Группа авторов

Kommunikationsdynamiken zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit


Скачать книгу

Wir sehen uns aber durch eine biographisch fundierte Loyalität ihnen gegenüber legitimiert, auch kritische Positionen zu beziehen und das Modell weiterzuentwickeln.

      Die Diskussion wird insgesamt darauf hinausgehen, determinierende Annahmen des Modells zu diskutieren, sie zu schwächen oder gegebenenfalls auch zu stärken, um ihre Adäquation zu erhöhen. Ferner darauf, Annahmen des Modells je für sich und ohne Rücksicht auf andere Annahmen, mit denen sie in Verbindung stehen, zu diskutieren. Wir verbinden damit den Gedanken, dass eine ‚Modularisierung‘ des Nähe-Distanz-Kontinuums die Chance bietet, dessen Potenzial auch dann noch entfalten zu können, wenn bestimmte, unserer Meinung nach reduktive Theorieelemente zurückgewiesen werden. In diesem Sinne sind die folgenden Ausführungen als der Versuch zu verstehen, das Modell im Spannungsfeld zwischen aktuellen mediendeterminierten oder medienaffinen Ansätzen und älteren, klassisch gewordenen pragmatisch-funktionalen Ansätzen neu zu situieren und auf diese Weise seine Aktualität unter Beweis zu stellen. Die Autorin und der Autor ind skeptisch in Bezug auf die weit verbreitete Überzeugung, der technische Fortschritt der letzten Jahrzehnte habe frühere Annahmen der Sprachtheorie insgesamt obsolet werden lassen (siehe auch Maas 2016: 89).

      1 Sprachliche Kommunikation – zwischen Bruch und Kontinuum

      Die Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit und von gesprochener und geschriebener Sprache beruht auf der Beobachtung eines manifesten Kontrasts. Das, was man den Exterioritätstypus des sprachlichen Zeichens nennen könnte, also seine phonisch-auditive vs. seine graphisch-visuelle Materialität und die mit dieser Materialität verknüpften Produktions- und Rezeptionsbedingungen, eröffnet zwei Phänomenbereiche sprachlicher Kommunikation, die sich unvereinbar gegenüberzustehen scheinen. Gleichzeitig scheint mit diesem medialen Bruch ein evidenter Kontrast zwischen kommunikativen Praktiken und kommunikativen Kompetenzen verbunden zu sein. Schreiben und Lesen sind kulturelle Techniken, die anders erlernt werden müssen als die körperlichen Dynamiken der Phonation und des Hörens; mindestens ebenso wichtig dürfte der Kontrast zwischen den kommunikativen Domänen sein, die wir mit den Exterioritätstypen assoziieren, auch wenn die digitale Schriftlichkeit im Netz diese Differenz gerade einzuebnen scheint. Um eine Metapher zu bemühen: Mündlichkeit und Schriftlichkeit erscheinen wie zwei kommunikative Plateaus, die durch die mediale Differenz wie durch einen Abgrund voneinander getrennt sind. Man muss nicht lange suchen in den zahlreichen Texten, die die (sprachliche) Medialität in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zu Kommunikation, Wissen, Normen und Sozialität stellen. In dieser jahrtausendealten Debatte sind Stimme und Schrift in aller Regel unvereinbare Gegensätze, Gegensätze, die zur Parteinahme auffordern, gegen die Schrift als zerstörerischen Eindringling in authentische Verständigung oder gegen die Stimme als überwundene Frühstufe in einer kognitiv-kommunikativen Erfolgsgeschichte.1

      Dass der Gegensatz nicht so abgrundtief ist, dass sich Brücken ergeben, die diesen Abgrund überspannen, scheint man aber auch immer irgendwie gewusst zu haben. Letztendlich ist ja die Sprache die Brücke, denn diesseits und jenseits der medialen Dichotomie werden offenbar identische sprachliche Formen mit offenbar identischer Bedeutung verwendet, Formen, die man also in beide Richtungen über die Brücken schicken kann, von der Phonie in die Graphie und zurück. Es sollte uns zu denken geben, dass der (mediale) Abgrund zunächst, vor der Professionalisierung der Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert, von den Philosophen angesprochen wurde, während die Grammatiktradition die sprachlichen Zeichen (von der Schrift aus) als medienunabhängige Entitäten konzipierte und die Brücken, den Transfer von einem Medium in das andere, dabei als selbstverständlich voraussetzte.

      Wir können die Geschichte der Mündlichkeits-/Schriftlichkeitsdebatte hier nicht weitererzählen. Wir müssen aber auf sie verweisen, denn Peter Koch und Wulf Oesterreicher haben sich mehrfach auf sie bezogen. Der Medialitätsdiskurs der Sprachwissenschaft, aber auch der kultur- und sozialwissenschaftliche, erscheinen bereits im grundlegenden Manifest von 1986 (Koch/Oesterreicher 1985) als Hintergrund, vor dem sich ihre theoretischen Präzisierungen und ihre terminologischen Vorschläge abzeichnen sollen. Der Hintergrund, das ist also das nahezu verfahrene Wechselspiel zwischen den beiden Polen der Diskussion: auf der einen Seite die Denker*innen, die Medialität in ihr Denken integrieren und ihr einen wichtigen Platz im kommunikativen Handeln geben möchten, gleichzeitig aber die mediale Dichotomie immer mehr festzurren und die Brücken unpassierbar machen; auf der anderen Seite diejenigen, die das Gemeinsame auf beiden Seiten der medialen Dichotomie sehen, aber gleichzeitig Medialität als arbiträr einstufen und damit wesentliche Aspekte sprachlicher (und kulturell-sozialer) Variation unsichtbar machen.

      Wir alle wissen, wie es weitergegangen ist. Peter Koch und Wulf Oesterreicher setzen sich radikal vom Medium ab und fokussieren, anstelle des Gegensatzes graphisch/phonisch, die Konzeption, ein „multiples Spektrum unversöhnter Gegensätze“ (Feilke 2016: 120), das erst in einem zweiten Schritt durch die umfassende Generalmetapher von Nähe und Distanz zusammengeschlossen wird. Die beiden Terme sind konträr, aber nicht kontradiktorisch, sie spannen also bereits in ihrer wechselseitigen Implikation ein Kontinuum auf (siehe Feilke 2016: 123). Dieses Kontinuum nachzuweisen, also den Übergang, die Durchlässigkeit zwischen den kommunikativen Räumen, die die Medialitäten abgrenzen, nachzuweisen, war eine zentrale Intention der Autoren. Sie sind deshalb an der Konzeption erkennbar stärker interessiert als an dem, was sie Medium nennen, am Gegensatz von Graphie und Phonie. Gleichzeitig dominiert der Wunsch, das Medienunabhängige der im Kontinuum modellierten kommunikativen Variation sichtbar zu machen. Die mediale Dimension gerät deshalb ins Hintertreffen, man könnte sagen, willentlich, weil die ganze Energie darauf konzentriert ist, das Bild der beiden, durch den medialen Abgrund getrennten Plateaus durch das Bild des Kontinuums, der Möglichkeit eines bruchlosen Übergangs von der Nähe zur Distanz, zu überblenden.

      Es gibt klare sachliche Gründe für die Zurückweisung des dichotomischen Denkens. Eines der zentralen Argumente von Peter Koch und Wulf Oesterreicher für die Fokussierung der sprachlichen Konzeption (auf Kosten der Fokussierung der technischen Realisation der sprachlichen Formen) ist die Beobachtung, dass die Unterscheidung von kommunikativer Nähe und Distanz auch in schriftlosen Kulturen gegeben ist. Rituelles und poetisches Sprechen ist, so die Annahme, in allen menschlichen Kulturen vom Alltagssprechen abgehoben und in den verwendeten sprachlichen Formen unterschieden. Diese Annahme scheint uns plausibel, selbst wenn die Unterschiede verschieden groß sein mögen. Für die Autoren ist ferner entscheidend, dass nicht nur die sprachlichen Formen zwischen Ritual, Poesie und Alltag variieren, sondern eben auch die kommunikativen Rahmensetzungen. Auch dieses Argument scheint uns evident, weil eine Variation aufscheint, die ganz klar medienunabhängig ist und anthropologisch in der Tatsache verankert zu sein scheint, dass die unterschiedlichen Bereiche sprachlichen Handelns von Anfang an, vor jeder medialen Weiterentwicklung, spezifische Bedingungen für das sprachliche Handeln setzen.

      Nur stellt sich in der gerade skizzierten Perspektive die Erfindung der Schrift unvermutet als trivial dar – als eine Erfindung, die die Bedingungen menschlicher Kommunikation nicht wesentlich, sondern eben nur quantitativ verschoben hätte, in Richtung auf eine bequemere Handhabbarkeit der Distanz, auf eine distanziertere Distanz. Dies scheint uns wenig überzeugend. Die Erfindung der Schrift schafft nie dagewesene Bedingungen für die Sprache. Ihre Wirkmächtigkeit in historischer Hinsicht, die Bedeutung der Entwicklung von Schriftkulturen, die ganz anders geartete Möglichkeit zur Distanzierung des*der Schreiber*in vom Kommunikat und die damit einhergehenden Möglichkeiten zu dessen Ausgestaltung werden übrigens von Peter Koch und Wulf Oesterreicher niemals bestritten, sondern in Passagen zur Geschichte der Kommunikation überdeutlich herausgestellt. Ihre Überlegungen zur romanischen Sprachgeschichte und zu Ausbau- und Überdachungsprozessen (siehe etwa Koch/Oesterreicher 2011: 135–154, 183–196, 223–236) zeigen immer wieder, dass für sie die von der Schrift eröffneten Möglichkeiten, etwa die veränderten Wahrnehmungs- und Kontrollmöglichkeiten oder die Möglichkeiten der Archivierung oder Zentralisierung, entscheidende Faktoren der historischen Entwicklungen sind.

      Für die Formulierung der theoretischen Grundlagen und für die Entwicklung des Modells scheinen diese historischen Einsichten aber nicht zu gelten. Hier schließen sich die Autoren der Denktradition an, die den Exteriorisierungstypus als kontingent betrachtet und die Brücke der Transkodierung zwischen den beiden Räumen fokussiert. Mit diesem Schulterschluss ist dann leider aber ein begrifflicher