Christoph Werner

Marie Marne und das Tor zur Nacht


Скачать книгу

Industries doch ein Traumbild für die Quelle der Schlafenergie gefunden. Hier, aus diesem Meer kommen quasi all unsere Träume. Wie das möglich ist? Nun, den elektrischen Strom beispielsweise, der eine Glühlampe zum Leuchten bringt, kann man auch nicht sehen, das Licht der Glühlampe dagegen schon. Und so ist es auch mit der Schlafenergie. Sie selbst kann man nicht sehen, die Traumbilder, die sie produziert, dagegen schon. Deshalb war es möglich, das Traumbild für die Quelle der Schlafenergie zu finden, auch wenn man nicht genau weiß, woher sie kommt.“

      Wieder wartete der Mann. Das dunkle Meer hinter ihm rauschte leise. Nach einem kurzen Moment bückte er sich und zog einen seiner Schuhe aus. Als sein nackter Fuß den Sand berührte, sagte er leise: „Herrlich!“ Marie wartete, bis er auch den zweiten Schuh ausgezogen hatte, dann klickte sie eine andere Frage an. „Warum muss ich während eines ADI-Traumes einen Gegenstand in das dunkle Meer werfen?“

      Der Mann bückte sich und nahm seine Schuhe in die Hand. Langsam lief er am Strand des dunklen Meeres entlang. „In unseren Träumen steckt Schlafenergie“, sagte er und schaute Marie an. „Wenn wir von Menschen oder Tieren träumen, schwankt diese Schlafenergie stark. Bei allen Gegenständen aber, von denen wir träumen, ist sie unveränderlich.“ Jetzt tauchte vor dem Mann ein anderer Mann auf. In seiner Hand hielt er einen Stuhl. Er holte aus und warf den Stuhl ins Meer. Danach drehte er sich um und ging.

      „Wenn ein Träumer einen Gegenstand aus seinem ADI-Traum in dieses dunkle Meer wirft“, sagte der Fragenbeantworter, „erzeugt er für eine bestimmte Zeit eine Art Kurzschluss. Die Schlafenergie fließt dann unverbraucht dahin zurück, woher sie gekommen ist. Deshalb bleibt man nach einem ADI-Traum wach, wird nicht müde, träumt nicht. Je nachdem, wie stark der Gegenstand mit Schlafenergie aufgeladen war, dauert die Kurzschlussverbindung vier bis vierzehn Tage. Das ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Warum ein Mensch weniger Schlafenergie hat als ein anderer, weiß man noch nicht. Aber wie lange man nach einem ADI-Traum wach bleiben wird, das kann man messen lassen. Der sogenannte ADI-Wert, der in Tagen angezeigt wird, misst dabei die Schlafenergie, die sich in einem Menschen sammeln kann. Viel Schlafenergie, hoher ADI-Wert, wenig Schlafenergie, niedriger ADI-Wert.“ Der Mann schwieg und fing wieder zu warten an.

      Weiter, sprich weiter, dachte Marie. Was ist mit den Menschen, die einen hohen ADI-Wert haben, die viel Schlafenergie ansammeln können? Nichts, der Mann setzte sich in den Sand und schaute auf das dunkle Meer hinaus. Marie überflog die anderen Fragen. Was kostet ein ADI-Traum? Worauf muss ich nach einem ADI-Traum besonders achten? Kann ich beliebig viele ADI-Träume hintereinander träumen? Nichts, keine Frage zu Menschen mit einem überdurchschnittlich hohen ADI-Wert. Sie gab das Stichwort in das kleine Suchfeld ein und drückte auf das Lupensymbol. „Leider konnte zu Ihrer Frage kein Treffer gefunden werden!“ Marie stockte. Wieso stand hier nichts über Leute mit einem überdurchschnittlich hohen ADI-Wert? Nicht einmal, dass es solche Leute gab. Wenn sie wirklich den höchsten ADI-Wert der Welt hatte, dann konnte sie sehr viel Schlafenergie ansammeln. Die brauchte man, um zu träumen. Aber warum träumte dann ihr Vater? Und wie konnte es ihm helfen, dass Marie den höchsten ADI-Wert hatte? Und wieso brachten die Ärzte ihren Vater nicht einfach in eine ADI-Filiale und setzten ihm die Schlafbrille auf? Mr. Phisto, sie musste ihn danach fragen. Egal, wie kompliziert das alles war, sie würde es verstehen.

      Als ihr Blick auf die Uhr fiel, sah sie, dass sie bald in die Schule musste. Sie packte ihren Ranzen, duschte und schlich sich in die Küche, um sich ein Schulbrot zu machen. Während sie ein Glas Milch trank, versuchte sie sich noch einmal an ihren Traum zu erinnern, an die große Halle, die Musik ihres Vaters, aber all das war schon schwächer geworden, undeutlicher, wie ein in Sand gemaltes Bild, über das die Wellen lecken, wieder und wieder, bis alles glatt ist.

      10. Kapitel

      Als Marie zur Straßenbahnhaltestelle ging, hatte sich die Stadt verändert. Sie dröhnte, raste, wimmelte. Lieferwagen standen blinkend vor den Geschäften, Verladerampen wurden herunter und herauf gefahren, die Straßenbahn war so voll, dass Marie keinen Sitzplatz bekam, und die Ampeln hatten damit zu tun, die ungeduldigen Autoschlangen aufzuhalten. Natürlich war das jeden Morgen so, aber heute sah es Marie und ihr wurde ganz schwindelig davon.

      Bis zur Schule brauchte sie fünfzehn Minuten oder fünf Stationen, dann musste sie fünfzig Meter zurückgehen, ehe sie durch das Tor in den Schulhof kam. „Johann-Sebastian-Bach-Gymnasium“ stand über den beiden hohen Flügeltüren, die in die Eingangshalle und von dort über zwei geschwungene Treppen zu den Korridoren führten, von denen die Klassenzimmer abgingen. Zwischen den Treppen war ein Bild von Johann Sebastian Bach an die Wand gemalt worden, ein dicker, streng blickender Mann in einer blauen Jacke mit goldenen Knöpfen. Er hielt ein Notenblatt in der Hand und auf dem Kopf trug er eine komische Perücke. Diese Perücke war es wohl, die ihn für einige Schüler unwiderstehlich machte, weshalb er manchmal rote Haare trug, einen Vollbart oder eine Mütze, die ihm jemand angemalt hatte. Aber das dauerte nie lange, denn Herr Rinke, der Hausmeister, achtete auf das Bild wie auf die Nationalflagge. Er wischte es jedes Mal sofort wieder sauber, freilich nicht ohne zu fluchen und wütend vor sich hin zu zischeln. Er sprach oft davon, das Bild mit einer Videokamera überwachen zu lassen, aber alle Schüler wussten, dass das nie geschehen würde.

      In den Pausen verkaufte Herr Rinke Milch in Tetrapacks aus seinem Aufenthaltsraum heraus, in dem er auch sein Werkzeug und seinen Spind hatte. Es war allgemein bekannt, dass Herr Rinke niemals lachte. Er gab allen das Gefühl, die Schule gehöre ihm persönlich. Jeden Schüler, egal welchen Alters und Geschlechts, hielt er für einen potenziellen Straftäter. Das Schlimmste aber war, dass Herrn Rinkes Nasenflügel eigentümlich nach oben gebogen waren und man deshalb die schwarzen Haarbüschel sah, die ihm in der Nase wuchsen. Das fanden die meisten Schüler schrecklich.

      Marie jedoch kümmerte sich nicht um solche Details. Sie versuchte, Herrn Rinke möglichst nicht zu begegnen, und wenn sie an ihm vorbei musste, dann grüßte sie ihn. Anders als Jelena aber bemerkte sie nicht, dass er nie zurückgrüßte. Es war ihr egal, Jelena jedoch regte sich jedes Mal darüber auf.

      Als Marie an diesem Montagmorgen in den Klassenraum kam, sagte Hanna kein Wort. „Was ist los?“, fragte Marie. Keine Antwort. „Na los, nun sag schon!“

      „Nichts ist los“, antwortete Hanna und tat so, als suche sie etwas. „Ich rede nicht mehr mit der und mit allen, mit denen sie verkehrt.“ Hanna warf Jelena einen wütenden Blick zu.

      „Was soll das heißen?“, fragte Marie.

      „Lass mich einfach in Ruhe“, antwortete Hanna. Marie ging zu Jelena, konnte jedoch nicht herausfinden, worüber sich die beiden gestritten hatten. Der Streit zog sich den ganzen Tag hin, so sehr Marie sich auch bemühte, ihn zu schlichten. Nichts nervte sie mehr als Krieg zwischen ihren beiden besten Freundinnen.

      Es war ein anstrengender, ein langweiliger, ein heißer Montag. Marie fühlte sich wieder einmal fremd in der Schule, fremd selbst zwischen ihren besten Freundinnen.

      Deshalb war sie froh, als die Schule endlich vorbei war und sie über den Schulhof ein paar Straßen weiter in den Stadtpark zu ihrer Tennisanlage laufen konnte. Ihr Spind, die Duschen, die Tennisschuhe, Schweißband, Schläger, Bälle: Hier war ihre Welt, hier gehörte sie hin, hier fühlte sie sich sicher. Hier verstand sie, was vor sich ging. Dieses Spiel, für das man Technik, Ausdauer, Einfühlungsvermögen, Strategie und Kampfgeist benötigte, liebte Marie. Niemand hatte sie dazu überreden müssen, ihre Mutter nicht und nicht ihr Vater. Sie spielten beide nicht, sie verstanden nichts davon. Eines Tages hatte Marie ein paar Probestunden genommen, seitdem war es um sie geschehen. Allein auf dem Platz zu stehen und in Sekunden zu reagieren, Entscheidungen zu treffen, ihre Gegnerin einzuschätzen, vorauszusehen, was sie als Nächstes tun würde, und selbst etwas zu planen, was nicht vorhersehbar war, das gefiel ihr. Die Regeln standen fest, es gab einen Schiedsrichter und bei größeren Turnieren Linienrichter, die im Zweifelsfall entschieden. Alles war festgelegt und doch gab es innerhalb dieser Regeln unendlich viele Möglichkeiten zu gewinnen oder zu verlieren.

      Es war heiß, die Sonne stand hoch, Marie trainierte ein wenig an der Ballwand. Ihr Körper jubelte, als sie den ersten Ball traf. Jeder Muskel, jede Sehne, jede Faser ihres Körpers jubelte, denn, weil es gestern kein Punktspiel gegeben hatte, hatte Marie am Wochenende