Will Berthold

Die Nacht der Schakale


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der Welt‹, war der US-Ortszeit weit über einen halben Tag voraus, und drei Stunden nach Mitternacht wollte ich meine Feriengefährtin nicht aus dem Schlaf reißen – eine Rücksicht, die ich Stunden später bereuen sollte.

      Nur mühselig gelang es mir, mich von Fernost loszureißen und auf Ostberlin zu konzentrieren, auf die Geheimbesprechung des Untergrund-Generals Lupus in der Spionagefabrik an der Normannenstraße; sie hatte vor zehn Tagen stattgefunden, und der große Gregory verfügte über unbestätigte Teilunterlagen.

      Ich hätte gerne gewußt, wie zutreffend sie waren, wieweit man sie als vollständig betrachten konnte und woher wir sie bekommen hatten. Aber solcherlei Fragen werden weder gestellt noch beantwortet.

      In der Normannenstraße war ich seit Jahren gewissermaßen zu Hause, trotzdem blieb für mich die Stasi-Festung ein Labyrinth mit vielen Fallen und Stolperdrähten. Wir kannten unsere Gegenspieler, aber vieles, was wir über sie wußten, war eher unsicher als bewiesen, und von der Differenz zwischen Annahme und Tatsache leben alle Nachrichtendienste der Welt.

      2

      Gegen Mittag riß der Wind den niedrigen Himmel über Berlin auf. Aus der Wolkenwand rieselte das Licht wie Sägemehl aus einer überfahrenen Stoffpuppe. Die Iljuschin aus Moskau landete pünktlich auf die Minute und spuckte ihre Passagiere aus. Einige trugen trotz des Frühlings warme Pelzmützen, aber der Lenz stand an diesem Tag nur auf dem Kalenderpapier. Eine angeheiterte Betriebsgruppe des VEB Leuna schwenkte lärmend Papierfähnchen mit Hammer und Sichel. Der Wodka sorgte für sozialistische Fröhlichkeit.

      Aus dem Rudel, das von einer Bodenstewardeß zu dem Omnibus neben der Landetreppe geleitet wurde, scherte ein schlanker Zivilist aus, ein Mann Ende fünfzig, der wesentlich jünger aussah; er ging an den stramm grüßenden Vopos vorbei und auf die dunkle Limousine zu, die – entgegen der Vorschrift – auf dem Flugfeld zwischen den Versorgungsfahrzeugen stand.

      Der Vorzugspassagier mit der getönten Brille wirkte wie ein sportiver Bankdirektor oder auch wie ein Grundstücksmakler, dem man vertrauen konnte, aber sein Handelsgut waren Menschen, ihre Schicksale, ihre Verhaftung, ihr Freikauf. Im Ministerium für Staatssicherheit (MfS) war er zuständig für Subversion, Diversion und Desinformation. Hinter diesen Fachausdrücken des Untergrunds verbargen sich die Einschleusung von DDR-Agenten in die Bundesrepublik, die Unterwanderung der dortigen Parteien und Gewerkschaften, die Ausspähung militärischer Einrichtungen der Bundeswehr, der Blick hinter die Bonner Regierungsmaschine, der Schacher mit Menschen, die – unverschuldet oder schuldig – in den Gewahrsam der sogenannten Arbeiter-und-Bauern-Republik geraten waren, und die systematische Verbreitung von Falschinformationen, mit deren Hilfe die Gegenspieler im Westen düpiert werden sollten.

      Keiner der Passagiere hatte den Untergrund-General Alexander Lupus erkannt, auch der schwankende Funktionär nicht, der ihn während des Flugs in seiner Schnapslaune wiederholt und zwecklos zum Mittrinken genötigt hatte. Vom Chef des russischen Geheimdienstes (KGB) in Moskau war dem Besucher der Rückflug zum Ost-Berliner Regierungsflughafen Schönefeld in einer sowjetischen Militärmaschine angeboten worden, aber es entsprach der Auffassung von Sparsamkeit dieses Großverbrauchers an Steuergeldern, unnötige Repräseritationskosten zu vermeiden.

      Für den Aufwand gab er nur Geld aus, wenn er ihn aus der eigenen Tasche bezahlte, für englische Zigaretten der Marke Navy Cut zum Beispiel, für Antiquitäten, Orientteppiche, Seidenhemden und Anzüge aus englischem Tuch. Er ließ sie in Londons Saville Row anfertigen, in der der begüterte britische Gentleman schneidern läßt. Dabei erschien er freilich nie zur Anprobe. Bis auf seine Rumpfpuppe war den westlichen Geheimdiensten bis vor kurzem keinerlei Identitätshinweis auf den General Lupus in die Hände gefallen.

      Sabotka holte seinen Vorgesetzten ab, aus dessen Gang der Vertraute des Generals sofort schloß, daß der neue Chef des sowjetischen Geheimdienstes – und Lubjanka-Hausherr am Dschersinskiplatz – dem brisanten Vorschlag zugestimmt und damit den Fall Sperber abgesegnet hatte.

      »Verdammt kalt in Berlin«, sagte Alexander Lupus, den seine Freunde ›Sascha‹ nannten. »Und in Moskau herrscht schon Frühsommerwetter.« Er reichte seinem persönlichen Referenten im Majorsrang, der auch die Limousine fuhr, die Hand. »Nach Lichtenberg«, setzte er hinzu.

      Er hatte eine angenehme Stimme, die nicht lauter wurde, wenn sie Befehle gab, schon weil sie auch so gehört und peinlich genau befolgt wurde. Lupus war als Chef der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) der zweitwichtigste Mann im Staatssicherheitsministerium an der Normannenstraße, das die DDR-Bürger die Firma ›Horch und Guck‹ nannten.

      »Bis auf Oberst Grewe, der noch in Bulgarien Ferien macht, werden die Genossen um vierzehn Uhr zur Stelle sein«, meldete Sabotka. »Wir hätten noch Zeit, in Niederschönweide vorbeizufahren.«

      »Nein, danke, Sabotka«, erwiderte Lupus. »Ich werde meine Frau vom Büro aus anrufen.«

      Der in Moskau aufgewachsene Sohn eines deutschen Emigranten, in den Kommunismus so natürlich hineingewachsen wie Nackenhaare in den Hemdkragen, führte ein mustergültiges Familienleben. Seine Passionen waren bescheiden: Er spielte Tennis, ging gern auf die Jagd und schätzte klassische Musik ebenso wie das Fußballspiel. Da er wenig Zeit hatte, war einer seiner Leute beauftragt worden, Video-Aufzeichnungen über die Höhepunkte der gerade in Spanien stattfindenden Fußball-Weltmeisterschaft zu machen.

      Der Mann mit den dunkelblonden, leicht angegrauten Haaren beschäftigte 17000 feste Mitarbeiter sowie weitere 100000 ehrenamtliche Spitzel – und nach Schätzung seiner westlichen Gegenspieler 10000 bis 20000 Agenten in der Bundesrepublik.

      Die schwere, fast lautlos fahrende Limousine hatte den Ostberliner Stadtteil Lichtenberg erreicht und bog in die Normannenstraße ein; sie wurde von einem riesigen Gebäudekomplex beherrscht. Aus dem früheren und erweiterten Finanzamtsgebäude einem Haus von seniler Stabilität, war ein Untergrund-Silo geworden, eine Agentenzentrale, die innerhalb der DDR über 16 Bezirks- und 220 Kreisverwaltungen verfügte und vier Fünftel aller je festgestellten Spionage-Aktivitäten in der Bundesrepublik betrieb. Auf deutschem Boden hatten die subversiven Zauberlehrlinge ihre sowjetischen Auftraggeber auf der schrägen Fahrbahn längst überholt, waren dabei aber getreue Erfüllungsgehilfen geblieben.

      Der Generaloberst, von seinen Männern meist nur im landesüblichen Abkürzungsfimmel ›BvJ‹ (›Boß vons Janze‹) genannt, eilte über den Gang, durchschritt hastig eine Flucht von Vorzimmern, nahm sich aber die Zeit, mit seiner Sekretärin ein paar Worte zu wechseln. Während er dann in sein Büro ging, blieb Major Sabotka bei ihr im Vorzimmer zurück; er wußte, daß der Chef jetzt mit seiner Frau und seinen Söhnen sprechen wollte.

      Sobald er aufgelegt hatte, entnahm der Major einem Tresor eine Auswahl von Meldungen, die während der Blitzreise des Untergrund-Generals angefallen waren, und legte sie vor. Während Lupus sie überflog, bat er die Vorzimmergenossin, aus der Kantine ›irgend etwas Eßbares‹ kommen zu lassen, eine für ihn ungewöhnliche Aufforderung, denn ›Bevaujot‹ war ein Feinschmecker, wenn er auch dafür sorgte, daß sich die Leckerbissen nicht an seiner Figur vergingen.

      »Sie haben auch das SED-Zentralkomitee verständigt, Sabotka« fragte der General. »Und unsere Leute in den Ministerien?«

      »Selbstverständlich, Genosse Lupus«, erwiderte der Major. »Und wie ich höre, ist der Genosse Lemmers bereits im Haus.«

      Der ›Gruftspion‹, so nannte man ihn hinter seinem Rücken – war fast jeden Tag in der Spionage-Zwingburg, in wörtlicher Auslegung des alten marxistischen Spruchs: »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser‹. Obwohl der Minister, dessen Stellvertreter Lupus war, dem Zentralkomitee selbst angehörte, hatte das Politbüro zusätzlich noch einen internen Sicherheitsrat etabliert. Vom Standpunkt eines totalitären Staates aus gesehen war das üblich, aus der Optik eines Untergrundstrategen jedoch bedenklich: Sicher dachte niemand daran, daß ausgerechnet im Spitzengremium der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) ein Maulwurf sitzen könnte, der für den Westen arbeitete – aber je mehr Mitwisser es gab, desto durchsichtiger und pannengefährdeter wurde die subversive Schlagkraft.

      Als erster, schon fünf Minuten vor der angesetzten Konferenzzeit,