Klaus Mann

Der Vulkan. Roman unter Emigranten


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den Kurfürstendamm. Tilly ward das Gefühl nicht los, daß sie träume. Vielleicht, weil sie in so vielen Nächten während der letzten Wochen von all dem geträumt hatte. Wie fremd — wie vertraut schaute die Gedächtniskirche sie an! Das Warenhaus »Kadewe« am Wittenbergplatz, die Kinos und Cafés der Tauentzienstraße, die staubigen Bäume wie traum-fremd, wie traumvertraut! Sie war kaum vier Monate fort gewesen, es hatte sich nichts verändert. — Es hatte sich alles verändert. Sogar der Himmel über Berlin sah anders aus als früher; er war glasig erstarrt — schien es Tilly — und er schickte ein fahles Licht.

      Ihr Aufenthalt war kurz und übrigens völlig ergebnislos. Sie logierte bei einer Freundin, die ihrerseits in Beziehung zu den Genossen stand. Mit diesen traf sich Tilly, an dritter Stelle, nachts, unter allen erdenklichen Vorsichtsmaßregeln. Einen der jungen Männer hatte sie schon früher durch Konni kennengelernt: er war Student der Philosophie und trug eine große Hornbrille im kindlich weichen, rosigen Vollmondgesicht. Der andere schien ein strebsamer, gescheiter Proletarier zu sein; der Anzug kleinbürgerlich-korrekt; die Miene von einem verbissenen, fast drohenden Ernst. Sie stellten sich als Fritz und Willy vor, sprachen mit gedämpften Stimmen — obwohl man sich in einer leeren, vielfach verschlossenen, isoliert gelegenen Wohnung befand —, und hatten die nervöse Gewohnheit, ständig um sich zu blicken, zuweilen, mitten im Satze, jäh aufzuspringen und zur Tür zu eilen, um festzustellen, ob sich hinter ihr jemand verbarg.

      Von ihnen erfuhr Tilly, daß Konni sich im Konzentrationslager Oranienburg befinde; der Student mit dem runden Gesicht hatte ihn einmal besuchen können und versicherte: »Es geht ihm leidlich. Man hat ihn verhältnismäßig wenig geprügelt.« — »Verhältnismäßig wenig . . .«, wiederholte Tilly und schüttelte langsam den Kopf. »Es ist unfaßbar . . . unfaßbar . . .« Sie sagte es mit einer ganz leisen Stimme. Dann fragte sie schüchtern: »Wie lange, glauben Sie, wird man ihn dort behalten?« Die jungen Männer, die sich Fritz und Willy nannten, sahen sich an und hatten beide ein kaum merkbares Lächeln, das gutmütigen Spott und etwas Bitterkeit ausdrückte. Endlich sagte der Proletarische: »Wenn man das wüßte . . .«

      Es gab ein Schweigen. Endlich stand Tilly auf, machte ein paar Schritte durchs Zimmer und erklärte: »Ich muß ihn sehen.« Da erwiderten die beiden, wie aus einem Munde:

      »Das geht nicht.«

      Sie könne ihren Konni keinesfalls besuchen — setzten sie der armen Tilly auseinander. Sie sei der Gestapo sehr wohl bekannt; sei denunziert worden; man argwöhne, daß sie bei der Sache mit den Flugblättern im Universitätsgebäude mitgemacht habe. Tilly warf ein: »Das ist aber Unsinn!« Und der Philosophie-Student: »Darauf kommt es nicht an. — Ich gebe Ihnen den Rat: Hauen Sie ab! Fahren Sie möglichst schnell dorthin, woher Sie gekommen sind!« Es klang barsch, beinah unfreundlich. »Hier können Sie nichts nützen, nur schaden. Die illegale Arbeit ist nicht jedermanns Sache; dazu braucht man mehr als die rechte Gesinnung, und sogar mehr als nur Courage; nämlich: Erfahrung; Training — wie zu einem Sport.« Versöhnlicher fügte er hinzu, da er das Mädchen mit den Tränen kämpfen sah: »Wenn ich den Konni wieder mal sehen sollte, werde ich ihm erzählen, daß Sie hier gewesen sind; daß Sie an ihn denken. — Vielleicht lassen sie ihn doch bald raus . . .«, sagte er tröstlich, gerührt durch den Anblick von Tillys zitterndem Kinn und ihren Augen, die naß wurden. —

      Frau von Kammer wunderte sich darüber, daß ihre Tochter durchaus nicht braungebrannt und frisch, vielmehr recht blaß und erschöpft von ihrem Ausflug zurück kam. — Tilly berichtete dem H. S., nach Prag, über ihre mißglückte Reise. »Du hast also recht gehabt« — da er sie in allen seinen Briefen »Du« nannte, hätte sie es unhöflich gefunden, ihn mit »Sie« anzureden —, »es war sinnlos. Ich habe den Konni nicht sehen können. Die Nazis zeigen ihre Opfer nicht her. Berlin hat sich schrecklich verändert. Ich war nur drei Tage dort und habe fast die ganze Zeit geweint.«

      Während sie das Briefcouvert schloß, dachte sie — zum wievielten Male? —: ›Was mag das wohl für ein Mensch sein, dieser H. S.? Ist er groß oder klein? Blond oder schwarz? Wie heißt er? Ist er ein intimer Freund von Konni?‹

      ›Was mag das wohl für ein Mensch sein, dieses Mädchen?‹ dachte Hans Schütte. Er wohnte mit seinem Freund Ernst zusammen in einem recht engen Zimmer. Das Zimmer kostete 120 Tschechenkronen im Monat. Es lag unbequem, etwas außerhalb der Stadt, in Kosirse. Man brauchte vom Zentrum aus zwanzig Minuten mit der Trambahn. Die Trambahn fuhr eine trostlos lange Vorstadtstraße hinunter: die Pilsener Straße. Hans und Ernst lernten es allmählich, auch ihren tschechischen Namen auszusprechen; er lautete: Plzenska.

      Hans war fünfundzwanzig, Ernst siebenundzwanzig Jahre alt. Ernst war Sozialdemokrat gewesen und hatte in Berlin ein gutes Auskommen gehabt, erst als Schupo; dann als Privatchauffeur eines sozialdemokratischen Polizeipräsidenten. Er war ein nett aussehender Bursche von slawischem Gesichtstyp, wie man ihn in Berlin häufig findet. Hans war kleiner und stämmiger als Ernst: mit rundem Schädel, auf dem er das dichte, dunkle Haar kurz geschoren trug; runden, gutmütigen, etwas vortretenden braunen Augen.

      Er hatte keiner Partei angehört, war aber mit den Kommunisten in Verbindung gewesen und hatte mit ihnen zusammen manchmal »ein Ding gedreht«, wie er es nannte. Das heißt: er hatte sich gelegentlich an kleinen Aktionen gegen die Nazis oder am Saalschutz bei Versammlungen beteiligt. Er war brauchbar und tapfer; aber er konnte sich nicht unterordnen und mußte sich immer wieder sagen lassen, daß er »keine Disziplin« habe. Wenn man ihn aufforderte, in die Partei einzutreten, erklärte er: »Das ist nichts für mich. Ich passe in keine Organisation. Überhaupt bin ich kein Politiker. Mir fällt nur auf, daß es in dieser Welt sehr viel Dreck gibt. Ich weiß noch nicht recht, wie man den am besten wegschafft. Oft möchte ich am liebsten alles zusammenhauen. Es gibt zu viel Scheiße.«

      . . . Im Herbst 1933 kamen sie beide gerade rechtzeitig über die Grenze — illegal, ohne Pässe.

      Zu Anfang wurden sie in Prag unterstützt: Ernst von seiner Partei; Hans von einer linken humanitären Organisation, an die kommunistische Freunde ihn empfohlen hatten.

      Ihr Leben war ganz erträglich. Beide hatten noch niemals in einer anderen Stadt als Berlin gelebt. Nun lernten sie plötzlich etwas Neues kennen. Sie fanden, daß Prag wundervoll war. Stundenlang konnten sie sich herumtreiben: am Wilson-Bahnhof, auf dem großen Wenzelsplatz, wo es die verführerischen Automaten-Buffets gab, oder am »Graben«, wo sie in die Auslagen der eleganten Geschäfte starrten; auf den Moldau-Brücken, oder am anderen Ufer, auf der geheimnisvollen »Klein-Seite«. Sie stiegen zum Hradschin hinauf und sagten: »Hier wohnt der alte Masaryk: ein sehr anständiger Kerl.« Sie fanden es aufregend im engen Alchymisten-Gäßchen — »da haben sie früher mal Gold gemacht! Junge! Junge!« —, und sie tauschten Erinnerungen an die Geschichtsstunden, als sie nebeneinander vor den hohen Mauern standen, die das Wallenstein-Palais umgeben. Vorm Czernin-Palais sagten sie: »Mensch, det is pures Rokoko! So wat Schönes haben wir nich, in Berlin!« Sie waren sehr empfänglich für die mannigfachen Reize der Stadt Prag. Sie lernten auch nette Mädchen kennen, die relativ wenig Geld verlangten. Manchmal nahmen sie sich zwei Mädchen mit, in ihr enges Zimmer; manchmal nur eines, weil das billiger kam.

      Jede Woche zwei- oder dreimal trafen sie in einem kleinen Bierlokal ein paar Kameraden aus Deutschland, mit denen sie die politische Situation diskutierten. Sie untersuchten, warum alles so gekommen war, und was man dafür tun könnte, daß es anders würde. Ein Gescheiter, mit Hornbrille auf der Nase, erklärte: »Wir sind selber schuld an dem ganzen Unglück! Wenn die Linksparteien einig gewesen wären, hätte der Hitler es nie geschafft!« Dann nickten sie alle nachdenklich. Aber einer von der Kommune sagte, halb scherzhaft, halb wirklich böse zu Ernst gewendet: »Mit euch Sozialfaschisten konnte ein anständiger Mensch doch nicht zusammengehen!« — Daraufhin Ernst: »Ihr Kommunisten seid gar keine deutsche Partei gewesen, ihr wart doch abhängig von den Russen! Und was habt ihr denn für eine Politik gemacht? Eure schlaue Theorie war: die Nazis sollen nur kommen, die werden bald abgewirtschaftet haben, und dann sind wir an der Reihe. Na, da haben wir die Pastete . . .« Der mit der Hornbrille lachte bitter: »Da streiten die sich schon wieder!!« — Hans sagte: »Wir hätten eben nur eine große Partei haben dürfen. In die hätte ich vielleicht dann auch gepaßt . . . « —

      . . . Die Monate vergingen. Hans und Ernst hatten