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Kommunikationsdynamiken zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit


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und Zielsetzungen anbetrifft, andererseits in einem Bereich, der die kognitiven und prozessualen Rahmenbedingungen der Formulierungsarbeit umfasst.

      In der Rezeption des Nähe-Distanz-Kontinuums in der Germanistik wurde nun gerade die Verknüpfung sozialer und kognitiver Dimensionen der Variation als auffällig, teilweise sogar als unberechtigt eingestuft. Im Modell von Ágel und Hennig beispielsweise (siehe Ágel/Hennig 2006) sind die sozial-emotiven Parameter nicht berücksichtigt, weil, so die Begründung, die Konzentration auf die grammatischen Aspekte der Nähe-Distanz-Unterscheidung die Entscheidung für einen engen Begriff der situativen Bedingungen notwendig mache (siehe dazu etwa Hennig 2006: 74–­75). Auch Roland Kehrein und Hanna Fischer folgen dieser Ausgliederung der sozial-emotiven Dimension (siehe Kehrein/Fischer 2016). Sie führen empirische Daten an, die belegen, dass der Dialektalitätsgrad bei der Variation zwischen den Textsorten „persönliches Gespräch“ und „Interview“ offensichtlich eher von sozial-identifikatorischen Faktoren bestimmt wird als von den von Ágel und Hennig vorgeschlagenen (prozessualen) Kriterien der Nähesprachlichkeit. Sie folgern daraus, dass die sozial-emotiven Dimensionen für die Modellierung einer eigenständigen Ebene mit den Polen der „interindividuell-sozialen Vertrautheit“ vs. „Fremdheit“ bzw. der „Sprache der Vertrautheit“ vs. „Fremdheit“ genutzt werden sollten (Kehrein/Fischer 2016: 245–252). Andere Ansätze betonen die Notwendigkeit, „sozial-kulturelle Dimensionen gesellschaftlicher Kommunikation und kognitiv-konzeptionelle Dimensionen getrennt in den Blick zu nehmen“ (Knobloch 2016: 81). Die Rezeption betonte andererseits aber auch, dass es gerade das Einbeziehen der sozial-emotiven Dimension ist, die das Spezifische des Nähe-Distanz-Kontinuums ausmacht. Und wir sollten nicht vergessen, dass sich ein großer Teil der intuitiven Kraft des Modells daraus ergibt, dass die Generalmetapher der Nähe und Distanz in erster Linie sozial-emotive Konnotationen hervorruft und gerade hier mit der Gegenüberstellung der beiden komplementären Pole überzeugen kann.2

      3 Situationsentwürfe, Kommunikationsbedingungen, Versprachlichungsstrategien und Kommunikate – eine Präzisierung des Nähe-Distanz-Kontinuums

      Wir haben zwei problematische Aspekte des Nähe-Distanz-Kontinuums benannt, die das Arbeiten mit dem Modell behindern. Dies sind die mangelnde Berücksichtigung der medialen Variabilität der Kommunikation und die sehr offene, zu Missverständnissen geradezu einladende Auswahl und Relationierung der Parameter, die die Variabilität der kommunikativen Bedingungen zu beschreiben suchen (siehe Koch/Oesterreicher 2016: 12). Es sind, wie bereits angesprochen, Aspekte, die zur Ablehnung des Modells geführt haben oder Weiterentwicklungen angeregt haben, die, recht betrachtet, Gegenentwürfe sind. Im Folgenden werden wir die Kritik als Ausgangspunkt für den Versuch einer Präzisierung des Modells nutzen. Wir berücksichtigen dabei beide Kritikpunkte, den Hinweis auf das Fehlen des Mediums und die Kritik an der mangelnden Strukturierung der mehrdimensionalen situativen Variation. Beginnen müssen wir mit dem umfassenderen Aspekt, nämlich mit der Beobachtung, dass Peter Koch und Wulf Oesterreicher bei der Dimensionierung der situativen Variation einen wesentlichen Schritt übersprungen haben, der, sobald er ins Modell eingebaut ist, die Kritik an der Parameterauswahl und -zusammenstellung entscheidend nuanciert.

      Das Nähe-Distanz-Kontinuum ist bekanntlich aus der Fusion zweier Forschungsansätze entstanden. Der erste Ansatz ist Ludwig Sölls Unterscheidung zwischen dem medialen und dem konzeptionellen Aspekt der Gegenüberstellung von geschriebenem und gesprochenem Französisch (siehe Söll 1985; siehe Koch/Oesterreicher 1985: 17f.). Es ist zu betonen, dass Söll in der Tradition einer ausschließlich auf sprachliche Merkmale konzentrierten varietätenlinguistischen Forschung steht und dass er seine Unterscheidung von code écrit und code parlé unmittelbar aus medialen Kommunikationsbedingungen, etwa aus der physischen Nähe vs. Distanz, herleitet (siehe dazu Selig 2018: 259). Die Söll’sche Unterscheidung steht in diesem Punkt also dem Modell von Ágel und Hennig (siehe Ágel/Hennig 2006) näher als dem Nähe-Distanz-Kontinuum. Der zweite Traditionsstrang, der in das Nähe-Distanz-Kontinuum eingeht, kommt aus der historischen Soziolinguistik. Er ist, anders als der Ansatz von Söll, texttypologisch basiert. Es handelt sich um die Modellierung sprachlicher Kommunikation, die Hugo Steger und seine Mitarbeiter*innen im Anschluss an die Analyse eines Korpus von Texten der gesprochenen deutschen Gegenwartssprache vorgeschlagen haben. Sie formulieren ein Modell, das explizit Textlinguistik und Soziolinguistik miteinander verknüpft, indem es situative Merkmale zu „Redekonstellationen“ gruppiert, die die sprachliche Gestalt des jeweiligen „Textexemplars“ nicht direkt, sondern vermittelt über die Ebenen des „Redekonstellationstyps“ und der „Textsorte“ bestimmen (Steger et al. 1972; siehe Koch/Oesterreicher 1985: 19–21). Unseres Erachtens liegt nun gerade in der Kombination des Söll’schen Ansatzes, der ohne Verweis auf Text bzw. Textsorten auskommt, und dem textsortenzentrierten Ansatz von Steger einer der größten Vorteile des Nähe-Distanz-Kontinuums.1 Denn mit dem expliziten Verweis auf die textsortenbezogene Strukturierung der Variation bereits auf der Ebene der Situationsbedingungen bietet sich die Möglichkeit, die Abhängigkeit der Versprachlichungsstrategien von den Kommunikationsbedingungen nicht als eine lineare, von den einzelnen Bedingungen direkt zu den einzelnen sprachlichen Konsequenzen weitergereichte Determinierung zu konzeptualisieren. Stattdessen wird die zentrale Rolle der Textsorten/Gattungen/Diskurstraditionen hervorgehoben, die bereits vor den einzelnen Kommunikationsakten aus ihren je zu verhandelnden Zielsetzungen heraus Parameterwerte zu Konfigurationen bündeln, die konventionalisiert sind und Sprecher*in und Hörer*in einen holistischen Zugriff auf die Kommunikationssituation erlauben.

      Kommunikation erscheint im Rahmen derartiger Überlegungen als ein Handeln, das sozial verfestigte Ensembles von Zielsetzungen, Bedingungen und Kommunikationsstrategien nutzen kann, um spezifische Kommunikationssituationen mit den ihnen eigenen Relevanzsetzungen zu generieren. Selbstverständlich nur im Sinn eines Entwurfs, der mit den aktuellen situativen Parameterwerten abgeglichen werden muss, und der durch den Fortgang der Kommunikation jederzeit revidiert werden kann; ebenso unterscheiden sich die einzelnen Muster hinsichtlich ihres Spezifitätsgrads und hinsichtlich ihrer zeitlichen Projektionsfähigkeit. Der Verlauf und die Gestaltung eines persönlichen Gesprächs werden nicht durch ein durchgehendes Ablaufmuster bestimmt, sondern durch die Dynamik der Gesprächssituation. Das Bewerbungsgespräch, die universitäre Vorlesung oder die Gerichtsverhandlung sind dagegen durchaus als vollständige Skripte abgespeichert und gewähren entsprechend weniger gestalterischen Freiraum. Um der Dynamik der Verschränkung von Situationsmuster und situativen Gegebenheiten ebenso wie der zeitlichen Offenheit der Determinierung Rechnung zu tragen, sprechen wir deshalb vom „Situationsentwurf“, der die Gesamtheit der funktionalen, sozialen, kognitiven, situativen, medialen und prozessualen Bedingungen integriert und erst durch die Interaktion aller Parameter im Rahmen einer vollständig, also auch hinsichtlich der kommunikativen Funktion bestimmten Situation über die konzeptionelle Ausrichtung entscheidet (siehe Tophinke 2016: 306). Jede analytische Zergliederung dieses Gesamtzusammenhangs in seine einzelnen Dimensionen muss den Schritt zur übergeordneten Ganzheit immer mitbedenken und für die Argumentation offenhalten.2

      Peter Koch und Wulf Oesterreicher haben immer wieder betont, dass nicht der einzelne Parameter, sondern erst das Gesamt aller Parameter die Konzeption bestimmen kann (siehe vor allem Oesterreicher/Koch 2016: 24–25; siehe auch Selig 2017). Das Nähe-Distanz-Kontinuum kennt also die zentrale Rolle, die der Textsorte/Gattung/Diskurstradition im kommunikativen Handeln zukommt. Im Modell selbst gibt es aber nur noch die unkommentierte Liste der Parameter, und die Reihung der Diskurstraditionen entlang des konzeptionellen Kontinuums illustriert die konzeptionelle – und medienunabhängige – Variation, wird aber nicht dazu genutzt, noch einmal die Funktion der Diskurstraditionen zu spezifizieren. Die entscheidende Rolle, die sie der Bündelung der Kommunikationsbedingungen in den Diskurstraditionen zuweisen, kommt auch in dem Theorieelement zum Ausdruck, das wegen seiner Sperrigkeit so gar nicht überzeugen kann: in der Visualisierung des konzeptionellen Profils einer Diskurstradition durch die ‚Blitze‘, die die Parameterwerte miteinander verbinden (siehe etwa Oesterreicher/Koch 2016: 30). Die Autoren waren immer überraschend gleichgültig gegenüber der offensichtlichen Diskrepanz zwischen dem Aufdecken der Heterogenität der Parameter im analytischen Zugriff und dem homogenisierenden – synthetisierenden! (siehe Oesterreicher/Koch 2016: 25) – Einordnen auf der eindimensionalen Nähe-Distanz-Skala. Sobald man sich klarmacht, dass es für diesen abschließenden Schritt auf den gesamthaften