Christoph Werner

Marie Marne und das Tor zur Nacht


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der Bahn in die Klinik. Die Fahrt dauerte eine halbe Stunde. Marie sah aus dem Fenster. Sie dachte an ihren Vater, obwohl sie das nicht wollte.

      Sie dachte daran, dass er sie abends vor dem Schlafen immer angemalt hatte. Mit dem Finger war er ihr übers Gesicht gefahren und hatte so getan, als ob er sie anmalen würde, und sie hatte raten müssen, in was seine ausgedachten Farben sie verwandelt hatten. In eine Katze oder in einen Pirat oder in eine Hexe oder sonst etwas. Wie lange war das her? Wann hatte ihr Vater das letzte Mal an ihrem Bett gesessen? Wenn sie die Augen schloss, sah sie ihn zwischen Instrumenten und Mikrofonständern in seinem Tonstudio sitzen, versunken, mit geschlossenen Augen Gitarre spielend oder Klavier, die großen Kopfhörer auf dem Kopf. Oder im Technikraum, wo Hunderte von Lämpchen und Zeiger zuckten und eine verwirrende Anzahl von Reglern in unterschiedlichen Farben zu bedienen war. Hier in seinem Reich verbrachte er die meiste Zeit des Tages und oft auch die Nacht. Hier durfte er nicht gestört werden. Wenn Marie ihn besuchen wollte, musste sie warten, bis die grüne Lampe über der Tür anging, und die grüne Lampe über der Tür ging immer seltener an, seit ihr Vater vor vier Jahren den großen Durchbruch geschafft hatte.

      Seitdem arbeitete er ununterbrochen. Nicht mehr nur für Filme, deren Premieren in kleinen Programmkinos liefen, sondern für große Produktionen, bei denen Fernsehkameras und dreißig Journalisten vor dem roten Teppich warteten. Anfangs fand Marie es toll, ihren Vater zu den Premieren zu begleiten, aber jetzt waren es so viele. Hannes komponierte ununterbrochen. ADI-Träume zu kaufen war für ihn zur Selbstverständlichkeit geworden. Regine hatte ihm verboten, zwei Träume hintereinander zu haben, sie hatte sogar mit der Scheidung gedroht, als er nicht auf sie hören wollte. Die beiden hatten sich oft gestritten in letzter Zeit. Und jetzt? Jetzt war Hannes noch weiter fort. Viel weiter, vielleicht unendlich weit. Marie wollte nicht darüber nachdenken, ob sie ihn jemals wieder in seinem Studio würde sitzen sehen. Sie wollte diesen Gedanken nicht in ihre Nähe lassen, obwohl er wie ein Nebel über allem hing, was sie dachte.

      Die Klinik lag direkt an der Straßenbahnhaltestelle inmitten eines sehr schönen Parks. Wenn es keine Klinik gewesen wäre, hätte Marie diesen Ort gemocht. Hinter einem etwa zwei Meter hohen schmiedeeisernen Zaun führte eine Auffahrt einen Hügel hinauf. Dort oben war ein großes weißes Gebäude. In einem Zimmer dieses weißen Gebäudes saß seit acht Tagen Maries Vater und niemand konnte sagen, was ihm fehlte. Er konnte gehen und essen und singen und komisch lächeln, aber er sprach nicht, erkannte niemanden, konnte sich an nichts erinnern.

      Marie lief lustlos die Stufen zum Haupteingang hinauf. Sie ließ die Arme baumeln und schaute zu Boden. Sie wollte die große Eingangshalle nicht sehen, nicht das blank gewienerte Parkett, nicht das kunstvoll gedrechselte Geländer an den breiten Stufen, die zu den Zimmern führten, nicht den großen Kronleuchter und nicht die freundlich nickenden Schwestern und Ärzte. Eigentlich wollte sie auch ihren Vater nicht sehen, nicht, solange er in dieser Klinik war.

      Als sie in sein Zimmer kamen, drehte er sich nicht einmal zu ihnen um. Er saß auf dem Bett und schaute aus dem Fenster. Maries Mutter ging zu ihm, streichelte und küsste ihn. Marie blieb an der Tür stehen. Es war wie jedes Mal, wenn sie herkamen: Sobald sie ihren Vater sah, fing ihr Herz heftiger zu schlagen an. Es war unbelehrbar, dieses Herz, es wollte sich nicht daran gewöhnen, dass Hannes sie nicht erkannte. Dass er seine eigene Tochter nicht erkannte, seine Frau nicht, niemanden. Dass er nicht sprach, dass er wie abwesend war. Jedes Mal, wenn ihr Herz den ersten Freudensprung getan hatte, kam die Traurigkeit.

      Sie wollte ihn umarmen und wegrennen, aber nichts von all dem tat sie. Sie blieb an der Tür stehen, bis ihre Mutter sie heranwinkte, dann ging sie zu ihm und sah ihn an und ihr Herz krampfte sich zusammen. Er war so anders, so weit weg, obwohl er doch hier auf dem Bett saß und sie ihn anfassen konnte. Ihre Mutter zog ihn sanft am Arm und er folgte ihr, ohne sie anzusehen. Marie lief hinterher. Sie gingen in den Garten. Es war kurz nach dem Mittagessen, die meisten Besucher kamen später.

      Der Garten fiel sanft ab und endete an einer Mauer, hinter der die nächste Straße lag. Zuerst setzten sie sich auf eine Bank und schauten auf die Stadt. Wie viele Väter holten jetzt gerade das Auto aus der Garage oder die Fahrräder aus dem Keller? Wie viele glückliche Familien waren jetzt irgendwo da draußen unterwegs? Marie sah die Häuser, die Straßen, die Sonne, ein herrlicher Tag. Hannes fing wieder an, leise zu summen. Es war, als ob er ein Lied mitsang, das er hörte. Aber wo hörte er es? In seinem Kopf, im Weltall, wo? Hier war nirgendwo Musik, hier sang niemand außer den Vögeln in den Bäumen. Wo nur hörte er dieses Lied?

      Maries Mutter stand auf und ging zu einem der Ärzte, einem Mann mit grauem Haar, der gerade in der Tür gestanden und ihr zugenickt hatte. Die Ärzte wussten nicht, was Hannes fehlte, sie hatten sein Gehirn fotografiert, sie hatten einen Haufen bunter Bilder gemacht und sie angeschaut, aber auf den Bildern war alles in Ordnung. Hannes’ Kopf war nicht kaputt. Es gab keine Erklärung. Das war vielleicht das Schlimmste, dass es keine Erklärung gab, dass niemand sagen konnte, was mit ihm los war. Wie lange würde er so bleiben? Für immer oder nur bis nächste Woche? Niemand wusste, ob er nicht vielleicht eines Morgens einfach aufstehen, sich schütteln und nach seiner Tochter und seiner Frau suchen würde. Am Anfang hatte Marie immer, wenn das Telefon klingelte, damit gerechnet, dass Hannes wieder normal war.

      Jetzt sah sie ihn von der Seite an. Er summte und blickte auf die Stadt. Sie nahm vorsichtig seine Hand. Er ließ es geschehen. Eine Träne lief ihr über die Wange, sie konnte nichts dagegen tun. Als ihre Mutter zurückkam, ging Marie fort. Sie lief ziellos durch den Park. Einmal drehte sie sich um. Ihre Mutter redete mit Hannes, als ob er sie verstehen könnte. Die Ärzte hatten ihr gesagt, dass man nicht wissen könne, was Hannes verstand und was nicht. Aber Marie wusste, dass er nichts verstand. Die Ärzte wollten sie nur trösten, sie wollten darüber hinwegtäuschen, dass sie keine Ahnung hatten, was mit Hannes los war.

      Marie ging zu einer der Bänke. Später am Tag würden diese Bänke alle besetzt sein, aber jetzt noch nicht. Sie setzte sich und verschränkte die Arme vor der Brust.

      „Hallo Marie, schön dass du gekommen bist“, sagte plötzlich jemand. Als sie den Kopf drehte, saß der Mann aus dem Bäckerladen neben ihr. Er trug immer noch den schwarzen Hut und den schwarzen Anzug und saß sehr gerade da, den Blick in die Ferne gerichtet. Wie hatte sie ihn übersehen können? Das war doch unmöglich.

      „Darf ich mich vorstellen?“, fragte der Mann mit komischem Akzent und reichte ihr eine Visitenkarte. „Mr. Phisto“ stand in fein geschwungenen Buchstaben darauf und darunter: „Agent der Nacht“. Sie wusste nicht, was sie damit anfangen sollte. Agent der Nacht, was sollte das sein? War das ein Scherz?

      „Verzeih, dass ich heute Morgen im Bäckerladen keine Zeit hatte für eine längere Unterhaltung, es war unhöflich, dich da einfach so stehen zu lassen.“

      „Können die anderen Sie auch sehen oder nur ich?“, fragte Marie.

      Mr. Phisto lächelte. Er stand auf, ging auf den Hauptweg, wo sich eine Krankenschwester gerade mit jemandem unterhielt, zog den Hut, redete und nickte ein paarmal. Die Krankenschwester lachte und dann sahen alle zu Marie herüber und lachten noch einmal. Marie kam sich ziemlich blöd vor. Wie hatte sie nur glauben können, dieser Mann sei ein Geist? Er verabschiedete sich und kam wieder zu der Bank zurück.

      „Habe ich deine Frage damit beantwortet?“, fragte er, als er wieder neben ihr saß.

      „Was wollen Sie?“, fragte Marie mürrisch.

      Sie fand ihn merkwürdig. Seine blasse Haut, die grünen Augen und diese dünnen weißen Haare, die offensichtlich gefärbt waren. Dazu die große Nase und die schmalen Lippen. Und wie er sich gerade hielt und wie er flüsterte und dann der komische Akzent. Etwas mit ihm stimmte nicht, sie wusste nur nicht genau, was es war.

      „Ich will dir die Möglichkeit geben, mit deinem Vater zu sprechen“, sagte Mr. Phisto.

      „Mein Vater spricht nicht“, antwortete Marie.

      „Im Moment nicht, aber heute Abend schon“, sagte Mr. Phisto. „Komm, wenn es dunkel wird, allein wieder hierher, dann werde ich dafür sorgen, dass du dich mit deinem Vater unterhalten kannst.“

      „Wie wollen Sie das machen? Sie sind doch kein Arzt“, sagte Marie schnippisch.