Nachbarwohnungen war kein Laut zu hören. Es gab keinerlei Lebenszeichen.
Wieder überkam ihn der Widerwille und wurde rasch stärker, vor seinen Augen wogte alles. Nicht schon wieder, dachte er.
Die nüchternen Wände, die ihn umgaben, schrumpften, kamen näher. Die Gedanken wirbelten ihm durch den Kopf. Er würde das nicht schaffen, er musste kehrtmachen. Die Türen waren seine Feinde, sie bildeten Mauern, die ihn aussperrten, sie wollten ihn hier nicht haben. Der Porzellankrug im Fenster mit den prachtvollen weißen Azaleen schien ihn höhnisch anzugrinsen: Du hast hier nichts zu suchen, scher dich zurück in deinen Hinterhof.
Er stand da wie gelähmt und konzentrierte sich auf das Atmen, versuchte, sein Herz regelmäßiger schlagen zu lassen. An diesen Panikanfällen litt er schon, soweit er sich zurückerinnern konnte. Er würde gehen, jetzt hatte er sich entschieden. Er musste nur vorher noch Kräfte sammeln, sich darauf konzentrieren, nicht in Ohnmacht zu fallen. Das wäre doch dann reizend. Hier gefunden zu werden, bewusstlos auf dem Steinboden. Was für ein Anblick!
Tief unter sich hörte er, wie das Portal geöffnet und wieder geschlossen wurde. Er wartete gespannt. Im Haus gab es fünf Stockwerke, und er stand im vierten. Wenn er Pech hatte, war jetzt jemand in die oberste Etage unterwegs.
Dann hörte er Schritte, die die Treppe hochkamen. Wenn jemand in den vierten Stock oder nach ganz oben wollte, würden sie sich unvermeidlich begegnen. Die Schritte waren jetzt deutlicher zu hören, irgendwer würde in der nächsten Sekunde auf der Treppe auftauchen, und er wollte es doch um jeden Preis vermeiden, hier gesehen zu werden. Rasch wischte er sich den ärgsten Schweiß aus der Stirn und holte tief Atem. Er musste jetzt hineingehen, musste sich zwingen, sich normal zu verhalten. Energisch drückte er auf den Klingelknopf.
Ein Kreisssaal sah aus wie der andere. Emma fragte sich, ob sie hier auch Sara und Filip zur Welt gebracht hatte. Das war fast zehn Jahre her. Eine Ewigkeit, dachte sie, als sie in den Raum gebracht wurde und warme Hände sie auf das Entbindungsbett hoben. Sie war jetzt sieben Zentimeter offen, und alles ging schnell. Die Schwester war jung, sie trug einen weißen Kittel und hatte freundliche Augen und einen blonden Haarknoten mitten auf dem Kopf. Sie streichelte Emma beruhigend den Arm, während sie die Häufigkeit der Wehen registrierte.
»Wir legen dich hierhin, jetzt dauert es ja nicht mehr lange. Bald wirst du ganz offen sein.«
Die Wehe brach wie ein Erdbeben über sie herein, sie nahm schrittweise an Stärke zu, und Emma wurde es schwarz vor Augen, als die Wehe in einem Feuerwerk aus Schmerz explodierte, um dann langsam zu versickern. Eine kurze Atempause, dann wälzte sich die nächste Wehe über sie hinweg. Die Wehen kamen und gingen, wie die Wellen des Meeres vor dem Fenster.
Obwohl Johan sich nur fünf Minuten vom Krankenhaus entfernt aufhielt, hatte Emma ihn nicht wie versprochen bei Einsetzen der Wehen angerufen. Alles war so kompliziert, und sie hatte sich eingeredet, es sei besser, wenn sie die Entbindung allein hinter sich brächte, aber jetzt bereute sie diesen Entschluss. Dass Johan der Vater ihres Kindes war, war eine Tatsache, die für ihr ganzes Leben gelten würde, und was hätte es also geschadet, sich jetzt von ihm unterstützen zu lassen? Ihr Stolz war plötzlich nur noch alberne Sturheit. Hier lag sie ihren Schmerzen preisgegeben, und an allem war sie selbst schuld. Sie hatte sich entschieden, ihn nicht herkommen zu lassen, um diese Momente mit ihr zu teilen. Er hätte ihre Hand halten, sie trösten und ihren schmerzenden Rücken massieren können.
Sie atmete mit der Technik, die sie vor Saras Geburt im Schwangerschaftskurs gelernt hatte. Das war so ein Unterschied zu heute. Damals waren sie glücklich gewesen, sie und Olle. Sein Gesicht flimmerte vorüber. Sie hatten geübt, zusammen zu atmen, hatten sich mehrere Wochen auf den Umgang mit den Wehen vorbereitet, und sie hatte ihm gezeigt, wo sie massiert werden wollte.
»Jetzt kann es nur noch eine Frage von Minuten sein«, sagte die Schwester freundlich und wusch Emma die schweißnasse Stirn ab.
»Johan soll kommen«, jammerte Emma. »Der Vater.«
»Aha. Wie können wir ihn erreichen?«
»Ruf ihn bitte an.«
Die junge Frau lief sofort aus dem Raum. Gleich darauf kam sie mit einem Telefon zurück. Emma diktierte ihr Johans Mobilnummer.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als die Tür geöffnet wurde und sie Johans gespanntes und besorgtes Gesicht sah. Er nahm ihre Hand.
»Wie geht es dir?«
»Verzeih mir«, sagte sie, ehe der Schmerz mit noch größerer Kraft wieder über sie hereinbrach und alle weitere Konversation unmöglich machte. Sie drückte seine Hand, so fest sie konnte. Jetzt sterbe ich, dachte sie. Ich sterbe.
»Jetzt bist du ganz offen«, sagte die Hebamme. »Du musst jetzt hecheln, hecheln – du darfst noch nicht pressen.«
Emma hechelte wie ein durstiger Hund. Die Presswehen zerrissen sie, wollten sie mit sich ziehen. Sie musste sich bis zum Äußersten anstrengen, um nicht nachzugeben.
»Du darfst nicht pressen«, mahnte die Hebamme.
In ihrem Nebel bemerkte sie, wie die Entbindungsärztin kam und mit der Hebamme irgendwo zwischen ihren weit gespreizten Beinen saß. Ein Laken wurde über sie gelegt. Und dabei hatte sie vorgehabt, im Stehen oder wenigstens im Hocken zu gebären. Was für eine Blamage. Die Kraft in ihren Beinen war gleich null.
Ab und zu nahm sie wahr, dass Johan neben ihr saß, dass seine Hand ihre hielt.
Sie verlor ihr Gefühl für Zeit und Raum, sie hörte ihr eigenes hysterisches Keuchen – nur das konnte sie am Zerreißen hindern. Plötzlich schien alles zu explodieren. Vage registrierte sie, dass sie sich besudelt hatte, aber das interessierte sie nicht im Geringsten. Jetzt ging es um Leben und Tod.
»Nicht pressen, nicht pressen!«
Die stetige Mahnung der Hebamme hallte in ihren Ohren wider.
Plötzlich hörte Emma eine neue Stimme. Eine weitere Hebamme hatte den Raum betreten. Sie erkannte deren dänisch gefärbte Sprache von ihren früheren Entbindungen.
»Jetzt machen wir das so.«
Emma war es jetzt egal, was um sie herum geschah, sie war in ein Vakuum geglitten, in dem sie keinen Schmerz mehr verspürte. Besser, sie starb hier und jetzt. Diese Vorstellung kam ihr vor wie eine Befreiung.
Wir sind dem Tod nie so nah wie dann, wenn wir Leben geben, dachte sie.
Die Nacht brachte eine seltene Wärme. Die Luft war drückend, und in dem über einhundert Jahre alten Haus bewegte sich so gut wie kein Luftzug. Die Jugendherberge Warfsholm erinnerte an eine Kaufmannsvilla aus dem neunzehnten Jahrhundert und war anfangs als Badehaus gebaut worden. Sie lag isoliert am Wasser und gehörte zu dem an die hundert Meter weiter auf der Landzunge gelegenen Hauptgebäude mit Pension und Speisesaal.
Vor der Jugendherberge befanden sich ein gepflegter Rasen mit einigen Gartenmöbeln, ein kleiner Parkplatz und ein Gelände mit fast zwei Meter hohen Wacholderbüschen, die wie ein Labyrinth bis zum Ufer wuchsen, wo Wasser und Schilf die Herrschaft an sich rissen. Dahinter verband ein zweihundertfünfzig Meter langer Steg Wasser und Hafen mit der Straße zum nächsten Ort, Klintehamn.
Um diese Tageszeit war hier alles still und ruhig.
Die Gäste hatten lange draußen gesessen und den warmen Abend genossen, jetzt aber waren alle zu Bett gegangen. Draußen am Haus brannten die Lampen. Nicht, dass das nötig gewesen wäre – die Nächte um diese Jahreszeit waren hell, ganz dunkel wurde es nicht.
Der Gang im unteren Geschoss war leer. Die Zimmertüren waren mit hübsch gemalten Schildern verziert: »Grötlingbo«, »Hablingbo«, »Havdhem« – das waren die Namen gotländischer Gemeinden. Die Türen waren geschlossen, und nicht ein Laut durchdrang die massiven Wände.
Martina Flochten schwitzte in ihrem Bett. Sie trug nur ihre Unterhose, hatte die Decke aus dem Bezug entfernt und das Fenster sperrangelweit aufgerissen, aber das war keine große Hilfe. Eva schien auf der anderen Seite des schmalen Zimmers tief zu schlafen.
Irgendetwas