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Kommunikationsdynamiken zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit


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auch eine radikale Transformation, eine Umsemantisierung des Prinzips der Sprachreinheit stattfindet, die gleichsam als Geburtsurkunde des Purismus aufgefasst werden kann: Jedes sprachliche Beispiel dieser Epoche wird – unabhängig von seiner ästhetischen Qualität und dem Ansehen seines Autors – als ‚rein‘ erklärt.

      Im folgenden Beispiel aus dem Vorwort des Vocabolario degli Accademici della Crusca wird diese radikale Ausprägung des Sprachpurismus sichtbar:

      Nel compilar il presente Vocabolario […] abbiamo stimato necessario di ricorrere all’autorità di quelli scrittori, che vissero, quando questo idioma principalmente fiorì, che fu […] dall’anno del Signore 1300 al 1400 poco più, o poco meno: perché […] gli scrittori […] dal 1400 avanti, corroppero non piccola parte della purità del favellare di quel buon secolo.

      (Vocabolario degli Accademici della Crusca, 1612, A’ lettori, 6)

      Alle Wörter aller florentinischen Autoren des 14. Jahrhunderts – also nicht nur die Petrarcas und Boccaccios – werden konsequent in das Wörterbuch aufgenommen; alle anderen – also nicht nur Fremdwörter, sondern alle nicht altflorentinischen Wörter – werden aufs Strengste ausgeschlossen. Sie seien keine ‚reine Sprache‘, da spätere Autoren einen nicht geringen Teil der Reinheit der Sprache dieses hervorragenden Jahrhunderts verdorben hätten. Im Zitat wird aber auch die dynamische Wechselwirkung zwischen ästhetisch-literarischer, sozio-kultureller und politischer Sphäre sichtbar: Denn die formalen Qualitäten, die sich aus dem sprachlichen Reinheitsgebot ergeben (z.B. Klarheit, Natürlichkeit, Zierlichkeit, Eleganz der Sprache), sowie die Strategien der Autorisierung sind hier nicht zu trennen von der präskriptiven, sprachreinigenden Funktion und der sprachpragmatischen Dimension des Wörterbuchs.

      Die Prosa und die Dichtung, die ‚ganze‘ Literatur des 14. Jahrhunderts, bilden somit aus ästhetisch-literarischer Perspektive die Grundlage des sprachlichen Reinheitsideals. Dieses konkretisiert sich praktisch in den sprachnormierenden Akten der Accademia – etwa in einem Wörterbuch, das die programmatischen Sprachideale in konkrete Sprachpraxis implementiert. Denn hinter solchen Akten erkennt man die soziale Logik der gebildeten Gesellschaft und, mit ihr, der politischen Macht: Das Wörterbuch ist nicht zufällig Concino Concini gewidmet, dem toskanischen Adligen und wichtigsten Berater Maria de’ Medicis am französischen Hof (was schon auf dieser Ebene die enge Verbindung zwischen Italien und Frankreich zeigt). Auch in der Folge zeigt die erfolgreiche Implementierung des Sprachreinheitsideals der Crusca wiederum eine dynamische Wechselwirkung zwischen diesen Polen: Autoren späterer Epochen werden sich in der künstlerischen Gestaltung ihrer Werke an der ‚reinen Sprache‘ orientieren, die auf die Praxis der Gelehrten und der Accademici zurückgeht.

      Nicht zuletzt kann man auch in dieser kurzen Darstellung die historische Kraft und Reichweite eines Textes wie des Vocabolario beobachten: In einem Wörterbuch wird ein neuer Zusammenhang zwischen grammatikalischen und lexikalischen, ideologischen und gesellschaftlichen Normvorstellungen hergestellt. Ein Wörterbuch beeinflusst letztendlich – obwohl man darin zunächst kaum die Behandlung genuin ästhetischer Fragestellungen vermuten würde – das Sprachhandeln zahlreicher Akteure in ihrem literarischen Schaffen und wirkt tief in die Alltagswelt hinein.

      Gerade aus dieser Verabsolutierung und Ideologisierung von Bembos Modell entsteht in Italien durch das lexikographische Werk der Accademia della Crusca ein Sprachpurismus, der Maßstäbe auf europäischer Ebene setzt: Dieser wird ein Exportprodukt, das in Frankreich wie auch in Deutschland auf fruchtbaren Boden fällt – wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise.1

      Die Normierungsbestrebungen setzen von Anfang an in Frankreich einen anderen medialen Schwerpunkt als in Italien: Gewählt werden soll eine Sprache, die in allen Domänen der kommunikativen Distanz, auch der Literatur, effizient ist, jedoch nah am – auch hier reinen, prestigeträchtigen – mündlichen Gebrauch des Hofes sein sollte. Denn Frankreich schwankt zwischen der Anerkennung der kulturellen Hochleistungen Italiens in Kunst, Architektur und höfischem Leben im Allgemeinen einerseits und Schwierigkeiten mit der Akzeptanz der – politischen und sprachlichen – Italianisierung des französischen Hofes andererseits (Dessì Schmid/Hafner 2016). Eine ähnliche Situation kann wiederholt im Laufe der Geschichte der zwei Länder beobachtet werden, man denke nur an die Debatte um den génie de la langue.2

      Hierin könnte einer der Gründe liegen, weshalb die französische Sprachenfrage – und dabei insbesondere der Purismus – am Pariser Hof von Anfang an radikalere und stärker von politischen Motiven geleitete Züge annimmt als in Italien und nicht zuletzt sehr stark an andere Normierungsfelder der frühneuzeitlichen Kultur gebunden zu sein scheint: Durch die von Richelieu initiierte, stark politisch gesteuerte Académie française, die die Reinigung der Sprache vom mauvais usage als ihre primäre Aufgabe versteht, werden die Normierung und die Normalisierung des Französischen sowie dessen sukzessive Verbreitung in Europa zu staatlichen (höfischen) Zielen erklärt (siehe Dessì Schmid/Hafner 2016). Die Académie übernimmt die strenge puristische Auffassung der Accademici cruscanti, betont jedoch gegenüber dem Prinzip der imitatio auctorum, wie es Bembo und die Crusca voraussetzen, das des bon usage, des „Maistre des langues, celuy qu’il faut suivre pour bien parler, et pour bien escrire“ (Vaugelas 2009 [1647]: 67). So kristallisieren sich die Züge der französischen Sprachpolitik gerade bei Vaugelas’ Normvorschlag heraus, wie er diesen in seinen Remarques formuliert: Gemeint ist diejenige Varietät, die im 17. Jahrhundert hochgradig prestigeträchtig und als unverzichtbarer Aspekt des gesellschaftlichen guten Benehmens (bienséance) angesehen wird. Es bleibt allerdings noch offen und nicht einfach zu klären, ob jener bon usage tatsächlich dem mündlichen Gebrauch entspricht, oder ob er stärker als bislang angenommen von literarischen Formen und Traditionen bestimmt ist, „conformément à la façon d’escrire de la plus saine partie des Autheurs du temps“ (Vaugelas 2009 [1647]: 68).3 Sich mit der Implementierung und Elaboration der ausgewählten und kodifizierten Varietät in der ‚Französischen Sprachenfrage‘ aus dieser Perspektive näher zu beschäftigen und dabei insbesondere die Anwendung in den literarischen Produktionen sowie daraus resultierende ästhetische Folgen in den Blick zu nehmen, scheint besonders interessant zu sein. Bekanntlich sind die Autoren des 17. Jahrhunderts – unter vielen anderen etwa Corneille, Racine, Colletet – in ihrem literarischen Schaffen stark von Vaugelas’ Normierungsmodell beeinflusst worden. Vieles ist darüber im Allgemeinen bereits gesagt worden (siehe Ayres-Bennet 1987; Blochwitz 1968; allgemein Chaurand 1999; Rey/Siouffi/Duval 2007), doch nur wenige Arbeiten haben sich mit einer systematischen Verifizierung dieses Einflusses auf sprachlicher wie auf ästhetischer Ebene beschäftigt, d.h. mit der Frage, ob alle oder nur einige und welche der Remarques angewandt wurden (siehe dazu Braun 1933 und Aulich 2017). Dem nachzugehen bleibt ein Desideratum.

      Jenseits dieser eher medialen Frage können Texte wie Du Bellays Deffence et Illustration de la Langue Francoyse, Malherbes Commentaire sur Desportes und Vaugelas’ Remarques sur la langue françoise als erste Zeugnisse eines innereuropäischen Transfers des ‚(sprach)puristischen‘ Diskurses in der Frühen Neuzeit angesehen werden. Sie stellen zum einen die ideale Grundlage für eine vergleichende Untersuchung verschiedener Autoren und Positionen in der lebendigen (puristischen) Sprachdiskussion am Pariser Hof dar, zum anderen erlauben sie neben den expliziteren sprachlichen und literarischen Zielen auch diejenigen zu betrachten, welche auf die sozialen Praktiken abzielen und implizitere Funktionen von Sprachreinigung betreffen.

      4 Schlussbemerkung

      Sprachreinheit ist ein ideales Beispiel, um von der Historizität der gesellschaftlichen und kulturellen Phänomene zu sprechen, um die geistesgeschichtliche und die wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung in ihrer Verflechtung zu untersuchen. Es handelt sich also um ein genuin geisteswissenschaftliches Thema, das nicht nur an Kontinuitäten, sondern gerade auch an Widersprüchen ansetzt. In den Beziehungen zwischen den sprachpuristischen Programmen und den Praktiken der jeweiligen Sprach- und Kulturräume Europas sind Widersprüche zu erkennen: zum einen die Widersprüche zwischen dem universalen Geltungsanspruch der einen, ‚reinen‘ sprachlichen Norm und der Pluralität der Normentwürfe, zum anderen der Widerspruch zwischen der Absolutheit des Normanspruchs und der Heterogenität der sprachlichen Praxis und der sprachtheoretischen,