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Kommunikationsdynamiken zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit


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nicht selten arbiträr erscheinende Bündelung von Kommunikationsbedingungen in den Diskurstraditionen erklärt auch, weshalb das Modell darauf verzichtet, eine interne Relationierung der Parameter vorzunehmen: Die Parameter und Parameterwerte müssen offen für äußerst variable Zusammenstellungen und ganz unterschiedliche Relevanzsetzungen sein. In dieser Hinsicht ist die Formulierung im Modell und die theoretische Herleitung also durchaus konsistent. Auch die Vollständigkeit der Parameter stellt sich vor dem Hintergrund einer diskurstraditionellen Argumentation als weniger dramatisch dar: Es ist klar, dass die Parameter nur eine Auswahl aus den Gegebenheiten darstellen, die für die Definition einer Diskurstradition notwendig sind. Ausgewählt wurden Parameter, die Koch und Oesterreicher als unmittelbar relevant für die „Formulierungsaufgabe“ (Koch/Oesterreicher 2011: 6), also die sprachliche Form der Kommunikate einstufen. Beispielsweise gibt es keinen Versuch, die thematische Prägung der Textsorten, etwa die Zuordnung zu bestimmten gesellschaftlichen Handlungsbereichen oder die rhetorische Funktionalität, die argumentative, narrative, appellative, persuasive Ausrichtung, in das Modell zu integrieren. Vollständig ist das Modell dagegen in der Hinsicht, dass es sozial-emotive Parameter integriert. Die kognitiven Dimensionen der Kommunikation und die sozialen werden bewusst zusammen modelliert. Denn Kommunikation kann nicht a-sozial konzipiert werden. Die Verschiebung der sozialen Relationen zwischen den Interaktant*innen durch die Adressierung eines „generalisierten Anderen“ (Maas 2016: 98) kann eine Konsequenz sozialer Fremdheit sein, sie kann aber auch das ‚Aussetzen‘ der interpersonalen Dimension in sachbezogener Kommunikation signalisieren. Umgekehrt können die sprachlichen Strategien der Distanz soziale Fremdheit erzeugen, ebenso wie die mit den distanzsprachlichen Situationen assoziierten einzelsprachlichen Varietäten. Die basalen sozialen Relationen sind immer gegeben, und nur durch ihre Integration kann ein vollständiges, nicht reduktives Modell der Kommunikation gesichert werden. Jede Auslagerung der sozial-emotiven Aspekte aus dem Nähe-Distanz-Kontinuum ist eine Verkürzung und damit Verfälschung des Modells.

      Wir schlagen also vor, die relativ lose Aufschlüsselung der Parameter der situativen Variation zu belassen. Wir plädieren aber dafür, den Aspekt der Verschränkung von Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien im kommunikativen Prozess zu fokussieren und, anders als das Nähe-Distanz-Kontinuum von Koch und Oesterreicher, die Modellierung zu einer „prozessrealistischeren Modellierung der Sprech- und Verstehensvorgänge“ (Knobloch 2016: 79) zu vereindeutigen. Deshalb stellen wir der Ebene der Kommunikationsbedingungen eine Ebene voran, die die zentrale Rolle der Textsorte/Gattung/Diskurstradition für die Kommunikation herausstellt und die Unter- bzw. Einordnung der einzelnen situativen Parameter in die übergeordnete Situationsdefinition klar zum Ausdruck bringt (Abb. 1). Der Vorschlag, das Kontinuum der Kommunikationsbedingungen als Auffächerung eines Situationsentwurfs zu verstehen und den holistisch zu verstehenden Gesamtentwurf einem ausschließlich an einzelnen Parametern orientierten Zugriff vorzuordnen, präzisiert, so meinen wir, die Gedanken von Peter Koch und Wulf Oesterreicher und denkt das Modell in eine Richtung weiter, die es bereits eingeschlagen hat. Weiterhin schlagen wir vor, die Ebene des Situationsentwurfs auch dazu zu nutzen, die Variabilität der Zielsetzungen kommunikativen Handelns in ihrer Relevanz für die konzeptionelle Variation zu erfassen. Bei der Benennung der unseres Erachtens relevanten Parameter greifen wir auf Begriffspaare zurück, die bereits vorgeschlagen wurden und die unseres Erachtens die Variation der Funktionen der kommunikativen Akte sichtbar machen können.3 Es ist nicht sicher, ob der Vorschlag, funktional-inhaltliche Momente in das Nähe-Distanz-Kontinuum einzubeziehen, geteilt worden wäre. Die Schwierigkeiten, die sich dem Nähe-Distanz-Kontinuum entgegenstellen, sobald es auf literarische Texte angewendet wird, zeigen aber, dass Faktoren wie Fiktionalität bzw. Literarizität und die durch sie sanktionierten Vervielfachungen der Sprecher*inneninstanzen und imaginierten kommunikativen Konstellationen einen unmittelbaren Einfluss auf die Gestaltungsmöglichkeiten haben. Für das Voranstellen einer auf die Funktionalität der Kommunikate ausgerichteten Ebene spricht außerdem, dass auch beim Schreiben für eine mündlich-auditive Rezeption bzw. beim schriftlichen Protokollieren einer mündlichen Interaktion eine Art Verdoppelung der situativen Bedingungen durch die Imagination neuer, anderer Bedingungen gegeben ist, diese Verdoppelung sich aber allein aus der aktuellen kommunikativen Zielsetzung ableiten lässt.

      4 Situation und mediale Dispositive

      Die vereindeutigende Modellierung der Interaktion der kommunikativen Parameter in der Kommunikationssituation erlaubt uns noch eine zweite Erweiterung des Nähe-Distanz-Kontinuums, nämlich die Integration der medialen Variation. Wir schlagen vor, das Konzept der „medialen Dispositive“ als Ensemble mehrerer medialer Variationsparameter zusätzlich zu den von Koch und Oesterreicher bereits ausgewählten situativen Parametern anzusetzen, und zwar an der Stelle, in der in der ursprünglichen Fassung der – kryptomediale – Parameter der physischen Nähe vs. Distanz steht. Mit der Integration der medialen Dispositive in das Kontinuum tragen wir der Tatsache Rechnung, dass einige Aspekte, vor allem prozessuale, unhintergehbar von den vorhandenen medialen Möglichkeiten und Notwendigkeiten geprägt sind. Die Integration der Medialität in unser Modell erfolgt allerdings unter der Prämisse, dass den medialen Parametern ein eigener Status zugewiesen wird: Die Dispositive bestimmen einen medialen Ermöglichungsraum; dessen jeweilige Auslastung wird aber von der Situationsdefinition und der konzeptionellen Variation geregelt, nicht umgekehrt. Wenn wir beispielsweise den Parameter der Dialogizität vs. Monologizität nehmen, so muss klar sein, dass es nicht die physische Kopräsenz als solche ist, die Dialogizität auslöst. Die Möglichkeit der dialogischen Interaktion kann, wenn es konzeptionelle Faktoren fordern, durch explizit gegenläufige Regulierungen des Sprecher*innenwechsels ausgesetzt werden. Auch in face-to-face-Situationen ist Monologizität möglich. Die Integration der Medialität ist also nur unter der Bedingung möglich, dass die konzeptionelle Ausrichtung nicht aus einzelnen, isolierten Variationsparametern abgeleitet werden kann, sobald klar ist, dass die Parameter nur innerhalb eines gesamthaften ‚Entwurfs‘, ‚Duktus‘ oder ‚Kommunikationsmodus‘ wirksam werden können. Medialität kann unter dieser Voraussetzung im Modell berücksichtigt werden, denn es besteht nicht mehr die Gefahr, sie zu einem isoliert wirkenden oder gar alles entscheidenden variationsdeterminierenden Faktor umdeuten zu können. Die Voranstellung des Situationsentwurfs und das Insistieren darauf, dass niemals ein einzelner Parameter, sondern erst das Zusammenspiel aller Faktoren die konzeptionelle Variation bestimmen, verhindern die Reduktion der kommunikativen Variation auf das Mediale und machen deutlich, dass es immer um einen bereits konzeptionell definierten Mediengebrauch geht. Es ist immer wieder gesagt worden, dass Medialität alleine nicht die konzeptionelle Profilbildung oder die mit dieser verbundenen sprachlich-textuellen Entwicklungen bestimmen kann (siehe z.B. Tophinke 2016: 305). Wir gehen davon aus, dass unser Vorschlag nach dem Einfügen der Ebene des Situationsentwurfs genau diesen Gedanken exemplifizieren und klarer herleiten kann.

      Die Erweiterung um die Medialität entspricht nun zweifellos nicht den Vorstellungen von Peter Koch und Wulf Oesterreicher. Alle, die sie persönlich kannten, wissen, dass an dieser Stelle kein Weiterdiskutieren möglich war. Anschlussmöglichkeiten sind dennoch vorhanden. Zum einen ist da die Kryptomedialität des Modells, von der weiter oben bereits die Rede war und die durch das explizite Einbeziehen der Medialität als Bezugsbereich der Variation der Kommunikationsbedingungen transparenter gehandhabt werden kann. Außerdem haben Peter Koch und Wulf Oesterreicher in der ersten Fassung des Nähe-Distanz-Kontinuums der Medialität durchaus noch einen Platz gegeben (siehe Koch/Oesterreicher 1985: 23). In dieser frühen Fassung war der Bereich der extremen Nähesprache für die graphische Medialität gesperrt, ebenso der der extremen Distanzsprache für die phonische.1 Später wurde der Gedanke, die extremen Ausprägungen der konzeptionellen Variation seien an bestimmte mediale Bedingungen gebunden, allerdings wieder aufgegeben. Wir meinen aber, dass die Beobachtung, die Konzeption interagiere mit der Medialität, richtig ist und schlagen deshalb die Integration der Medialität in die situative Variation vor.

      Aus den genannten Präzisierungen und Erweiterungen resultiert folgendes Nähe-Distanz-Modell (Abb. 1):

      Abb. 1:

      Ein erweitertes Modell der Nähe-Distanz-Kommunikation

      5 Konzeption und die Grenzen