Christoph Werner

Marie Marne und das Tor zur Nacht


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ihre beiden Freundinnen sehr unterschiedlich waren, hatte Marie schon lange nicht mehr so deutlich empfunden. Sie schaute sich um, konnte aber niemanden aus der Familie entdecken. Langsam schlenderte sie einmal um die Tanzfläche herum, als sie ihre Mutter aus dem Fahrstuhl kommen sah. Ihr Gesicht war ernst und sie winkte Marie zu sich heran. Etwas stimmte nicht, das merkte Marie sofort.

      „Wir müssen nach Hause“, sagte Regine. „Es ist etwas passiert.“

      Marie erschrak. „Mit Oma?“, fragte sie.

      „Nein, mit deinem Vater.“

      „Was!? Wo ist er?“

      „Unten in der Lobby. Paul und Luise sind bei ihm. Wir müssen gehen, hast du deine Handtasche?“

      Marie hielt ihre Handtasche hoch. Regine nickte und rief den Fahrstuhl.

      „Was ist denn passiert?“, fragte Marie und versuchte, ihre Panik zu unterdrücken.

      „Wissen wir nicht“, sagte Regine leise. „Er spricht nicht mehr, sitzt einfach da und singt. Er scheint niemanden zu erkennen. Bete, dass es kein Schlaganfall ist.“

      Marie wollte Hanna noch etwas zurufen, aber der Fahrstuhl kam und Regine stieg sofort ein. Als sie in der Lobby ausstiegen, war der Krankenwagen schon da. Hannes saß in einem Sessel. Vor ihm hockte die Notärztin. Sie leuchtete ihm mit einer Taschenlampe in die Augen. Es schien ihn nicht zu stören. Als sie näher kamen, hörte Marie ihren Vater summen. Er schaute niemanden an. Sie ging zu ihm und legte ihm die Hand auf den Arm. Er reagierte nicht, weder auf die Berührung noch auf ihre Anwesenheit. Die Notärztin stand auf. „Er muss gründlich untersucht werden“, sagte sie. „Am besten wir fahren jetzt.“

      „Ist es ein Schlaganfall?“, fragte Regine.

      „Das kann ich nicht ausschließen“, antwortete die Ärztin, „aber ich glaube es nicht. Wir müssen ihn untersuchen.“

      „Oma bringt dich nach Hause, Schatz“, sagte Regine.

      Marie protestierte sofort. „Nein, ich komme mit, ich will nicht alleine mit Oma zu Hause sein. Ich komme mit.“

      Regine überlegte einen Moment, dann nickte sie. Die Verabschiedung war kurz. Onkel Paul umarmte sie und sagte, sie sollten ihn sofort anrufen, sobald sie etwas wüssten. Oma Luise weinte ein bisschen. Die Ärztin und Regine griffen Hannes unter die Arme. Er stand sofort auf und folgte ihnen. Aber er schien nichts von dem wahrzunehmen, was um ihn herum geschah.

      „Wieso war Papa denn hier unten?“, fragte Marie auf dem Weg zum Krankenwagen.

      „Er hat sich hier unten mit einem Mann getroffen, hat die Rezeptionistin gesagt.“

      „Was für ein Mann?“, fragte Marie.

      Regine zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, sie konnte ihn nicht beschreiben.“

      „Aber sie muss doch wissen, wie der Mann ausgesehen hat“, sagte Marie.

      „Aber sie weiß es nicht“, schimpfte ihre Mutter, „sie kann ihn nicht beschreiben, keine Ahnung warum. Paul hat sie befragt und den würde sie ja wohl kaum anlügen, der ist immerhin ihr Chef.“

      Die Ärztin bestand darauf, dass Hannes sich hinlegte. Er gehorchte. Auf der Fahrt in die Klinik beantwortete Regine tausend Fragen: Ob Hannes regelmäßig Medikamente oder Drogen nahm, ob er irgendeine chronische Krankheit hatte, ob er schon einmal einen epileptischen Anfall hatte, ob so etwas in seiner Familie schon einmal vorgekommen war und so weiter und so fort. Einmal lachte Hannes plötzlich und dann nickte er.

      „Seltsam“, sagte die Ärztin leise, „so ein Fall ist mir noch nicht untergekommen.“

      Diesen Satz sollten Regine und Marie in den folgenden Tagen noch oft hören. Jeder Arzt, dem Hannes vorgestellt wurde, sagte ihn am Ende seiner Untersuchung.

      7. Kapitel

      Es war am zweiten Sonntag, nachdem Hannes ins Krankenhaus gekommen war, als Marie gleich nach dem Aufwachen beschloss, zum Bäcker an der Ecke zu fahren und Brötchen zu kaufen. Sie zog sich an, nahm Kleingeld aus dem Portemonnaie ihrer Mutter und fuhr, ohne sich gewaschen zu haben, mit ihrem Fahrrad an den anderen Einfamilienhäusern vorbei bis vor zur Straße. Ein Hund lief ihr bellend hinter dem Zaun des Nachbargrundstückes nach, sonst war alles still. Die Straße lag verlassen in der Morgensonne.

      Wenn nicht vorne an der Ecke, dort wo der kleine Bäckerladen war, eine Straßenbahn vorbeigedonnert wäre, hätte man sich kaum vorstellen können, in einer Großstadt zu sein. Einfamilienhaus reihte sich an Einfamilienhaus, Wintergärten, Garagen, saubere Auffahrten und etwas zu originelle Briefkästen. Dann plötzlich die vierspurige Straße, Ampeln, Läden, zugeparkte Gehwege und die Straßenbahnhaltestelle, von der Marie wochentags immer in die Schule fuhr. Sie stellte ihr Fahrrad ab und betrat den Laden. Es duftete herrlich nach frisch gebackenen Brötchen. Gerade als sie die gebrochen deutsch sprechende Verkäuferin gebeten hatte, ihr fünf Doppelte zu geben, sagte plötzlich jemand neben ihr: „Wenn du mit deinem Vater sprechen willst, komm heute allein in die Klinik.“

      Marie ließ das Geld fallen und fuhr herum. Neben ihr stand ein dünner großer Mann in einem schwarzen Anzug mit einem schwarzen Cowboyhut auf dem Kopf. Er hatte lange weiße Haare, die unter dem Hut hervorschauten.

      „Was?“, fragte sie. „Was haben Sie gerade über meinen Vater gesagt?“ Sie merkte, dass diese Frage laut und fordernd aus ihrem Mund kam, ohne dass sie das beabsichtigt hatte.

      Der schwarz gekleidete Mann sah sie nur kurz an, nickte und ging dann, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Marie starrte ihm nach. „Ich will wissen, was Sie gerade über meinen Vater gesagt haben“, rief sie, aber der Mann drehte sich nicht einmal um.

      Die Verkäuferin tippte auf den Zettel, auf den sie den Preis für die Brötchen geschrieben hatte. Marie sammelte das Geld auf dem Fußboden zusammen, legte es auf den Teller an der Kasse, nahm ihre Brötchen und rannte hinaus. Neben ihrem Fahrrad blieb sie stehen und sah sich um. Die Sonne schien ihr ins Gesicht, im Radio hatten sie 30 Grad vorausgesagt. Wo war der schwarz gekleidete Mann? Woher war er gekommen, und wieso hatte Marie ihn nicht bemerkt, als sie den Laden betreten hatte? Und wohin war er jetzt verschwunden? Noch einmal schaute sie links und rechts die Straße entlang, dann bestieg sie ihr Fahrrad und fuhr los.

      Schon nach hundert Metern sah die Stadt nicht mehr städtisch, sondern dörflich aus. Marie hielt nach dem Mann Ausschau. Er konnte sein Auto irgendwo geparkt haben und damit weggefahren sein. Oder? Sie bremste und stieg vom Fahrrad. Ihr war gerade eingefallen, dass die Verkäuferin gar nicht auf den Mann reagiert hatte. Was, ja was, wenn er gar nicht dagewesen war? Was, wenn die Krankheit ihres Vaters, die niemand kannte, erblich oder ansteckend war? Vielleicht hatte es bei ihm auch so angefangen? Vielleicht hatte er am Anfang auch Menschen oder Dinge gesehen und gehört, die außer ihm niemand wahrnehmen konnte.

      Im Weiterfahren probierte Marie ihr Gedächtnis aus und versuchte, sich an alles Mögliche zu erinnern: An ihre Geburtstage, an ihre Hausaufgaben, an die Ergebnisse ihrer letzten Punktspiele. All das fiel ihr nicht schwer, aber was bedeutete das schon?

      Als sie nach Hause kam, stand die Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern offen, ihre Mutter war also schon aufgestanden. Marie ging in die Küche und sah, dass Regine mit geröteten Augen am Tisch saß. Im Radio wurde irgendeine Messe übertragen. „Wir bitten dich, erhöre uns“, sagte die Gemeinde gerade. Marie wusste, dass sie ihrer Mutter nichts von dem Vorfall im Bäckerladen erzählen durfte. Seit Hannes in der Klinik lag, weinte Regine oft, sie sprach wenig und schlich, wenn sie zu Hause war, herum wie eine kranke Katze. Manchmal kam sie plötzlich ins Zimmer, gab Marie einen Kuss und ging wieder, einfach so, ohne etwas zu sagen.

      Sie frühstückten stumm, während im Radio gesungen und gepredigt wurde. Nur einmal fragte ihre Mutter, ob Marie sich heute verabredet habe. Marie schüttelte den Kopf. Später räumte sie den Tisch ab und duschte im Bad unterm Dach, während ihre Mutter das im Parterre benutzte. In Jeans und einem weißen Leinenhemd kam Regine ins Wohnzimmer. Ihr langes braunes Haar war noch nass, sie hatte sich nicht geschminkt. „Komm“, sagte sie, mehr nicht, nur