du mit deinem Vater reden willst, leg dich neben ihn und schlaf.“
„Aber wenn ich schlafe, wie soll ich da reden?“, fragte Marie.
„Du wirst träumen.“
„Träumen!?“ Ach je, das war es also, das war die ganze Geschichte, träumen?! Sie war furchtbar enttäuscht. Agent der Nacht, jetzt verstand sie die Anspielung.
„Sie haben gesagt, ich könnte mit meinem Vater reden, nicht von ihm träumen“, flüsterte sie.
„Du wirst mit ihm reden, im Traum“, sagte Mr. Phisto mit stoischer Ruhe. Offenbar hatte er mit Maries Reaktion gerechnet.
„Im Traum …“ Marie schüttelte den Kopf. „Sie haben gesagt, ich könnte meinem Vater helfen.“
„Und das wirst du auch, wenn du neben ihm schläfst.“
„Das ist doch Quatsch!“ Als sie das gesagt hatte, sah Mr. Phisto sie mit seinen grünen Augen an und sie senkte den Blick. Etwas an diesen grünen Augen war ihr unheimlich.
„Deine Entscheidung“, sagte er. „Ich gehe jetzt, tu, was du für richtig hältst.“ Er zog kurz den Hut und ging.
Was nun? Sie lauschte auf die Geräusche: der Wecker, der gleichmäßige Atem ihres Vaters, auf dem Gang ein paar Schritte. Marie schaute Hannes an. Sie war, seit er sich in der Klinik befand, nicht mehr mit ihm allein gewesen. Vorsichtig zog sie die Schuhe aus und legte sich neben ihn. Mit angehaltenem Atem drehte sie sich seinem Rücken zu. Seine Haare rochen wie immer. Sie legte ihm den Arm um die Hüfte. Jetzt erst spürte sie, wie schnell ihr Herz schlug. Sie war den Tränen nahe. Was geschah nur gerade mit ihr? Durch das angelehnte Fenster hörte sie das ferne Rauschen der Stadt. Das beruhigte sie ein bisschen. Sie schloss die Augen und schlief sofort ein. Jedenfalls konnte sie sich später nicht mehr daran erinnern, was passiert war, nachdem sie sich neben ihren Vater gelegt hatte.
Sie erwacht in einer riesigen, halb dunklen Halle, deren Gewölbehimmel nur zu ahnen ist, so lang sind die Säulen, auf denen er ruht. Auch das andere Ende der Halle ist nur zu ahnen, so viele Säulen stehen wie ein steinerner Wald nebeneinander. Durch die riesigen Fenster fällt ein eigentümlich kaltes Licht. Irgendetwas fliegt umher, handgroße Libellen oder Fledermäuse, große Nachtvögel und schwarze Schmetterlinge. Als Marie auf ihre Füße sieht, bemerkt sie, dass der Boden aus Glas oder Eis ist. Bizarre Fische schwimmen darunter. Ihre runden Augen glotzen sie an.
Und dann hört sie sie, die Musik ihres Vaters. Da wo Längs- und Querschiff sich treffen, sitzt er auf einem großen Stuhl und spielt Geige. Eigentlich kann er nicht Geige spielen, nur Klavier und Gitarre. Um ihn herum stehen seltsame Gestalten. Es sind Ärzte, Wahrsager, Clowns, Krankenschwestern und Verrückte in weißen Kitteln, Eisprinzessinnen und Orchestermusiker, Heiratsschwindler und Bauchtänzerinnen. In dem eigentümlichen Licht schimmern ihre Haare und Kleider silbern. Marie bleibt vor ihrem Vater stehen, ohne dass er es merkt. Es ist eine wundervolle Musik, die er spielt, eine Vater-Tochter-Musik, nur dafür ist sie gemacht, für nichts sonst. Als Hannes Marie sieht, setzt er den Bogen ab: „Marie!“ Er springt auf. „Endlich! Ich muss hier raus! Du musst mir helfen. Was ist heute für ein Tag?“
Marie fängt an zu weinen. Sie kann nichts dagegen tun. „Das ist ein Traum“, schluchzt sie. „Ich weiß es genau, das ist nicht wirklich.“
„Natürlich ist es ein Traum“, antwortet Hannes, „aber wie kann ich aufwachen? Ich habe mich geohrfeigt, ich habe geschrien, ich habe versucht, hier herauszukommen, aber nichts hat geholfen. Ich bin in diesem Traum gefangen. Keine Ahnung wie lange schon. Ich habe Dienstag ein paar wichtige Aufnahmen, großes Orchester, ich kann hier nicht länger rumsitzen.“
Marie starrt ihren Vater an. Soll sie ihm sagen, dass der Dienstag längst vorbei ist? Sie bringt es nicht übers Herz.
„Ich weiß nicht, wie das passieren konnte“, sagt Hannes, „du musst etwas tun. Sag deiner Mutter, sie muss mich irgendwie wecken, egal wie. Ich muss arbeiten, ich habe zu tun.“
Marie zeigt auf die Umstehenden. „Und die hier? Wer sind die? Können die auch nicht aufwachen?“
„Keine Ahnung, sie reden nicht“, antwortet Hannes, „ich weiß nicht einmal, ob sie mich verstehen.“
Marie geht zu einem Koch und schaut ihn an. Er erwidert ihren Blick nicht. Kurz entschlossen holt sie aus und gibt ihm eine Ohrfeige. Er reagiert nicht.
„Das ist zwecklos“, sagt Hannes. „Bitte, Liebes, hilf mir, allein schaffe ich es nicht.“
„Ich werde dich hier rausholen“, antwortet Marie, „ich kenne jemanden, der mir hilft …“
9. Kapitel
Zuerst hörte sie den Wecker ticken. Ihr linkes Bein lag über dem ihres Vaters. Durch das Fenster drang das erste Tageslicht. Die Vögel im Park zwitscherten so aufgeregt, als wäre es das erste Mal, dass sie die Sonne aufgehen sahen. Die Stadt war still, ein leises tiefes Rauschen war alles, was Marie hören konnte. Sie lag und schaute den Rücken ihres Vaters an. Noch konnte sie einige Melodiefetzen hören, die Hannes im Traum eben gespielt hatte, noch sah sie einige der Gestalten aus der großen Halle. Was war das für ein komischer Traum gewesen? So einen hatte sie noch nie gehabt, noch nie in ihrem ganzen Leben.
Es war schwer vorstellbar, dass er weniger real sein sollte als alles, was sie im Moment sah. Ihr Blick fiel auf das Waschbecken neben dem Schrank. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Sie glitt aus dem Bett, füllte den Zahnputzbecher mit Wasser und ging zurück zu ihrem Vater. Einen Moment zögerte sie, dann kippte sie das Wasser in sein Gesicht. Nichts. Keine Reaktion, kein Zucken, nicht einmal eine Änderung der Atemfrequenz. Er schlief weiter. Enttäuscht stellte Marie den Becher zurück. Mr. Phisto, sie musste ihn treffen, so schnell wie möglich. Er musste ihr sagen, was zu tun war.
Draußen waren Schritte zu hören. Sie schaute auf den Wecker. Es war zwanzig nach vier. In dreieinhalb Stunden musste sie in der Schule sein. Sie küsste ihren Vater auf die Schulter und öffnete leise die Tür. Der Flur lag im Halbdunkel. Kein Geräusch war zu hören. Sie schlich zurück zur großen Treppe und durch die Eingangshalle in den Garten. Es war angenehm kühl draußen, obwohl die Hitze des kommenden Tages schon zu spüren war. Wo war Mr. Phisto? Wieso hatte er nicht auf sie gewartet? Sie musste dringend mit ihm reden. Die erste Straßenbahn ratterte heran. Marie lief zur Haltestelle, und da stand er: Mr. Phisto. Wie immer hielt er sich sehr gerade. Er machte einen Schritt und wartete, in der Straßenbahntür stehend. Der Wagen war leer. Sie konnten sich setzen, wohin sie wollten. Mr. Phisto sah Marie an.
„Hast du mit deinem Vater gesprochen?“, fragte er.
„Ja“, antwortete Marie. „Er ist in einem Traum gefangen. Er weiß nicht, wie er aufwachen soll. Keine Ahnung, wie so etwas möglich ist, aber ich weiß, dass es stimmt. Es ist doch so, oder? Deshalb wollten Sie, dass ich neben meinem Vater schlafe. Damit ich von ihm selber erfahre, was mit ihm los ist.“
Mr. Phisto schaute aus dem Fenster. „Wenn ich dir gesagt hätte, dass dein Vater schläft, hättest du mich für verrückt gehalten.“
„Vielleicht“, sagte Marie aufgeregt. Es fiel ihr schwer, sitzen zu bleiben. Am liebsten wäre sie in dem leeren Straßenbahnwagen hin und her gelaufen. „Aber was kann ich tun? Wie ihn wecken? Und wieso schläft er überhaupt solange? Sie haben gesagt, er ist nicht krank, aber was ist er dann?“
„Gefangen in einem Traum“, sagte Mr. Phisto.
„Aber wie ist das möglich?“, rief Marie.
„Das wissen wir nicht.“
„Wer ist wir?“ Sie fixierte ihn mit ihrem Blick. Sie wollte Antworten.
„Wissenschaftler, die unerklärliche Phänomene untersuchen“, antwortete Mr. Phisto, ohne sein Gesicht vom Fenster abzuwenden. „Ereignisse, Krankheiten, Vorgänge, die trotz moderner Methoden nicht verständlich sind. Sie bleiben rätselhaft oder im Dunkeln. Das ist der eine Grund, warum sich unsere Organisation ‚Nacht‘ nennt. Der andere: Wir arbeiten im Verborgenen.