Christoph Werner

Marie Marne und das Tor zur Nacht


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schüttelte den Kopf.

      „Das liegt daran, dass dein Vater nicht krank ist.“

      „Nicht?“ Marie schaute Mr. Phisto an. „Woher wissen Sie das?“

      „Das darf ich nicht sagen.“

      „Wieso denn nicht?“

      Er tippte auf die Visitenkarte. „Ich bin ein Agent der Nacht, das bedeutet, dass es bestimmte Dinge gibt, über die ich nicht sprechen darf.“

      Marie betrachtete die Visitenkarte und drehte sie in der Hand. Das war doch Blödsinn oder nicht? Agent der Nacht, was sollte das sein? CIA-Agenten, FBI-Agenten, die gab es jeden Tag im Fernsehen, aber Agent der Nacht? Welche Nacht war damit gemeint? Die Nacht, die auf jeden Tag folgte, oder eine andere? Oder war Nacht eine Abkürzung für irgendeine geheime Organisation?

      „Warum soll ich heute Abend allein hierher kommen?“, fragte sie.

      „Weil nur du deinem Vater helfen kannst.“

      „Ich?“

      „Die Ärzte können es nicht, das hast du ja schon bemerkt. Und jemand anderes wird sich nicht die Mühe machen, sich um deinen Vater zu kümmern. Du bist die Einzige, die ihm helfen kann. Und mich hat man hierher geschickt, damit ich dir sage, wie du das am besten machst. Also, bis heute Abend.“

      Ohne ein weiteres Wort stand Mr. Phisto auf und ging. Marie ließ ihn nicht aus den Augen. Sie wollte wissen, ob er wieder auf geheimnisvolle Weise verschwand, aber diesmal ging er ganz gemächlich durch den Garten ins Haus.

      Marie betrachtete noch einmal die Visitenkarte. Mr. Phisto, Agent der Nacht. Vielleicht war das alles ein Bluff und er wollte sie entführen? Ihre Eltern hatten Geld, das wusste sie. Wie viel es genau war, konnte sie nicht sagen, aber es war mehr, als die meisten Eltern ihrer Freundinnen hatten. Aber wenn er sie entführen wollte, war es dann nicht sehr plump, sie abends allein hierher zu bestellen? Und was, wenn es stimmte? Wenn wirklich nur sie ihrem Vater helfen konnte?

      Sie sprang auf, sie musste es ihrer Mutter sagen, sie musste ihr sagen … sie musste ihr sagen … ja, was eigentlich? Dass sie heute Abend allein ins Krankenhaus kommen sollte, um mit ihrem Vater zu sprechen? Das würde Regine niemals erlauben.

      Als Marie sich ihrer Mutter näherte, hörte sie, wie Regine auf ihren Vater einredete: leise und schnell, so als befürchte sie, belauscht zu werden. Und dabei hielt sie Hannes’ Hand umklammert wie eine Ertrinkende. Es ging nicht. Sie konnte ihrer Mutter nicht sagen, was sie gerade erlebt hatte. Damit riskierte sie, alles zu verderben. Was, wenn an der Sache etwas dran war? Was, wenn sie heute Abend tatsächlich mit ihrem Vater sprechen konnte? Dann durfte sie Regine nichts von Mr. Phisto verraten, sonst müsste sie zu Hause bleiben.

      Sie machte kehrt und lief durch den Park, als müsse sie dringend irgendwohin. Langsam füllten sich die Bänke und Wege. Männer und Frauen, im Rollstuhl sitzend oder von ihren Angehörigen am Arm geführt, kamen ihr entgegen. Marie wich ihnen aus, bog ab, lief über die Wiese an der Mauer zur Straße entlang. Sie wollte allein sein, sich verkriechen, verstecken, vor allem wollte sie keine kranken Menschen sehen.

      Der Nachmittag zog sich endlos hin. Marie spielte Tennismatches im Kopf, um sich abzulenken und nicht an diesen seltsamen Mr. Phisto denken zu müssen. Letztes Jahr hatte sie den fünften Platz bei den deutschen Meisterschaften der U14 Juniorinnen belegt. Dieses Jahr begannen die Meisterschaften erst Anfang Juli. Sie hatte also noch ein paar Wochen, um sich vorzubereiten.

      Drei- bis viermal die Woche ging sie trainieren, danach Hausaufgaben, ein bisschen Fernsehen und ins Bett. An den Wochenenden die Mannschaftsturniere. Obwohl sie erst dreizehn war, spielte sie bereits in der Damenmannschaft. Dort nannten sie alle das Küken. Das gefiel ihr nicht, aber sie ertrug es, ohne zu murren.

      Endlich winkte Regine sie heran. Sie brachten ihren Vater in sein Zimmer zurück und verabschiedeten sich von ihm. Marie fand diese Verabschiedungen quälend. Sie verstand nicht, wie ihre Mutter dabei so freundlich, so zuversichtlich bleiben konnte. Nichts hatte sich am Zustand ihres Vaters geändert, seit er hier war. Und wenn es immer so blieb? Vielleicht war Mr. Phisto doch die einzige Möglichkeit, ihm zu helfen? Was konnte schon passieren, wenn sie heute Abend hierher kam und tat, was er von ihr verlangte? Sie küsste ihren Vater und ging.

      8. Kapitel

      Zu Hause angekommen, setzte sich Marie vor den Fernseher. Durch die offene Tür konnte sie Regine sehen, wie sie Brot schnitt und den Tisch deckte. Beim Essen dann erzählte Regine, dass Hannes an einer Stelle gelacht hatte. Solche Geschichten erzählte sie oft, wenn sie aus der Klinik kam. Er hatte genickt oder gelacht oder sie auf eine besondere Weise angesehen. Marie schwieg. Die Ärzte hatten ihnen vorhergesagt, dass so etwas passieren würde. Aber es bedeutete nichts, das waren Einbildungen und Wunschvorstellungen, Regine wusste das. Trotzdem erzählte sie immer wieder davon. Marie kaute mit gesenktem Kopf. Sie wollte ihre Mutter nicht ansehen, sie wollte diese Geschichten nicht hören.

      Nach dem Essen sagte Regine, sie sei müde und wolle sich ein bisschen hinlegen. Sie stand auf und ging ins Wohnzimmer. Marie blieb in der Küche und grübelte, sie konnte nichts dagegen tun. Schließlich beschloss sie, ihrer Mutter doch alles zu erzählen. Sie sprang auf und lief ins Wohnzimmer. Ihre Mutter lag auf dem Sofa und schlief. Marie hörte sie atmen.

      „Mama?“

      Keine Antwort. Nur das Ticken der großen Wohnzimmeruhr. Marie beugte sich über ihre Mutter. Was sollte sie tun? Sie hasste es, nicht zu wissen, was sie tun sollte. In die Klinik fahren? Oder warten, bis ihre Mutter wieder aufwachte? Ein Ladizein – in etwa: lade den Zufall ein –, sie musste ein Ladizein stellen, das tat sie immer, wenn sie nicht weiter wusste. Wenn sie morgens zum Beispiel nicht sicher war, ob sie das weiße oder das blaue T-Shirt anziehen sollte, stellte sie während des Frühstücks ein Ladizein: Wenn das Lied endet, ehe der Toast fertig ist, ziehe ich das weiße T-Shirt an, wenn nicht, das blaue. Sie ging zurück in die Küche und stellte sich vor das Radio: Lief Musik, in dem Moment, in dem sie es anschaltete, hieß das, sie würde in die Klinik fahren, war ein Sprecher oder eine Sprecherin zu hören, wollte sie zu Hause bleiben. Sie schaltete an: Musik.

      Ohne zu zögern ging sie in den Flur, zog sich an und lief aus dem Haus. Sie fuhr mit der Straßenbahn in die Klinik. Das alles war verrückt, vollkommen und ganz und gar verrückt. Wahrscheinlich war die Klinik jetzt geschlossen, und wenn nicht, dann doch die Tür zum Zimmer ihres Vaters. Wahrscheinlich schlief er längst. Was dann? Was, wenn Mr. Phisto nicht da war? Was, wenn er sich wirklich einen Scherz erlaubt hatte? Oder sie doch entführen wollte?

      Die Straßenbeleuchtung war schon angeschaltet, als Marie vor der Klinik ausstieg und langsam auf das gusseiserne Tor zulief. Mr. Phisto stand in der Auffahrt. Seine schlanke Gestalt war schon von Weitem zu erkennen. Marie kam es so vor, als wäre es um ihn herum dunkler als im übrigen Teil der Straße. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie blieb stehen. Mr. Phisto kam ihr entgegen.

      „Guten Abend“, sagte Marie leise.

      „Guten Abend“, sagte Mr. Phisto. „Tu bitte genau, was ich dir sage, und stell keine Fragen.“

      Sie nickte.

      „Folge mir“, sagte er und lief los, ohne sich umzudrehen.

      Marie gehorchte. Es gab keine andere Möglichkeit, herauszufinden, was all das zu bedeuten hatte. Sie liefen um das große Hauptgebäude herum zu einer Treppe. An deren Fuß blieb Mr. Phisto stehen. „Mach die Tür auf“, sagte er leise.

      Marie drückte die Klinke herunter. Tatsächlich, die Tür war unverschlossen. Sie führte zu einem langen Gang, an dessen Ende sich eine weitere Treppe befand.

      „Bleib dicht hinter mir“, sagte Mr. Phisto, ehe sie die Treppe hinaufstiegen. Da war die Eingangshalle, durch die Marie heute Nachmittag gelaufen war. Jetzt wusste sie, wie sie zum Zimmer ihres Vaters käme. Und doch blieb sie immer hinter Mr. Phisto. Alles war so still und dadurch ganz verändert. Wenn er stehen blieb, blieb sie auch stehen, wenn er weiterlief, lief sie auch weiter. So kamen sie in das Zimmer ihres Vaters, ohne bemerkt zu werden. Es war schon dämmrig. Er lag auf dem Bett und schlief. Marie