Aristoteles

Aristoteles: Metaphysik, Nikomachische Ethik, Das Organon, Die Physik & Die Dichtkunst


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vielmehr so verhalten, daß der eine nur gelegentlich auf einer beliebigen, im wesentlichen aber auf der wahren Ansicht und dem richtigen Grundsatz verharrt, und der andere nicht? Die Sache liegt so: wenn jemand dieses Bestimmte um dieses bestimmten Zweckes willen sich vorsetzt oder erstrebt, so erstrebt er und setzt er sich eigentlich dieses letztere vor, und jenes nur abgeleiteterweise. »Eigentlich«, damit meinen wir als solches und an und für sich. So kann es geschehen, daß der eine einer beliebigen Meinung treu bleibt, der andere einer beliebigen abtrünnig wird, während es sich in der Tat um Treue oder Untreue gegen die richtige Meinung handelt.

      Dagegen gibt es Menschen, die stets bei ihrer Meinung bleiben; man nennt sie starrköpfig. Sie sind schwer zu belehren und lassen sich nicht umstimmen; sie haben eine gewisse Verwandtschaft mit dem Willensstarken, etwa wie ein Verschwender sie hat mit dem in Geldsachen vornehm Denkenden und der Verwegene mit dem Kühnen; im Grunde sind sie doch in vielen Stücken ganz verschieden geartet. Denn jener, der Willensstarke, wechselt seine Haltung zwar nicht infolge leidenschaftlicher Erregung und Begierde, aber er läßt sich unter Umständen wohl umstimmen; dem anderen, dem von seiner Begierde Beherrschten, haben Gründe nichts an: die Mehrzahl ist den Begierden zugänglich und wird von ihren Lüsten getrieben. Starrköpfig sind die Eigenwilligen, die Unbelehrbaren und Ungebildeten, und zwar die Eigenwilligen unter der Macht von Lust und Unlust. Sie freuen sich ihres Sieges, wenn man sie nicht umzustimmen vermag, und empfinden es schmerzlich, wenn es ihrer Ansicht ergeht wie einem Volksbeschluß, der sich als null und nichtig erweist. Und so haben sie größere Ähnlichkeit mit dem, der sich nicht zu beherrschen vermag, als mit dem der seiner Herr bleibt. Dagegen kommt es auch vor, daß jemand an seinen Ansichten nicht festhält und doch nicht aus Mangel an Selbstbeherrschung. Das ist der Fall des Neoptolemos in Sophokles' »Philoktet«. Gewiß war das Motiv weshalb er nicht beharrte, seine Neigung, aber es war eine Neigung zum Edlen. Denn ihm galt es als etwas Edles, bei der Wahrheit zu bleiben, und Odysseus hatte ihn überredet die Unwahrheit zu sagen. Nicht immer also ist wer unter dem Antrieb der Neigung handelt, deshalb zügellos oder niedrig gesinnt oder willensschwach, sondern nur dann wenn die Neigung, durch die er sich bestimmen läßt, eine verwerfliche ist.

      Nun gibt es andererseits auch Charaktere, die an den das leibliche Leben betreffenden Dingen geringeres Interesse nehmen als geboten wäre, und die sich Infolgedessen den Anforderungen der Vernunft nicht fügen. Zwischen diesen und denen, die sich nicht in ihrer Gewalt haben, bezeichnet der, der sich zu beherrschen weiß, die rechte Mitte. Wenn der Unenthaltsame sich nicht an die vernünftige Vorschrift hält, so geschieht es infolge eines zu starken, bei jenen geschieht es infolge eines zu schwachen Triebes; der Enthaltsame dagegen hält an ihr fest und läßt sich durch keines von beiden davon abbringen. Bedeutet nun Enthaltsamkeit eine sittliche Eigenschaft, so folgt notwendig, daß die ihr entgegengesetzten Gesinnungen beide zu verwerfen sind, und in der Tat, so stellen sie sich dar. Aber weil die eine von beiden bei wenigen Menschen und in wenigen Fällen zur Erscheinung kommt, so macht es den Eindruck, als bilde, wie allein die Erhabenheit über die Lüste der zügellosen Hingebung an die Lüste gegenübersteht, ebenso auch die Enthaltsamkeit allein den Gegensatz zur Unenthaltsamkeit.

      Wie es nun auch sonst bei vielen Ausdrücken der Fall ist, daß sie verwandt werden, um einen bloß ähnlichen Begriff zu bezeichnen, so hat sich hier der Sprachgebrauch herausgebildet, daß man im Sinne solcher Ähnlichkeit von Selbstbeherrschung auch bei dem spricht, der über die Lüste erhaben ist. Der Enthaltsame nämlich hat gerade so wie der über die Lüste Erhabene die Eigenschaft, nichts unter dem Antrieb sinnlicher Lüste wider das Vernunftgebot zu tun; aber der eine ist niederen Begierden noch zugänglich, den anderen fechten sie gar nicht mehr an; der eine ist so geartet, daß er zu einem Genüsse der wider das Vernunftgebot wäre gar keinen Trieb mehr verspürt, der andere so, daß er für solchen Trieb wohl empfänglich ist, sich aber nicht von ihm bestimmen läßt. So besteht eine Ähnlichkeit ja gewiß auch zwischen dem, dem es an Selbstbeherrschung fehlt, und dem Wüstling; aber sie sind doch von Wesen verschieden. Beide sind den sinnlichen Lüsten ergeben; aber der eine, weil er es grundsätzlich für das Rechte hält, der andere ohne solche grundsätzliche Gesinnung.

      Die Möglichkeit ferner, daß bei einem und demselben Menschen Einsicht mit Mangel an Selbstbeherrschung verbunden sei, ist ausgeschlossen; denn wie wir oben dargelegt haben, der Mann von Einsicht ist auch der Mann von sittlichem Charakter. Einsichtig ist man außerdem nicht bloß durch das Wissen, das man besitzt, sondern durch die Fähigkeit, das Wissen auch im Handeln zu betätigen; wem es aber an Selbstbeherrschung fehlt, der ist zu solcher Betätigung im Handeln nicht geschickt. Dagegen steht nichts im Wege, daß ein Mann, dem bloß große Gewandtheit eignet, Mangel an Selbstbeherrschung zeige. Deshalb kann es wohl geschehen, daß haltlose Menschen doch den Eindruck von einsichtigen Menschen machen, weil die Gewandtheit sich in der Weise, die wir an früherer Stelle erörtert haben, von der Einsicht unterscheidet, und zwar was das verständige Urteil anbetrifft ihr nahe steht, was aber den im Handeln befolgten Grundsatz anbetrifft von ihr verschieden ist. Mithin verhält sich wer sich nicht beherrscht nicht wie ein Wissender und ruhig Erwägender, sondern wie ein Schlafender oder Betrunkener. Er handelt mit Willen, in gewisser Weise auch mit Wissen um das was er tut, und um den Zweck, zu dem er es tut, und dennoch ist er kein schlechter Mensch, denn seine grundsätzliche Gesinnung ist anständig und ehrbar, und so ist er nur in halbschlechter Verfassung. Auch ein ungerechter Mensch ist er nicht; denn er will keinem übel. Es gibt darunter solche, die an wohlüberlegten Entschließungen nicht festzuhalten vermögen, während andere Leute von heftigem Temperament überhaupt nicht zu einer Überlegung gelangen. So gleicht denn ein Mensch ohne Selbstbeherrschung einem Staatswesen, das lauter Beschlüsse faßt wie es sich gebührt und vortreffliche Gesetze besitzt, aber sie bloß nicht in Anwendung bringt, nach des Anaxandrides spöttischer Bemerkung:

      So wollt's die Stadt, die auf Gesetze doch nichts gibt.

      Ein schlechter Mensch gleicht dagegen einem Staatswesen, das zwar die Gesetze in Anwendung bringt; es sind aber schlechte Gesetze.

      Selbstbeherrschung und Mangel daran kommt zur Erscheinung in dem, was über die Gesinnungsweise der Menge hinausragt. Der eine entwickelt größere, der andere geringere Festigkeit, als die Masse aufzubringen vermag. Leichter zu bessern ist der Mangel an Selbstbeherrschung bei Menschen von heftiger Gemütsart, als bei denen, die sich die Sache zwar überlegen, aber nachher an ihren Entschließungen nicht festhalten, leichter auch bei denen, die infolge übler Gewöhnung als bei denen die infolge natürlicher Anlage an diesem Fehler leiden. Denn es ist immer noch leichter die Gewöhnung umzubilden als die Naturanlage; ist doch auch der Grund, weshalb die Gewöhnung schwer zu ändern ist, eben der, daß sie zur zweiten Natur geworden ist. So sagt auch Euenos:

      Freund, langdauernder Übung bedarf's, so sag' ich; sie wird dann

       Sich als zweite Natur der Menschen schließlich erweisen.

      Damit hätten wir denn die Frage nach dem Wesen der Selbstbeherrschung und der Dienstbarkeit unter der Begierde, der Willensstarke und der Willensschwache, und nach dem gegenseitigen Verhältnis dieser Charaktereigenschaften beantwortet.

      III. Gefühlsbildung

       Inhaltsverzeichnis

      Wer den Menschen im Zusammenhange des staatlichen Lebens betrachtet, muß die Bedeutung der Lust- und Unlustgefühle zu ermessen verstehen. Denn seine Aufgabe ist es, den Zweck in großen Zügen festzustellen, im Hinblick auf welchen man jegliches einzelne als ein Übel oder als ein Gut ohne weiteres bezeichnet. Aber auch sonst gehört es zu den notwendigen Aufgaben, darüber ins Klare zu kommen. Denn wir haben das sittlich Gute und das sittlich Schlechte als ein Verhalten zu Lust und Unlust gekennzeichnet, und die meisten Menschen sehen die Glückseligkeit als mit Lustgefühlen eng verbunden an. Darum ist auch der Ausdruck für den Glückseligen (makarios) abgeleitet von der Lustempfindung (chairein).

       1. Kritik herrschender Ansichten

       2. Die Gefühle und die Tätigkeit