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Kommunikationsdynamiken zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit


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der Sprache‘ konkretisiert sich nämlich in der Frühen Neuzeit in einer Fülle sozialer Praktiken, erreicht eine Vielzahl historischer Akteure und wird zum Schlüsselbegriff europäischer Spracharbeit und Sprachpolitik – eben das war zuvor mit „radikaler Transformation“ des ästhetischen Ideals der ‚Reinheit der Sprache‘ gemeint. Denn aus der Forderung nach ‚reiner Sprache‘ werden – in dem und durch den dafür zentralen Prozess der Normierung der europäischen Volkssprachen und ihrer Literaturen – Praktiken der ‚Sprachreinigung‘ abgeleitet, die institutionell (z.B. durch Höfe, Verwaltung, Schulen und ganz besonders durch Sprachakademien) umgesetzt werden. Der Purismus erlebt eine Ausweitung seiner Funktions- und Wirkungsbereiche, dringt in alle Bereiche des Sozialen ein und wird zum kulturellen Diskurs, der seine Dringlichkeit aus theologischen, philosophischen, soziologischen und politischen Impulsen bezieht. So erweist es sich einerseits als ein ziemlich kompliziertes Unterfangen, die Spuren des Purismus zu verfolgen, aber gerade diese Suche erlaubt es andererseits auch, die inter- bzw. transkulturelle Dimension der europäischen Sprachenfrage in ihren ideen-, literatur- und sozialgeschichtlichen Bedingungen in einer genuin geisteswissenschaftlichen Perspektive nachzuvollziehen.

      3 Puristische Sprachkultur und Sprachpolitik im Italien und Frankreich der Frühen Neuzeit

      Will man eine Geschichte des europäischen frühneuzeitlichen Purismus schreiben, so fängt die Suche beim Text an. Natürlich existiert „der Text im Singular nur in einer abstrahierend-theoretischen Perspektive“, während die historische Praxis hingegen „davon bestimmt [ist], dass sich Texte in einer Vielfalt von inhaltsbezogenen, kontextbezogenen, zweckbezogenen, institutionsbezogenen Normen bewegen und sich deshalb in einer Vielzahl von unterschiedlich stark normierten Diskurstraditionen ordnen lassen“ (Oesterreicher/Selig 2014: 15).

      Und in der Tat lassen sich ästhetische und politische Implikationen und Potenziale puristischer Argumentation in einem weiten Spektrum an Texten und Textsorten wiederfinden: Literarische Texte und Poetiken integrieren immer wieder sprachpuristische Reflexionen oder bauen geradezu auf diesen auf; umgekehrt greifen Fachtexte – Grammatiken, Wörterbücher und Sprachtraktate, aber auch Statuten, Gesetzestexte, Schulbücher oder Lobreden – ästhetische Fragen auf, kodifizieren Normen und Modelle und beziehen diese handlungsleitend auf Felder sozialer Praxis. So finden wir Strategien der Durchsetzung einer ‚reinen Sprache‘ in Zeremoniell und höfischer Kommunikation, gelehrtem bzw. akademischem Diskurs, in Dichtung und Kanzleisprache und anderem.

      In Texten wie beispielsweise Bembos Prose della volgar lingua, Castigliones Cortigiano oder Machiavellis Discorso o dialogo intorno alla nostra lingua sind die sprachliche, die linguistische und poetologische oder literarische Ebene sehr eng miteinander verknüpft. Die jeweiligen Ansätze werden in Form eines Dialogs vorgetragen, und es wird dabei eingehend die Bedeutung ästhetischer Qualitäten (eleganza, sprezzatura) für literarische und soziale Kommunikation und Interaktion reflektiert. Ideale der Sprache, die ihrerseits häufig auf Idealen der Dichtung beruhen (man denke nur an den Petrarkismus im Fall Bembos), werden so zu Idealen der Interaktion, zu sozialen Normen, die wiederum die Auswahl bestimmter literarischer Formen und Traditionen unterstützen.

      Derartige Texte können daher als erste Zeugnisse der Emergenz eines genuinen ‚(sprach)puristischen‘ Diskurses in der Frühen Neuzeit betrachtet werden: Denn hier wird ein neuer Zusammenhang zwischen lexikalischen und grammatikalischen sowie ideologischen und gesellschaftlichen Normvorstellungen hergestellt – nicht zuletzt durch die literarisch-dialogische Form, den performativen Charakter und die Situierung am Hof – und von dieser sozialen Praxis und Situierung her werden ästhetische Grundanliegen (re-)formuliert. Auch stellen diese Werke – die z.B. im Fall der Prose Sprachtraktat und Grammatik in einem sind – insofern ungewöhnliche Orte der ästhetischen Reflexion dar, als sie keine prototypisch poetischen oder poetologischen Texte sind. Sie erlauben es somit nicht zuletzt, Fragen der Migration sprachpuristischer Argumentationsfiguren zwischen literarischen Texten und Fachtexten nachzugehen.

      Und natürlich sind diese Texte wesentliche Orte der Questione della lingua, der gelehrten Diskussion um die Auswahl einer gemeinsamen sprachlichen Norm aus der Vielfalt der volgari, die im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Italien zur Verfügung standen (siehe u.v.a. Marazzini 1994, 2000, Serianni/Trifone 1993/94 und Vitale 1978). Dabei geht es den italienischen Humanisten um eine konzeptionell und medial klar definierte Sprache: Sie suchen nach einer – reinen, prestigeträchtigen – überregionalen Sprache für die Literatur, genauer gesagt für die Domäne der konzeptionellen Schriftlichkeit, der kommunikativen Distanz (siehe Koch 1988 und Koch/Oesterreicher 2011). Die verschiedenen zur Diskussion stehenden Optionen sind, wie wir wissen, diastratisch alle ähnlich markiert, unterscheiden sich jedoch auf der diatopischen und auf der diamesischen Ebene, d.h. der Konzeption für den mündlichen oder schriftlichen Gebrauch. Eine wichtige Option stellt die von Castiglione vertretene, diatopisch schwach markierte und eklektische Varietät der lingua cortigiana dar, welche nah am mündlichen Gebrauch des Hofes sein sollte – eine Option, die in Frankreich erfolgreich sein sollte, wo der eine Hof, anders als im politisch und kulturell plurizentrischen Italien, eine wesentliche Rolle in sprachlichen Fragen spielt. Eine weitere Option orientiert sich hingegen (diatopisch stark markiert) an der Schriftlichkeit der Corone, der großen florentinischen Autoren des 14. Jahrhunderts. Bembo schlägt ein sprachlich archaisches Normmodell vor, das auf dem für ihn zentralen Prinzip der imitatio basiert, was zugleich eine Strategie zur Selbstdarstellung und zur Gewinnung von Anerkennung darstellt (siehe Kablitz 1999: 137). Es ist aber auch ein relativ genau kodifiziertes Modell, das sich für eine einfache und rasche Reproduktion und Multiplikation anbietet, eben weil es in angesehenen älteren Texten fixiert ist und daher keinem weiteren historischen Wandel unterliegt (siehe Dessì Schmid 2017). Dies kommt wiederum den Interessen des venezianischen Verlegers und Freundes Bembos, Aldo Manuzio, sehr entgegen – gerade in einem Italien, in dem das Buch immer mehr zum virtuellen Ort der Kultur wird und somit seinerseits zur Einschränkung der kulturellen Rolle der Höfe beiträgt (siehe Mehltretter 2009; Trifone 1993: 427).

      Auf politischer Ebene lässt sich parallel dazu im kleinstaatlichen Italien ein Verfall des Modells des Hofes beobachten, das in anderen europäischen Ländern zur gleichen Zeit floriert. So wird in vielfacher Hinsicht deutlich, warum dem eklektischen, mündlichen, schwierig festzuhaltenden höfischen Modell Castigliones, das auch einen Einblick in andere Normierungsfelder der frühneuzeitlichen Kultur gibt, in Italien weniger Erfolg beschieden ist und warum Bembo das literarisch angesehene schriftliche Modell der Corone wählt: Er erkennt die kulturelle Reichweite der florentinischen Literatur und fordert ihre Erhebung zur Sprache der italienischen Literatur, zur italienischen Sprache tout court – zu einer Sprache, die geeignet ist, in das kulturell maßgebende Europa Modelle des Klassizismus und der Renaissance einzubringen (siehe Dessì Schmid 2017). Es stellt sich allerdings die Frage, ob ein auf dem Prinzip der imitatio basierendes, sprachlich archaisches Normmodell schon deshalb ‚puristisch‘ ist. Bedeutet ,normieren‘ – d.h. eine Sprache klar, fest zu regeln – an sich schon ,puristisch‘ sein? Mit anderen Worten: Inwiefern können Bembos Prose als ein puristisches Werk angesehen werden?

      Vielleicht hilft es, bei solchen Fragen das Werk Bembos aus zwei Perspektiven zu betrachten: einerseits aus derjenigen des ästhetischen, literarischen Grundanliegens seines Strebens nach einer reinen Sprache („la fiorentina lingua più regolata […], più vaga, più pura“, Bembo 1955 [1525]: 32); andererseits aus der Perspektive der institutionellen Anwendung, in der Nachfolge Bembos, des in seinen Schriften enthaltenen Normierungsmodells und deren Konsequenzen für die literarische Sprache und Praxis.

      In den programmatischen Schriften und der lexikographischen Praxis Lionardo Salviatis als eines der wichtigsten Mitglieder der Accademia della Crusca sowie in den institutionellen Praktiken der Akademie wird die Transformation des Normmodells Bembos und der damit verbundenen Auffassung der Sprachreinheit evident: Die Accademia della Crusca macht sich in ihrer Kodifizierungsarbeit zwar dessen Thesen zu eigen, geht allerdings insbesondere mit dem Werk Salviatis weit darüber hinaus: Sie generalisiert das qualitative, auf imitatio auctorum basierende Selektionsprinzip des Normmodells Bembos in einer Weise, dass dieses de facto außer Kraft gesetzt wird – und damit wird der Mythos des Trecento als