James Joyce

Ulysses


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      Auf dem Bordstein vor dem Hause des Totengräbers Jimmy Geary sass brummend ein alter Landstreicher, leerte Schmutz und Steine aus seinem grossen, staubbraunen, gähnenden Stiefel. Nach des Lebens Reise.

      Dann zogen düstere Gärten vorbei, einer neben dem andern: düstere Häuser.

      Power zeigte mit dem Finger.

      «Da wurde Childs ermordet», sagte er. «Das letzte Haus.» «Ganz recht», sagte Dädalus. «Eine grausige Geschichte. Seymour Bushe kriegte ihn frei. Ermordete seinen Bruder. So wird wenigstens behauptet.»

      «Die Krone hatte keinen Zeugen», sagte Power.

      «Nur Indizien», sagte Martin Cunningham. «Das ist die Maxime des Gesetzes. Lieber sollen neunundneunzig Schuldige entwischen, als dass ein Unschuldiger zu Unrecht verurteilt wird!» Sie sahen hin. Mordhaus. Zog dunkel vorbei. Geschlossene Fensterläden, unbewohnt, wüster Garten. Der ganze Platz verflucht. Zu Unrecht verurteilt. Mord. Das Bild des Mörders im Auge des Ermordeten. Lesen so was gerne. Kopf des Mannes im Garten gefunden. Ihre Kleidung folgendermassen. Wie sie ums Leben kam. Vergewaltigung. Mordinstrument. Mörder ist noch frei. Anhaltspunkte. Ein Schuhriemen. Die Leiche soll ausgegraben werden. Es ist nichts so fein gesponnen.

      Kriegt den Krampf in dieser Kiste. Sie hat es vielleicht nicht gerne, dass ich so ohne mich anzumelden komme. Muss mit Weibern vorsichtig sein. Überrasch sie nur mal, wenn sie die Hosen runter haben. Verzeihen sie einem nie. Fünfzehn.

      Die hohen Gitter des Prospekts rieselten an ihrem Blick vorbei. Dunkle Pappeln, seltene weisse Gestalten. Gestalten häufiger, weisse Gestalten dicht gedrängt zwischen den Bäumen, weisse Gestalten und Torsen strömen stumm vorbei, leere Gebärden in der Luft formend.

      Die Felge schrammte gegen den Bordstein: hielten. Martin Cunningham streckte den Arm raus, drehte den Griff, schob die Türe mit dem Knie auf. Er stieg aus. Power und Dädalus folgten.

      Will jetzt die Seife in eine andere Tasche stecken. Blooms Hand knöpfte schnell die Hüfttasche auf und steckte die papierverpackte Seife in die innere Taschentuchtasche. Er stieg aus und steckte die Zeitung, die er immer noch in der andern Hand hielt, ein.

      Armseliges Begräbnis: Wagen und drei Kutschen. Macht nichts aus, Bahrtuchhalter, goldene Zügel, Totenmesse, Abfeuern einer Salve. Pomp des Todes. Hinter dem letzten Wagen stand ein Höker neben seinem Karren mit Obst und Kuchen. Zusammengeklebte Simnelkuchen: Kuchen für die Toten. Hundekuchen. Wer ass die? Leidtragende, die vom Kirchhof kamen.

      Er folgte seinen Gefährten. Dann kamen Kernan und Ned Lambert, Hynes ging hinter ihnen. Corny Kelleher stand neben dem geöffneten Leichenwagen und nahm die beiden Kränze heraus. Einen reichte er dem Knaben.

      Wo ist denn der Wagen mit der Kindsleiche geblieben?

      Müden und lahmen Schrittes kam ein Gespann Pferde von Finglas, zog durch die Begräbnisstille einen kreischenden Wagen, auf dem ein Granitblock lag. Der Fuhrmann, der voranging, zog den Hut.

      Jetzt der Sarg. War vor uns hier, wenn er auch tot ist. Pferd mit dem windschiefen Federbusch sieht zu ihm hin. Stierer Blick: Halsband zu eng, drückt auf ein Blutgefäss oder sonst was. Ob sie wohl wissen, was sie jeden Tag hier herausfahren? Täglich sicher zwanzig bis dreissig Beerdigungen. Dann nach Mount Jerome für die Protestanten. Überall in der Welt jede Minute Beerdigungen. Schaufeln sie schnell karrenweise unter die Erde. Tausende jede Stunde. Zu viele auf der Welt.

      Leidtragende kamen durch die Tore: Frau und ein Mädchen. Hohlkiefrige Harpye, harte Frau, mit der sicher nicht gut Kirschen essen ist. Hut sitzt schief. Des Mädchens Gesicht mit Schmutzflecken und Tränenspuren, fasst die Frau am Arm, sieht sie an, ob sie jetzt losheulen muss. Fischgesicht, blutleer und blass.

      Die Träger schulterten den Sarg und trugen ihn hinein durch die Tore. So viel totes Gewicht. Fühlte mich schwerer, als ich aus der Badewanne stieg. Erst die Leiche: dann die Freunde der Leiche. Corny Kelleher und der Knabe folgten mit ihren Kränzen. Wer ist das neben ihnen? Ah, der Schwager.

      Alle gingen hinterher.

      Martin Cunningham flüsterte:

      «Ich war in Todesängsten, als du in Blooms Gegenwart von Selbstmord sprachst.»

      «Wieso?» flüsterte Power. «Wieso denn?»

      «Sein Vater hat sich vergiftet», flüsterte Martin Cunningham. «Hatte das Queen’s Hotel in Ennis. Hörtest doch, dass er nach Clare wollte, Jahrestag.»

      «Ach, du lieber Gott», flüsterte Power. «Höre ich heute zum erstenmal. Hat sich vergiftet!»

      Er sah hinter sich, wo ein Gesicht mit dunklen, denkenden Augen in der Richtung auf das Mausoleum des Kardinals folgte. Sprach.

      «War er versichert?» fragte Bloom.

      «Ich glaube ja», antwortete Kernan, «aber die Police war hoch verpfändet. Martin versucht, den Jungen im Artane unterzubringen. »

      «Wieviel Kinder hinterlässt er?»

      «Fünf. Ned Lambert will, wie er sagt, versuchen, eins der Mädchen bei Todd unterzubringen.»

      «Zu traurig», sagte Bloom leise. «Fünf kleine Kinder.»

      «Ein schwerer Schlag für die arme Frau», fügte Kernan hinzu. «Ganz gewiss», stimmte Bloom bei.

      Kann sich freuen.

      Er sah auf die Stiefel herab, die er geschwärzt und gewichst hatte. Sie hatte ihn überlebt, ihren Gatten verloren. Für sie toter als für mich. Einer muss den andern überleben. Weise heute sagen. Es gibt mehr Frauen als Männer auf der Welt. Meine herzliche Teilnahme. Ihr schrecklicher Verlust. Hoffentlich folgen Sie ihm bald. Nur bei Hinduwitwen angebracht. Möchte vielleicht wieder heiraten. Ihn? Nein. Aber wer kann’s schliesslich wissen? Seit die alte Queen starb, ist Witwenschaft nicht mehr modern. Auf einer Lafette gezogen. Victoria und Albert. Trauerfeier in Frogmore. Aber schliesslich steckte sie ein paar Veilchen an ihren Hut. Im tiefsten Herzen eitel. Alles um einen Schatten. Prinzgemahl nicht einmal König. Ihr Sohn war das Wesentliche. Etwas Neues auf das sie hoffen konnte anders als die Vergangenheit, die sie wartend zurückwünschte. Die kommt nie wieder. Einer muss zuerst fort: allein, unter der Erde: und liegt nicht mehr in ihrem warmen Bett.

      «Wie geht es, Simon?» sagte Ned Lambert leise und drückte ihm die Hand. «Hab dich rasend lange nicht gesehen.» «Ausgezeichnet. Wie geht es allen in Corks gleichnamiger Stadt?»

      «Ostermontag war ich da zu den Cork Park Rennen», sagte Ned Lambert. «Immer derselbe Kohl. Wohnte bei Dick Tivy.» «Und wie geht’s dem alten Bruder?»

      «Nichts zwischen ihm und dem Himmel», antwortete Ned Lambert.

      «Beim heiligen Paul», sagte Dädalus mit unterdrückter Verwunderung. «Dick Tivy kahl?»

      «Martin will für die Kinder eine Sammlung veranstalten», sagte Ned Lambert und zeigte nach vorne. «Ein paar Shilling pro Schädel. Um sie über Wasser zu halten, bis die Sache mit der Versicherung ins reine gebracht ist.»

      «Ja, ja», sagte Dädalus unschlüssig. «Ist der da vorne der älteste Junge?»

      «Ja», sagte Ned Lambert, «neben dem Bruder der Frau. John Henry Menton steht dahinter. Er hat ein Pfund gezeichnet.» «Das glaub ich gerne», sagte Dädalus. «Ich hab dem armen Paddy oft genug gesagt, er sollte sich an ihn halten. John Henry ist wirklich nicht der Schlechteste.»

      «Wie verlor er die Stellung?» fragte Ned Lambert. «Suff, was?»

      «Tun viele andere brave Kerls auch», sagte Dädalus mit einem Seufzer.

      Sie blieben vor der Türe der Totenkapelle stehen. Bloom stand hinter dem Knaben mit dem Kranz, sah auf dessen glattes gekämmtes Haar und den dünnen furchigen Hals in dem funkelnagelneuen Kragen. Armer Junge! War er da, als der Vater? Beide bewusstlos. Im letzten Augenblick kehrt das Bewusstsein zurück, erkennen zum letztenmal. Was er noch alles erledigen möchte. Ich schulde O’Grady drei Shilling. Würde er verstehen?