Aristoteles

Aristoteles: Metaphysik, Nikomachische Ethik, Das Organon, Die Physik & Die Dichtkunst


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      1. Kritik herrschender Ansichten

       Inhaltsverzeichnis

      Nun sind manche der Meinung, keine Art von Lustgefühl sei ein Gut; sie sei es weder an sich noch unter besonderen Umständen; denn ein Gut sein und Quelle der Lust sein sei nicht dasselbe. Andere meinen, es gebe zwar Lustgefühle die schätzbar seien; die meisten aber seien nichts wert. Eine dritte Ansicht kommt dazu, wonach, mögen auch alle Lustgefühle etwas Gutes sein, die Lust gleichwohl unmöglich das höchste Gut sein kann.

      Den Satz, daß die Lust überhaupt nicht ein Gut sein könne, beweist man damit, daß alle Lust kein Sein und Bestehen hat, sondern ein bloßes Werden ist, ein Vorgang in der Empfindung, der zu einem naturgemäßen Zustand hinführt; kein bloßes Werden aber gehört derselben Gattung an, wie der Zweck, zu dem es führt, ebensowenig wie das Bauen und das Gebäude derselben Gattung angehöre. Zweitens, ein hochgesinnter Mann meidet die Lustempfindungen. Drittens, ein Mann von Einsicht strebt nach Freiheit von Unlust, nicht nach Lust. Viertens, Lustgefühle behindern das Denken, und das umsomehr, je intensiver das Gefühl ist; so beim Geschlechtsgenuß, wobei niemand seines Gedankens mächtig sei. Fünftens, es gibt keine Kunst des Lustgefühls, während doch alles was wirklich ein Gut ist durch Kunst erzeugt wird. Sechstens, Kinder und Tiere jagen der Lust nach.

      Der Beweis aber für die Ansicht, wonach nicht alle Lust wertvoll ist, wird darin gefunden, daß es auch verwerfliche und schimpfliche Lustgefühle gibt, die obendrein noch verderblich sind; denn manches was Lust bereitet ist geradezu gesundheitswidrig.

      Die Ansicht endlich, wonach die Lust nicht das höchste Gut ist, wird dadurch bewiesen, daß sie nicht der Zweck, sondern ein bloßes Werden, ein Vorgang sei. Das etwa ist es was man vorzubringen weiß.

      Indessen, daß die Lust kein Gut oder daß sie nicht das höchste Gut sei, wird durch die vorgebrachten Gründe nicht erwiesen. Das wird durch folgende Überlegungen klar werden. Zunächst, man spricht vom Guten im doppelten Sinne. Es ist etwas gut schlechthin oder es ist für jemand gut. Der gleiche Unterschied wird sich darum auch wohl bei den inneren Anlagen und den Verhaltungsweisen wiederfinden, und infolgedessen auch bei den inneren Regungen und Vorgängen. Diejenigen von ihnen, die sich als unwert darstellen, werden teils unwert an sich und ohne weiteres sein, während sie deshalb doch nicht wertlos für einen bestimmten einzelnen zu sein brauchen, sondern für diesen begehrenswert sein können; teils werden sie auch nicht einmal für das bestimmte Individuum, sondern höchstens im Augenblick und für kurze Zeit begehrenswert sein, aber nicht begehrenswert ohne weiteres; teils sind sie gar keine wirklichen, sondern nur scheinbare Lustgefühle, sofern sie von Unlust begleitet sind oder auch nur zum Zweck der Heilung dienen, wie bei den Kranken.

      Zweitens muß man das Gute als Tätigkeit und als Zustand auseinanderhalten. So sind diejenigen Vorgänge die den naturgemäßen Zustand herzustellen dienen, beiläufig auch Quellen der Lust, und es liegt solche Wirksamkeit schon in den Begierden des Teils an uns, der unverkümmerte Beschaffenheit und Naturanlage ist. So gibt es Lustgefühle, wo keinerlei Unlust und Begierde sie bedingt, wie die Tätigkeit des Denkens, wo kein Bedürfnis der Natur der Antrieb ist. Ein Beweis dafür, daß es Lustgefühle von nur begleitender Art gibt, liegt in der Tatsache, daß die Menschen nicht an derselben Lustquelle ihre Freude haben, während ihr natürliches Bedürfnis seine Befriedigung erlangt und nachdem es seine Befriedigung gefunden hat. Ist die Befriedigung erfolgt, so erfreuen sie sich an solchem was schlechthin Lust bereitet: soll sie erst erfolgen, so erregt ihnen auch solches Lustgefühle, was geradezu entgegengesetzter Art ist, so das Scharfe und das Bittere, was doch keineswegs von Natur oder schlechthin Lust bereitet. Sie sind denn auch nicht Lustgefühle schlechthin. Denn der Unterschied, der zwischen den Lust bereitenden Gegenständen herrscht, findet sich ebenso wieder in den Lustgefühlen, die von ihnen stammen.

      Drittens, es ist nicht notwendig, daß es ein anderes gebe, was wertvoller wäre als das Lustgefühl, so wie nach der Ansicht mancher das Endziel des Prozesses dem Prozesse selbst gegenüber das Wertvollere sein soll. Denn es sind gar nicht alle Lustempfindungen ein bloßes Werden ohne Sein oder von solchem Werden begleitet, sondern sie sind Tätigkeiten und bilden selbst das Endziel; sie ergeben sich auch nicht aus einem Werden, sondern aus einer Tätigkeit; das Endziel ist nicht bei allen von ihnen selbst verschieden, sondern das gilt nur von denen, die ihre Bedeutung in der Wiederherstellung des normalen Zustandes haben. Darum ist es auch nicht zutreffend, wenn man sagt, das Lustgefühl sei ein von bewußter Empfindung begleiteter Prozeß; man sollte es vielmehr bezeichnen als die Betätigung der naturgemäßen Verfassung, und statt »von bewußter Empfindung begleitet« sollte man sagen »ungehemmt«. Man hält sie für einen Werdevorgang gerade weil sie im eigentlichen Sinne ein Gut ist; denn man meint, Tätigkeit sei ein Werdevorgang; in Wahrheit ist sie etwas davon Verschiedenes.

      Wenn man aber die Lustempfindung als etwas Niederes deshalb bezeichnet, weil manches was Lust bereitet eine gesundheitswidrige Wirkung übt, so ist das geradeso, wie wenn man das was gesund ist deshalb als schlecht bezeichnen wollte, weil es für den Gelderwerb hinderlich ist. In solcher einzelnen Beziehung mag beides schlecht sein, aber deshalb ist es noch nicht an sich schlecht; schädigt doch auch das Studieren zuweilen die Gesundheit. Auch wird weder das Nachdenken noch sonst irgendein geistiger Zustand durch die Lustempfindung gehindert, die sie begleitet, sondern allein durch solche, die anderswoher kommt. Denn die Lust, die das Studieren und das Lernen gewährt, fördert vielmehr das Studieren und Lernen.

      Wenn es weiter heißt, keine Art von Lustempfindung sei das Erzeugnis einer Kunst, so ist das an sich eine ganz zutreffende Bemerkung, denn eine Kunst bedeutet auch sonst nicht schon tätige Wirksamkeit, sondern nur das Vermögen zu solcher Tätigkeit. Indessen darf man doch wohl die Kunst der Wohlgerüche und die Kochkunst als solche anführen, die der Lustempfindung dienen.

      Daß endlich ein über die Lüste erhabener Sinn sie meidet, der Einsichtige bloß ein von Unlust freies Leben anstrebt, Kinder und Tiere aber der Lust nachlaufen, für alle diese erhobenen Bedenken gilt dieselbe Lösung. Wir haben bemerkt, in welchem Sinne alle Arten der Lustgut schlechthin, in welchem Sinne sie es nicht sind; Kinder und Tiere nun laufen den letzteren nach, der Einsichtige will ihnen gegenüber nur Freiheit von Unlust. Es handelt sich dabei um die Arten der Lust, die mit Begehren und Unlust verbunden sind, um die sinnlichen Lüste, denn diese tragen solchen Charakter, und um das Übermaß derselben, um das wodurch ein ausschweifender Mensch ausschweifend ist. Diese sind es, die ein hoher Sinn meidet, während es Lustgefühle ganz wohl auch für den Hochgesinnten gibt.

      2. Die Gefühle und die Tätigkeit

       Inhaltsverzeichnis

      Von der Unlust ist es jedenfalls allgemein anerkannt, daß sie ein Übel und daß sie zu meiden ist. Sie ist teils ein Übel schlechthin, oder sie bedeutet für irgend jemand irgendwie ein Hindernis. Was nun dem was man meiden soll, sofern es zu meiden und sofern es ein Übel ist, entgegengesetzt ist, das ist ein Gutes; also muß Lustempfindung notwendig etwas Gutes sein. Was Speusipp als Erwiderung vorbringt, daß wie das Größere zugleich dem Kleineren und dem Gleichen, so die Lust beiden, der Unlust und der Freiheit von Unlust gegenüberstehe, das trifft nicht die Sache. Denn er selber wird nicht behaupten wollen, daß das Lustgefühl eigentlich ein Übel sei.

      Nichts hindert aber auch die Annahme, daß das höchste Gut selbst eine Art von Lustgefühl sei, wenn es gleich manche Lustgefühle von niederer Art gibt ebenso wie auch eine Art von wissenschaftlicher Erkenntnis das höchste Gut sein könnte, wenn manche Erkenntnisse von schlimmer Art wären. Vielmehr ergibt sich geradezu mit Notwendigkeit, daß, wenn es doch für jede Art von geistigen Tätigkeitsrichtungen Betätigungen ohne Hemmung gibt, mag nun die Betätigung aller insgesamt oder die einer einzelnen von ihnen die Glückseligkeit ausmachen, diese Betätigung, falls sie frei von Hemmung ist, das Begehrenswerteste ist. Das Gefühl solcher ungehemmten Tätigkeit aber ist das Lustgefühl. Damit wäre denn also eine Art des Lustgefühls das höchste Gut, ungeachtet die meisten Arten der Lust etwas Niedriges, und wenn man will etwas schlechthin Niedriges sind.

      Darum