tierischen. Aber warte erst mal ab, bis du deine Mitbewohner im La Palma kennenlernst!«
3. Kapitel
Emma blieb wie angenagelt auf der Türschwelle stehen. Es roch nach Oma! Ganz klar. Nach Großeltern und Muff und Feuchtigkeit. Sie schloss die Augen und war wieder Kind.
Sie hörte Oma Ilses sonore Stimme und Opa Heinrichs Brummen, sein: »Ilse, nun lass das Kind doch in Ruhe!« Oma hatte immer Ideen, was Emma tun könnte oder sollte oder eigentlich wollen sollte. Solche Ideen hatte Ilse Schneider übrigens im Umgang mit allen Menschen, die ihr näher kamen. Sie nahm einfach an, jeder müsste, so wie sie, immer in Bewegung sein. Deshalb hatte sich auch niemand in der Familie vorstellen können, wie Oma Ilse auf Teneriffa zurechtkommen würde. Schon ihren Fischladen aufgeben zu müssen – er wurde durch einen griechischen Imbiss ersetzt, inzwischen war ein Pizza-Service drin –, war ihr unendlich schwergefallen. Opa Heinrich war der Pragmatische gewesen. Er hatte seiner Frau und später der ganzen Familie minutiös vorgerechnet, dass der Laden sich seit langem schon nur noch trug, weil sie beide unermüdlich schufteten und weil ihnen das Haus gehörte, in dem der Laden war. Hätten sie Miete zahlen müssen, selbst eine der in der Wanner Innenstadt – diesem Resteteller einer Einkaufszone – üblichen Mini-Mieten, wären sie schon längst pleite gewesen. Jetzt kam stattdessen Pacht ein – »und wir können endlich unser Apartment auf Teneriffa richtig nutzen«. So hatte Opa Heinrich gesprochen, als der Fischladen endgültig aufgegeben war.
Kurze Zeit später hatten Heinrich und Ilse die Hausverwaltung des La Palma voll im Griff. Heinrich wurde Präsident der Eigentümerversammlung, Ilse organisierte das Büro – wie sie früher den Fischladen im Griff gehabt hatte. Immerhin enthielt das La Palma über hundert Apartments und hatte fast ebensoviele Eigentümer. Die wenigsten wohnten dauerhaft hier. Es gab immer was zu tun. Und wenn es nichts zu tun gab, dann zu planen und zu schlichten. Heinrich und Ilse flogen zunehmend seltener nach Deutschland. An Feiertagen telefonierte man, das war‘s.
Bis Heinrich starb, vor fünf Jahren. An Herzinfarkt. Ilse bestand darauf, ihn »zuhause« zu beerdigen. Sie hatte rechtzeitig eine Grabstätte reserviert, auf dem Friedhof an der Wiescherstraße. Für beide. Und den Grabstein ausgesucht. Dunkler Marmor. Für beide. Und darunter lag sie jetzt auch, seit einer Woche, neben ihrem Heinrich. Heimgekehrt im Sarg.
Emma hatte es erstaunt, wie routiniert der Leichentransport abzuwickeln war. Das Herner Bestattungsunternehmen nahm alles in die Hand. Emmas Eltern konnten sich darauf beschränken, Unterschriften zu leisten. Und zu zahlen. Aber Ilse Schneider hatte auch dafür vorgesorgt. Sie hatte ihren Erben ein gut gefülltes Konto hinterlassen. Sie hatte alles testamentarisch geregelt. Wahrscheinlich hatte sie ihrem Sohn und der Schwiegertochter nicht zugetraut, eine Beerdigung zu organisieren, so, wie eine Beerdigung zu sein hatte, nach Oma Ilses fester Überzeugung. Bis hin zum Streuselkuchen und den Mettbrötchen hatte sie alles minutiös geplant und vorbestimmt.
In ihrem Testament stand auch, dass Emma das Apartment auf Teneriffa erben sollte. Emma allein. Ohne Erklärung. Emma vermutete, das sollte Oma Ilses subtile Rache an Sohn und Schwiegertochter sein, Emmas Eltern. Die hatten sich nie für Teneriffa interessiert, waren nur ein, zwei Mal dort gewesen, auf Heinrichs und Ilses heftiges Drängen hin, und sie hatten keinen Zweifel daran gelassen, dass sie den Entschluss der Großeltern, quasi auszuwandern, zutiefst missbilligten. »Was wollt ihr denn da? Ihr kennt da niemanden. All eure Freunde und Verwandte leben hier im Ruhrgebiet. Ihr sprecht kein Spanisch. Ihr habt dort nichts zu tun. Das werdet Ihr nicht lange aushalten. Und immer ist das Wetter gleich.«
»Immer gleich perfekt«, hatte Oma Ilse erwidert. Auf den Herner Winter könne sie getrost verzichten, auf den Frühling, den sogenannten Sommer und den Herbst gleich mit. Freunde finde man, wenn man sie suche, überall. Mit Deutsch komme man ganz gut durch auf der Insel. Da gebe es längst auch deutsche Bäcker. Und wem wirklich viel liege am Kontakt zu ihnen, der könne sie ja besuchen kommen… Im La Palma ständen immer Apartments leer, die von ihren Eigentümern gerade nicht genutzt würden. Und übrigens sei das Leben auf der Insel nicht nur besser, sondern auch noch viel billiger als im nebligen Germanenland. Also würden sie dort viel weniger ausgeben können. Das sollte ihre Erben doch freuen!
Emma öffnete ihre Augen und sah sich im Apartment um. Es war eines der größeren im Haus, mit geräumigem Wohnraum, Essplatz vor dem Balkon, kleiner Küche, Schlafzimmer, Gästezimmer, Bad und WC. Schon von hier aus, von der Eingangstür aus, konnte sie das Meer sehen, jenseits des Balkons. Vor den Fenstern hingen dicke weinrote Vorhänge mit goldenen Troddeln. Aber der Blick durch die gläserne Balkontür war frei.
Emma schloss die Tür hinter sich, durchquerte den Raum und schob die aluminiumleichte Balkontür auf. Sofort stieg ihr das Brausen der Brandung zu Kopf. Wie das Atmen eines riesigen Ungeheuers, dachte sie, und ihr fielen Gespenstergeschichten wieder ein, die Opa Heinrich ihr vorgelesen hatte, wenn sie bei ihm und Ilse in den Ferien war. Auf der Klappcouch im Gästezimmer hatte sie geschlafen – und, bei offenem Fenster, immer das Meer gehört; mal lauter, mal leiser, mal krachend. Wie ein Ungeheuer eben, dachte sie immer, ein Ungeheuer, das mal gute und mal schlechtere Laune hat und mal richtig aufgebracht ist. Das gründlich Luft holt und sie dann ausstößt, mal lauter, mal leiser. Das aber niemals ganz zur Ruhe kommt.
Nicht wie das Mittelmeer. Das war ein Entenpfuhl dagegen, ein blauer Pfuhl, aber ein Pfuhl, dachte Emma. Sie sog voll Genuss tief die frische, zart gesalzene Seeluft ein. Das tat gut. Im Gegenlicht konnte sie sehen, dass über der Brandung ein Nebelschleier hing. Salz legte sich hier auf jede Oberfläche. Die Balkonbrüstung war rau von Korrosion. Emma hatte Oma Ilses Klage im Ohr: »Wenn man hier nicht dauernd streicht und putzt und erneuert, rostet alles weg.« Deshalb auch das Aluminium. Das rostete nicht, setzte mit der Zeit aber einen weißlichen, angerauten Belag an. Über Wohnungseigentümer, die »sich um nichts kümmern und alles vergammeln lassen«, konnte Oma endlos klagen. Ihr neues Leben, ihr Inselleben, hatte sie dem Kampf gegen die Schlamperei gewidmet. Im Namen der Asociación de Propietarios gab sie, Briefe schreibend, Anrufe tätigend, Faxe versendend, Aushänge am Schwarzen Brett im Treppenhaus aushängend, keine Ruhe, bis säumige Nebenkostenzahler zähneknirschend ihren Anteil zum Neuanstrich, zu Reparaturen und Renovierungen beigetragen – oder hausordnungswidrig an Balkonen befestigte Wäscheleinen beseitigt – hatten. »Wie sieht das aus? Sind wir hier etwa in Neapel?« pflegte Oma Ilse zu wettern, einhelliger Zustimmung sicher.
Genauso rigoros ging sie gegen Eigentümer vor, die glaubten, ihr Apartment dauerhaft untervermieten zu können, womöglich an kinderreiche Einheimische. Das war laut Satzung verboten, wie jede kommerzielle Weitervermietung. Oma Ilse wusste die entsprechenden Paragrafen auswendig. Und zitierte sie mit zunehmender Häufigkeit. Denn irgendeine Sauerei lag immer vor, aus Ilses Sicht. Das hatte Emma – und ihren Eltern sowieso –, aber auch vielen alten Freunden und Bekannten, das Telefonieren mit Ilse Schneider zuletzt mehr und mehr verleidet.
Emma seufzte und drehte sich um. Das also war jetzt alles ihres. Sie war jetzt, ohne ihren Willen, Immobilienbesitzerin, zum ersten Mal in ihrem Leben. Freute sie sich? Sie wusste es nicht. Doch, Eigentum war ihr durchaus wichtig. Es war ihr zum Beispiel wichtig, gute Koffer und Taschen zu besitzen, nicht irgendwelche Billigbehältnisse von Kodi. Jedes der wenigen Möbelstücke in ihrer kleinen Bochumer Wohnung hatte sie sorgfältig ausgewählt. Haben oder Sein? So ein Quatsch. Ohne Haben kein lohnendes Sein, so sah sie es. Aber man musste den Überblick behalten beim Sein. Zuviel Besitz machte blind für Details.
Nichts von den Möbeln, die jetzt hier vor ihr standen, hätte sie gekauft, würden ihr ganz persönliches Sein aufhellen können, das sah sie sofort. Weder die Schrankwand im Nussbaumlook, noch die hellgrauen, ziemlich neuen Polstermöbel, noch der Glastisch auf verschlungenem Schmiedeeisengestrüpp. Noch die Bilder an den Wänden. Nichts davon passte zu ihr. Nichts davon wollte sie um sich haben. Schon gar nicht die dunkelroten Vorhänge mit den goldenen Troddeln. Sie kam sich vor, als würde sie sich in einem Oma-Ilse-Museum bewegen. Emma riss, einer plötzlichen Eingebung folgend, alle Vorhänge auf. Mit einem Mal war die Wohnung dem Dämmerlicht entrissen; lichtdurchströmt, sonnendurchflutet. Dennoch: Das hier war nicht ihr Zuhause – und würde es nie werden, auch kein Zweit-Zuhause. Emma beschloss, so schnell wie möglich den tinerfenischen