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Kommunikationsdynamiken zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit


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sie schaffen nur zusätzliche, neue Formen, die auf dem bisherigen Repertoire aufruhen (siehe Tophinke 2016: 307). Dies gilt für den Distanzbereich, aber auch für die kommunikative Nähe. Der Chat hat die Smileys (Vorgänger der heutigen Emojis) entstehen lassen. Smileys sind so etwas wie Bilder von Gesten. Handelt es sich hier also wirklich um etwas, das sich, semiotisch und pragmatisch, fundamental von den Gesten, der Mimik, den Bewegungen unterscheidet, die phonische Nähekommunikation schon immer prägen? Außer der Kommunikationsform, also außer dem Chat, ist nichts neu am Chat.2

      Hinsichtlich der Frage, ob es im Anschluss an die mediale Variation einen entscheidenden, fundamentalen Bruch für das Sprachliche, das Formulieren und das Verstehen gibt, sind wir also auf der Seite von Koch und Oesterreicher und setzen mit ihnen ein – im strengen Sinne des Wortes – Kontinuum der Variation des sprachlichen Handelns und der sprachlichen Formen zwischen den Polen der Nähe und der Distanz an. Wir gehen davon aus, dass auch dann, wenn raumzeitliche Verschränkung, maximale Vertrautheit und maximale Freiheit der kommunikativen Entwicklung die Fokussierung des Sprachlichen weder sinnvoll noch notwendig erscheinen lassen, Sprache bereits unter genau den Bedingungen funktioniert, die auch für die Distanzkommunikation gelten. Sprache funktioniert in der kommunikativen Nähe zwar insofern anders, als ihr Anteil an der Kommunikation insgesamt geringer ist, weil sie anders eingesetzt wird, weil indexikalischer Zeichengebrauch über den symbolischen dominiert. Der extremen Nähekommunikation eine noch nicht propositionale, weil nur Zeigfeld bezogene ‚Sprache‘ zuzuschreiben und zu behaupten, dass erst die Schrift sprachliche Zeichen bewusst und manipulierbar werden lässt (siehe Knobloch 2016: 84), verfehlt jedoch den Gegenstand. Sprache ist nicht an Exteriorisierung gebunden und insofern auch nicht an einen bestimmten Exteriorisierungstyp. Sprachliche Strukturen sind im Bewusstsein vor jeder Exteriorisierung gegeben oder sind jedenfalls für das Bewusstsein unmittelbar zugänglich (siehe Humboldt 1973: 31, 33, 37). Das Bewusstsein symbolisiert seine Inhalte für die anderen und für sich selbst durch die Sprache, aber nicht erst im Sprechen. Schreiben eröffnet also auch die Möglichkeit der Kommunikation mit sich selbst, des effektiveren Denkens, weil die Exteriorisierung die Reflexion intensiver und genauer machen kann. Die Distanz, hier die kognitive Distanz, ist in der Sprache schon immer angelegt. Es ist falsch, die geringere Relevanz des Sprachlichen in der extremen Nähekommunikation so auszudeuten, als sei es eine andere Sprache – eine Vorsprache? –, die hier zum Einsatz kommt.

      Wir haben unsere Revision des Nähe-Distanz-Kontinuums darauf konzentriert, nur einen Teilaspekt des Modells weiterzuentwickeln, den Aspekt der Verschränkung von Kommunikationssituation, konzeptioneller Variation und Medialität. Wir haben damit die Kritik an der – aus unserer Sicht gegebenen – Amedialität bzw. an der – vermeintlichen – Vagheit der kommunikativen Parameter aufgenommen. Wir müssten an dieser Stelle die ‚Modularisierung‘ des Nähe-Distanz-Kontinuums noch weiter fortsetzen. Wir müssten zeigen, über welche Vermittlungsstufen unser klar auf das (Einzel-)Kommunikat ausgerichtete Modell mit dem Gedanken des ontogenetischen und phylogenetischen Variationskontinuums zwischen Nähe- und Distanzsprachlichkeit verknüpft werden kann. Dies umso mehr, als wir meinen, dass genau dieser Gedanke der eigentliche Bezugspunkt des Modells von Peter Koch und Wulf Oesterreicher ist.3 Das Nähe-Distanz-Kontinuum schwankt bekanntlich zwischen dem Ziel, Kommunikate bzw. Diskurstraditionen zwischen Nähe und Distanz zu verorten und dem Anliegen, einen Erklärungsrahmen für die Entstehung und Entwicklung konzeptioneller Variation zu entwickeln. Für das Einordnen von Diskurstraditionen ist die Betonung des Kontinualen der konzeptionellen Variation oft gar nicht zielführend, manchmal sogar verunklarend. Für die Frage, wie und warum Schrift zum Ausbau der Distanzsprachlichkeit führt, welche sozialen Bedingungen gegeben sein müssen, damit Situationsentbindung, Themenzentrierung, emotionale Distanzierung greifen können und die Bedingungen für ein Sprechen oder Schreiben entstehen, das das Begriffliche und die Syntax zur Verdichtung des Gesagten und Gemeinten nutzt, ist der Gedanke des Kontinuums dagegen entscheidend.

      Sind die Begriffe von Nähe und Distanz also insgesamt erhellend oder verschalten sie miteinander, was nicht zusammengehört? Bezogen auf die prozessualen Aspekte der Kommunikation, der in der geteilten Situation und der über den Abgrund zwischen zwei Situationen, erscheinen Nähe und Distanz zunächst in gewissem Sinn deskriptiv. Hier sind sie nicht von vornherein Metaphern. Soziale Nähe ist an prozessuale Nähe in keiner Form gebunden, wenn sie uns in prozessualer Nähe auch nicht überraschen kann. Soziale Nähe ist bereits Metapher. Mit der Entfernung aus prozessualer Nähe ist aber in jedem Fall eine soziale Entfernung verbunden insofern, als die Gewissheit der raum-zeitlichen Koinzidenz der Körper entfällt. Diese Entfernung gilt es womöglich zu kompensieren, je nach Interesse, aber dafür bleiben dann vor allem die Mittel der Sprache, also der Kognition. In prozessualer Nähe ist soziale Distanz natürlich auch herstellbar, auch soziale Distanz gehört zu unseren möglichen Zielen. Soziale Distanz herzustellen bedeutet gerade, die raum-zeitliche Koinzidenz der Körper zu limitieren, und das gelingt am besten durch die Kontrolle körperlicher Manifestationen, durch Sprache, durch Kognition. Unter der Bedingung sozialer Fremdheit tendieren wir also dazu, die geteilte Situation mental bereits zu verlassen. Wir setzen auf Kognition – wir sprechen, als wären wir nicht da. Wie oben ausgeführt, kann kognitive Distanz zur gegebenen Situation ferner auch unser eigentliches Ziel sein. Wir befassen uns gerade nicht mit der Fliege über unserem Bildschirm, sondern mit der Relativitäts- oder mit jeder anderen Theorie, wir suchen soziale Distanz und formulieren für ein generalized other. Distanz ist hier selbstverständlich Metapher, aber unsere Entfernung vom konkreten Gegenüber und aus der Situation, in der wir uns befinden, korrelieren. Körper und Blick und Stimme sind jetzt abgeschaltet. Auch diese Zusammenhänge, die zwischen sozialer Fremdheit und kognitiver Distanz zu den Gegenständen sollen hier nur angedeutet sein. Nähe und Distanz sind mehr als eine Metapher. Sie beschreiben in re korrelierte Dimensionen der Kommunikation.

      Literatur

      Ágel, Vilmos/Hennig, Mathilde (2007). Überlegungen zu Theorie und Praxis des Nähe- und Distanzsprechens. In: Ágel, Vilmos/Hennig, Mathilde (Hrsg.). Zugänge zur Grammatik der gesprochenen Sprache. Tübingen: Niemeyer, 179–214.

      Ágel, Vilmos/Hennig, Mathilde (2006). Theorie des Nähe- und Distanzsprechens. In: Ágel, Vilmos/Hennig, Mathilde (Hrsg.). Grammatik aus Nähe und Distanz. Theorie und Praxis am Beispiel von Nähetexten 1650–2000. Tübingen: Niemeyer, 3–31.

      Feilke, Helmuth (2016). Nähe, Distanz und literale Kompetenz – Versuch einer erklärenden Rezeptionsgeschichte. In: Hennig, Mathilde/Feilke, Helmuth (Hrsg.), 113–154.

      Goody, Jack (1986). The Logic of Writing and the Organization of Society. Cambridge: Cambridge University Press.

      Hennig, Mathilde/Feilke, Helmuth (Hrsg.) (2016). Zur Karriere von ‚Nähe und Distanz‘: Rezeption und Diskussion des Koch-Oesterreicher-Modells. Berlin/Boston: De Gruyter.

      Hennig, Mathilde/Feilke, Helmuth (2016). Perspektiven auf ‚Nähe und Distanz‘ – Zur Einleitung. In: Hennig, Mathilde/Feilke, Helmuth (Hrsg.), 1–10.

      Hennig, Mathilde (2006). Grammatik der gesprochenen Sprache in Theorie und Praxis. Kassel: kassel university press.

      Humboldt, Wilhelm von (1973). Schriften zur Sprache. Stuttgart: Reclam.

      Kehrein, Roland/Fischer, Hanna (2016). Nähe, Distanz und Regionalsprache. In: Hennig, Mathilde/Feilke, Helmuth (Hrsg.), 213–258.

      Knobloch, Clemens (2016). Nähe und Distanz – betrachtet aus fachlicher Nähe und aus historiographischer Distanz. In: Hennig, Mathilde/Feilke, Helmuth (Hrsg.), 73–88.

      Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf [1990] (2011). Gesprochene Sprache in der Romania. Französisch, Italienisch, Spanisch. 2. aktualisierte und erweiterte Auflage. Berlin/New York: De Gruyter.

      Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf (1986). Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. Romanistisches Jahrbuch 36 [1985], 15–43.

      Lausberg, Heinrich (1969). Romanische Sprachwissenschaft. 3 Bde. Berlin: De Gruyter.

      Maas, Utz (2016). Was wird bei der Modellierung mit Nähe und Distanz sichtbar und was wird von ihr verstellt? In: Hennig, Mathilde/Feilke,