des Monologisierens war —, »das Problem unserer Emigration wird kompliziert, fast möchte ich sagen: korrumpiert, durch den Umstand, daß ein erheblicher Teil unserer Leidensgenossen nicht aus Überzeugung, sondern nur durch Zwang ins Exil gekommen ist. Ich rede von den Juden.«
Er machte eine effektvolle kleine Pause. Die Proskauer nickte ihm aufmunternd zu. David rückte nervös die Schulter, räusperte sich und fuhr fort:
»Wie viele deutsche Juden würden sich mit dem infernalischen Phänomen ›Nationalsozialismus‹ herzlich gern abfinden — wenn der Nationalsozialismus nicht antisemitisch wäre?« Der Redner stellte die Frage mit unheilverkündender Strenge. »Die totale Barbarei, die der Nationalsozialismus bedeutet — und von welcher der Antisemitismus nur ein besonders krasses, fast möchte ich sagen: besonders pittoreskes Symptom ist —: wie viele deutsch-jüdische Bankiers, Theaterdirektoren oder Feuilletonredakteure würden denn nun wirklich Anstoß an ihr nehmen — wenn sie nicht eben dazu gezwungen wären?! —«
Er verstummte, und sein Oberkörper zuckte besorgniserregend. Dann — mit der edlen Geisterhand flüchtig durch die Luft fahrend, als gäbe es dort etwas wegzuwischen —: »Die jüdischen Exilierten sind für den politisch, den revolutionär Denkenden nur interessant, wenn wir von ihnen wissen, oder doch annehmen dürfen: sie würden die Feinde dieses Regimes auch bleiben, wenn das Regime auf einen seiner schandbaren Tricks verzichtete, auf den Antisemitismus. — Nun ist freilich festzustellen, daß aus manch deutschem Juden, der zunächst keineswegs aus Gesinnungsgründen, vielmehr unter dem Druck der Umstände ins Exil gegangen ist, allmählich ein bewußter und aktiver Antifaschist werden kann. In vielen Fällen hat dieser bedeutsame Verwandlungsprozeß wohl schon begonnen . . . Denn natürlich sind in den jüdischen Traditionen, in der jüdischen Geistigkeit die Widerstände gegen den militanten Barbarismus, das aggressive Neuheidentum besonders stark; stärker oft, wollen wir hoffen, als ein Klasseninteresse, das es dem Wohlhabenden ratsam scheinen ließ, mit den Unterdrückern gegen die Unterdrückten zu stehen. Eine jahrtausendelange Leidensgeschichte hat unser Volk doch wohl den Wert einiger Begriffe und Ideale sehr tief begreifen lassen — etwa die Begriffe und Ideale der Toleranz; der Gerechtigkeit. — Und wenn sie es noch nicht begriffen haben,« fügte er hinzu, plötzlich in einem leichteren, verärgerten Ton, so als ginge das Ganze ihn nicht sehr viel an —, »tant pis pour eux. Dann werden sie es eben noch lernen müssen. Es ist doch so klar, so selbstverständlich«, — er sagte es ungeduldig, als langweilte und enervierte es ihn, begriffsstutzigen Schülern die gleichen einfachen Dinge gar zu oft wiederholen zu müssen —, »es liegt doch so auf der Hand: Wir Juden gehören auf die Seite der Unterdrückten, einfach, weil wir selbst Unterdrückte sind. Es ist ungemein in unserem Interesse, daß die Menschen etwas aufgeklärter, zivilisierter, etwas menschlicher werden; während der Faschismus es doch gerade darauf anlegt, sie immer mehr zu entmenschlichen. — Aber entschuldigen Sie, daß ich Sie mit diesen Banalitäten ennuyiere«, wendete er sich — ein pedantischer, aber doch gefallsüchtiger Dozent — an das unsichtbare Auditorium.
Überraschenderweise ließ an dieser Stelle des Vortrages die Proskauer das verständige Murmeln ihrer Stimme hören. »Man muß heute wieder den Mut zu gewissen Banalitäten haben«, bemerkte sie und blickte freundlich an ihrer Nase vorbei. »Übrigens ist es noch sehr die Frage, ob man das Selbstverständliche weiter als banal bezeichnen darf. Es stößt überall in der Welt — nicht nur in Deutschland — auf einen derartigen Widerspruch, daß es beinah den Reiz des Neuartigen und Gewagten bekommt.«
David schien ein wenig erstaunt darüber, daß sein Publikum es sich plötzlich herausnahm, das Kolleg durch Zwischenbemerkungen zu unterbrechen. Sein Gesicht verfinsterte und verzog sich nervös. Er beherrschte sich aber, lächelte verzeihend, winkte beinah fröhlich mit der gewichtslosen Hand — als wollte er sagen: Ein wenig keck, meine Liebe! Aber lassen wir’s gut sein —, und fuhr, unbeirrbar, fort:
»Wir tun also gut daran, innerhalb der jüdischen Emigration jene Typen-Gruppe, die in der Tat nur aus geschäftlichen Gründen das Land verlassen hat und in keinerlei politischer oder moralischer Opposition zum Regime steht, scharf von den anderen zu trennen, die entweder von vorneherein auch Gesinnungsemigranten waren oder sich doch zu Gesinnungsemigranten entwickeln.«
»Was hat Davidchen denn da eigentlich zu erzählen?« wollte die Schwalben-Wirtin, etwas mißtrauisch, wissen. Sie trat, die Zigarre im Mund, Arme in die Hüften gestemmt, neugierig näher, um dem temperamentvoll Dozierenden zu lauschen.
Auch andere wurden aufmerksam. Marion, die an einem Tisch mit dem Mediziner Dr. Mathes, dem ährenblonden »Meisje« und der kleinen Germaine Rubinstein saß, brach ihr Gespräch ab. »David ist groß in Form«, sagte sie lachend. Und während die Schwalben-Wirtin sich mit leisem Ächzen zwischen der Proskauer und David Deutsch auf einem Stuhl niederließ, der viel zu schmächtig schien, um ihre Leibesfülle zu tragen, bemerkte das »Meisje«, den leuchtend veilchenblauen Blick sinnend auf den Redenden, Gestikulierenden gerichtet: »Ich weiß nicht . . . für mich hat er etwas Ergreifendes . . . Er leidet so viel, und er denkt so viel nach . . . Sieht er nicht aus wie ein junger Priester?« fragte sie schüchtern und wurde ein wenig rot, als hätte sie sich zu weit vorgewagt. Sie paßte nicht ganz in den Kreis; in Berlin war sie Gärtnerin gewesen, sie hatte Kakteen gezüchtet. Weil ihre Mutter Holländerin war, nannte man sie »Meisje«, was das niederländische Wort für Mädchen ist. — »Es klingt ja etwas verstiegen«, fügte sie nun geschwind hinzu. »Aber sieht er nicht wirklich wie ein Priester aus?« — Marion, ohne sich nach Meisje umzudrehen, den Oberkörper nach der Richtung, wo David Deutsch saß, gewendet; den Arm um die Stuhllehne geschlungen; die Beine übereinandergeschlagen, nickte ernst und freundlich: »Du hast ganz recht, Meisje. In anderen Zeiten wäre er wohl ein frommer Schriftgelehrter geworden.« Und auch die ernste kleine Germaine, Anna Nikolajewnas etwas widerspenstige Tochter, bestätigte: »Elle a tout à fait raison.« — Herr Nathan-Morelli aber, der an einem anderen Tisch, ganz im Hintergrund des Raumes, mit Fräulein Sirowitsch speiste, schnitt eine gequälte Grimasse: »Der junge Herr dort drüben scheint mir zur Abwechslung über Deutschland und die Emigration zu plaudern. Ich wußte gleich, daß wir besser in ein anderes Restaurant gegangen wären. Deutschland — Deutschland — Deutschland . . .: wenn ich nur das Wort nicht mehr hören müßte!!« Sein Gesicht hatte den starren, blasierten Ausdruck plötzlich verloren; der Mund verzerrte sich, und auf der Stirne ließen sich die Spuren ausgestandener Leiden erkennen. Er nahm sogar die Zigarette aus dem Mund, während er sich weit zu seiner Dame vorneigte und mit ganz leiser, gepreßter Stimme sagte: »Dieses Wort, dieser Begriff, dieses Schicksal, das ›Deutschland‹ heißt, hat mir mehr zu schaffen gemacht als irgend etwas anderes auf der Welt. Was glauben Sie, daß ich durchmachen mußte, ehe ich bis zu der kühlen Verachtung gegenüber allem Deutschen gekommen bin?! Aber einmal muß man sich frei machen können! Man geht zugrunde, wenn es nicht gelingt! Ich habe mich freigemacht! Oder glauben Sie mir nicht . . . ?« fragte er mit einer jähen Gereiztheit. Die Sirowitsch betrachtete den erregten Nathan-Morelli und lächelte zärtlich, mütterlich und etwas spöttisch.
David, der endlich etwas wie ein Publikum hatte und sofort befangen wurde, stellte sich, als ob er gar nicht merkte, daß man auf ihn aufmerksam war, und richtete nun, zum erstenmal, seitdem sie hier beisammensaßen, seine Worte wirklich an die Proskauer. »Es würde ebenso komplizierte wie fesselnde Statistiken geben«, sagte er, »wenn man versuchen wollte, auszurechnen, wie viele unter den jüdischen Emigranten auch Gesinnungsemigranten sind. Außerdem wäre festzustellen, ein wie großer Prozentsatz der jüdischen oder nicht-jüdischen Gesinnungsemigranten aus rein politischen Gründen gegen die Nazi-Diktatur opponiert. Dieses dürfte vor allem bei den berufsmäßigen Politikern, Parteiführern, Funktionären, politischen Journalisten und bei den proletarischen Exilierten der Fall sein. Aber wie viele proletarische Exilierte gibt es? Auch dies sollte errechnet werden! Über alles müßte unsere Statistik Auskunft geben: Welche Berufe in der Emigration am häufigsten vorkommen; welche Lebensalter; ob es unter den Christen mehr Katholiken oder mehr Protestanten gibt . . .
Unsere Statistik hat viele Rubriken; das Werk, welches ich plane, wird viele Kapitel haben. Die religiöse Opposition wird zu behandeln sein, und es ist darzustellen, wie der christliche Glaube, mit dem atavistischen Neuheidentum konfrontiert, in sich selber seine humanitären, sozialen, ja sozialistischen Elemente wieder-entdeckt, oder doch wieder-entdecken könnte.