es schlimmer ist verwerflich zu handeln, wenn man von Begierden gar nicht oder nur in geringem Grade getrieben wird, als wenn man unter dem Antrieb heftiger Begierden steht, und daß es schlimmer ist einen anderen zu mißhandeln wenn man gar nicht zornig ist, als wenn man es im Zorne tut. Denn was würde jener erst tun, wenn er in Zorn geriete! Mithin ist auch der Wüstling schlimmer als einer der seiner Begierde unterliegt.
Von den oben bezeichneten Verhaltungsweisen ist also die eine mehr eine Form der Willensschwäche, die andere bezeichnet den Wüstling. Zu dem seiner Begierde nicht Mächtigen bildet den Gegensatz der seine Begierden Beherrschende, zum Willensschwachen der Willensstarke. Willensstark sein heißt standhalten, Herr seiner Begierde sein heißt überlegen bleiben. Standhalten aber ist etwas ganz anderes als überlegen sein, wie nicht unterliegen etwas anderes ist als den Sieg davontragen. Darum ist es ein höheres Ziel, Herr seiner Begierden zu sein, als ihnen bloß Widerstand zu leisten.
Wer da sich schwach zeigt, wo die meisten widerstehen und sich kraftvoll bewähren, der ist weichlich und entnervt, denn auch Mangel an Nerv ist eine Art der Verweichlichung. Wer sein Gewand auf dem Boden schleppen läßt bloß weil er für die Beschwerde es aufzunehmen zu bequem ist, und wer sich geberdet wie ein Leidender, der hält sich nicht für elend, und ist doch einem Elenden ganz ähnlich. Mit der Herrschaft über die Begierden und der Dienstbarkeit unter ihnen ist es ebenso. Denn wenn einer starken und übergroßen Reizungen in Lust oder Unlust unterliegt, so ist es kein Wunder, und geschieht es trotz seines Widerstrebens, so verdient es Verzeihung. Beispiele sind Philoktet beim Theodektes, der unter den Folgen eines Schlangenbisses leidet, oder Kerkyon in der »Alope« des Karkinos, oder auch diejenigen, die sich das Lachen verbeißen möchten und auf einmal in schallendes Gelächter ausbrechen, wie es dem Xenophantos begegnete. Ganz anders wenn einer da wo die meisten zu widerstehen vermögen unterliegt und nicht standzuhalten vermag, nicht weil es so in der besonderen Natur seines Geschlechtes liegt, oder infolge einer Krankheit, wie bei den Königen der Skythen die Verweichlichung ihrem ganzen Geschlechte eignet, oder wie das weibliche Geschlecht gegen das männliche zurücksteht. Auch der immer nur auf Scherze Bedachte macht den Eindruck eines ausgelassenen Menschen, er ist aber bloß ein willensschwacher Mensch. Denn das Scherzen ist eine Erholung so weit als es ein Ausruhen bedeutet, zu denen aber die es bis zur Übertreibung lieben, gehört der, der immer nur Spaß treibt.
Mangel an Herrschaft über die Begierde kann ungestümes Drauflosgehen, kann aber auch einfache Schwäche sein. Manche überlegen erst, aber die Leidenschaft gestattet ihnen nicht, ihrem Entschluß treu zu bleiben; andere lassen sich von ihrer Leidenschaft treiben, weil sie gar nicht zum Überlegen gekommen sind. Denn manche sind in der Lage desjenigen, der dem Kitzel entgeht, weil er den Kitzel vorweggenommen hat. Weil sie zum voraus wahrgenommen, zum voraus sich umgesehen und sich und ihre Überlegung wach gehalten haben, unterliegen sie dem erregten Gefühle nicht, ebensowenig dem angenehmen wie dem schmerzlichen. Am meisten sind es die Leute von heftiger und hitziger Gemütsart, die in ungestümer Hingerissenheit die Herrschaft über sich verlieren. Die einen lassen sich wegen des schnellen Aufflammens, die anderen wegen der Heftigkeit ihrer Gefühle nicht Zeit zum Überlegen, weil sie immer geneigt sind, sich den empfangenen Eindrücken hinzugeben.
d) Böser Wille und schwacher Wille
Wir haben oben gesehen, daß ein zügelloser Mensch Reue zu empfinden nicht geeignet ist; denn er beharrt bei seinem Grundsatz. Dagegen ist der von seinen Begierden fortgerissene immer der Reue zugänglich. Daher verhält es sich nicht wirklich so, wie wir oben bei der Erwägung der Schwierigkeiten angedeutet haben; sondern der eine kann sich bessern, der andere nicht. Die Verderbtheit des Willens macht den Eindruck einer Krankheit wie Wassersucht oder Schwindsucht, der Mangel an Selbstbeherrschung den von Krämpfen. Jene ist ein chronisches, dieser ein akutes Übel. Mangel an Selbstbeherrschung und böser Wille sind zwei völlig verschiedene Gattungen. Von seiner Bosheit hat man kein Bewußtsein, aber wohl von seinem Mangel an Selbstbeherrschung. Von diesen letzteren, den Leuten ohne Selbstbeherrschung, stehen diejenigen die ganz außer sich geraten höher als diejenigen die erst überlegen und doch nicht ihrer Überlegung gemäß handeln; denn die Erregung der sie unterliegen ist von geringerer Stärke, und sie erliegen nicht wie die anderen ohne zur Überlegung gekommen zu sein. Der Mensch ohne Selbstbeherrschung ist ganz ähnlich solchen die schnell trunken werden, schon von einem geringen Maß Wein und von einem geringeren als die meisten anderen. Augenscheinlich also, daß Mangel an Selbstbeherrschung nicht böser Wille ist; aber allerdings, irgendwie ist er doch mit ihm verwandt. Der eine handelt wider sein grundsätzliches Vornehmen, der andere seinem Grundsatz gemäß; und doch, im wirklichen Handeln kommt beides auf das gleiche hinaus. Man wird an den Ausspruch des Demodokos über die Bewohner von Milet erinnert: »Die Einwohner von Milet sind nicht unverständig; aber was sie tun sieht gerade so aus, wie das, was die Unverständigen tun.« Menschen, die sich nicht zu beherrschen wissen, sind nicht von Gesinnung ungerecht, aber ihre Handlungen sind ungerecht. Der eine ist von der Art, daß er den übermäßigen, den der rechten Vernunft widersprechenden sinnlichen Lüsten nicht aus Grundsatz nachjagt; der andere tut es aus Grundsatz, weil es in seiner Art liegt diesen Lüsten nachzujagen. Jenen kann man eines Besseren belehren, diesen nicht. Denn sittliche Gesinnung hält das Prinzip aufrecht, unsittliche Gesinnung stürzt es um; im Handeln aber bildet der Zweck das Prinzip, wie in der Mathematik die Voraussetzungen. Daher gibt es so wenig dort wie hier eine theoretische Begründung für die Prinzipien; sondern innere Tüchtigkeit, entstamme sie nun dem natürlichen Temperament oder der Gewöhnung, hat zur Folge, daß man über die Prinzipien richtig denkt. Wer von Charakter so beschaffen ist, der ist über niedere Begierden erhaben; den Gegensatz zu ihm bildet der grundsätzlich seinen Lüsten Nachlebende. Es kommt vor, daß einer infolge leidenschaftlicher Erregung von der richtigen Einsicht abzufallen geneigt ist; ihn überwältigt die leidenschaftliche Erregung so weit, daß sein Handeln der rechten Einsicht widerspricht, aber doch nicht so weit, daß es bei ihm zur Charaktereigenschaft würde und er sich zum Grundsatz machte, solchen Lüsten rücksichtslos nachzujagen. Diesem geschieht es wohl, daß er sich vergißt; aber er steht immerhin höher als der grundsätzlich Zügellose, und er ist nicht ohne weiteres ein Mensch von schlechtem Charakter. Denn bei alledem bleibt das Wertvollste, das Prinzip, gewahrt. Im Gegensatze zu ihm steht der andere, der an dem Prinzip festhält und sich auch durch die leidenschaftliche Erregung nicht darin erschüttern läßt. Man ersieht daraus, daß die letztere Gesinnung die sittliche, die andere demgegenüber die niedere ist.
e) Wahre und falsche Willensstärke
Wie nun? Bedeutet Selbstbeherschung, daß man an jeder beliebigen Ansicht und jedem beliebigen Grundsatz, oder daß man an dem richtigen festhält? Und bedeutet Mangel an Selbstbeherrschung, daß man von irgendeinem beliebigen Grundsatz und einer beliebigen Ansicht abfällt, oder von einer