Insgeheim kannte sie die Antwort auf diese Frage: Sie hatte es verdient, verhaftet zu werden. Für das, was sie auf Luna getan hatte. NATHAN mochte ihr vergeben haben; sie selbst jedoch nicht.
Ihr rationaler Verstand meldete sich und verwies die Schuldgefühle in ihre Schranken. Erst Fakten sammeln, dann Schlüsse ziehen! Das war die Reihenfolge, mit der sie als private Ermittlerin jahrelang Erfolg gehabt hatte, und an der schlichten Weisheit dieser Methode hatte sich seither nichts geändert.
Sie setzte sich auf. Mittlerweile hatte sie sich auf die Dunkelheit eingestellt und nahm mehr Details wahr. Der Raum war ebenso rund wie die Fenster. Die Wände waren minimal nach innen gewölbt. Es gab zwei Türen. Eine lag zwischen den Fenstern und führte wohl nach draußen. Die andere war leichter gebaut. Hinter ihr gab es möglicherweise einen weiteren Innenraum.
Sie stemmte sich auf die Beine. Dabei stieß ihr Knie gegen etwas – den Strahler, den NATHAN ihr gegeben hatte! Das sprach nun eindeutig dagegen, dass sie gefangen war. Ein Kerkermeister hätte keinen Grund gehabt, ihr die Waffe zu lassen. Sie aktivierte die Waffe, deren Statusleuchten etwas mehr Licht spendeten, als durch die Fenster kam.
Sie konnte ein paar weitere Fakten sammeln. Glitzernder Staub am Boden, dort verwirbelt, wo sie gelegen hatte. Der Raum war offensichtlich schon länger nicht mehr in Benutzung.
Zwei Schleifspuren von der Tür zu ihrem Lagerplatz, dazwischen Fußspuren, entweder von bloßen Füßen oder von weichen Schuhen ohne Profil. Jessica betrachtete ihre Stiefelabsätze. Erde und Kristallstaub an der Hinterkante. Jemand hatte sie von außen in diesen Raum hineingezogen und abgelegt. Wer? Warum?
Sie ging zum Fenster links neben der Tür und spähte vorsichtig hinaus. Ein großer Platz lag vor dem Gebäude, gesäumt von überwucherten, kuppelförmigen Gebäuden. Im Zentrum des Areals schillerte die schwarze Fläche eines Zeitbrunnens. Die Vermutung lag nahe, dass sie aus diesem Brunnen aufgetaucht war, nachdem etwas sie in das Gegenstück auf Luna gerissen hatte, als Hondro sie zum Angriff auf NATHAN gezwungen ...!
Hondro!
Nun erst fiel es ihr auf: Hondro war aus ihrem Kopf verschwunden. Die fremde Stimme, der Zwang – von alledem war nichts mehr zu spüren! Sie nahm einen tiefen Atemzug. Auch die Sporen beeinträchtigten ihre Lunge nicht mehr.
Sie blickte auf den Strahler in ihrer Hand. Ich könnte es beenden, hier und jetzt. Nie wieder meine Freiheit verlieren. Nie wieder Sklavin sein, nie wieder Gefangene in meinem eigenen Körper.
Der Kombistrahler war auf Thermofeuer eingestellt. Sie setzte die Mündung an die Schläfe. Von ihrem Kopf würde nur Asche übrig bleiben. Ein selbst gewähltes Ende, ein Fanal ihrer Freiheit und zugleich eine angemessene Strafe für das, was sie unter Hondros Einfluss getan hatte ...
Sie tragen keine Verantwortung für die zurückliegenden Ereignisse, klang NATHANS Stimme in ihren Gedanken nach. Wenn das stimmte – Es stimmt, insistierte ihr rationaler Verstand –, warf sie dann nicht ein Geschenk achtlos weg, das Geschenk ihrer Selbstbestimmung, nun und in Zukunft?
Oder war dies nur eine neue Gemeinheit von Hondro, um sie zu foltern? Entledigte er sich so eines Werkzeugs, das er nicht mehr brauchte? Sie hatte schon zuvor an Selbstmord gedacht, als ihr klar geworden war, dass sie andere Menschen für Hondro töten würde. Doch er hatte es ihr verboten. Ermunterte er sie nun subtil auf eine Weise, die ihr gar nicht bewusst war?
Nein. Er konnte es ihr einfach befehlen, und sie hätte keine Chance gehabt, sich zu widersetzen. Er hatte das schon einmal getan. Sie lebte nur noch, weil Perry Rhodans Söhne vor ihrem Selbstmordversuch eingegriffen hatten.
Die ungelösten Rätsel verbündeten sich mit ihrem Überlebensinstinkt. Sie hatte noch etwas zu tun: Sie musste herausfinden, wo sie war. Wie sie von diesem Ort wegkam. Und wie sie Iratio Hondro töten konnte, bevor sie wieder unter seine Kontrolle geriet.
Als Jessica Tekener den Strahler sinken ließ, bemerkte sie die Ladepegelanzeige des Energiemagazins: dreiundsiebzig Prozent. NATHAN hatte ihr die Waffe vollständig geladen übergeben. Der Strahler war also in der Zeit zwischen dem Brunnendurchgang und ihrem Aufwachen benutzt worden. Von wem und wofür?
Ein weiterer Eintrag auf der Liste der offenen Fragen, auf der sich Punkte fanden wie: Wohin in der Milchstraße hatte der Zeitbrunnen sie transportiert? Was war seitdem geschehen? Und: Was hatte der hiesige Architekt bloß gegen rechte Winkel?
Die halbkugelförmigen Bauten rund um den Platz draußen erklärten zumindest die seltsame Wölbung der Wände des Raums, in dem sie erwacht war. Sie beschloss, zunächst das Innere des Gebäudes weiter zu untersuchen, bevor sie hinaustrat. Sie konnte es für die Erkundung der Umgebung als Rückzugsort und Basislager benutzen. Außerdem wollte sie sicher sein, dass tatsächlich kein Feind darin verborgen war.
Vorsichtig und mit schussbereiter Waffe öffnete sie die Tür zum Nebenraum. Auch dort war niemand und alles verstaubt, insbesondere der hüfthohe und etwa einen halben Meter tiefe Sims, der auf rund vier Metern Länge an der Wand entlanglief, ähnlich einem Tresen. Darüber gähnten mehrere Fenster, durch die Jessica jedoch nur weitere, von hellen Schlingpflanzen überwucherte Kuppeln sah.
Interessanterweise prangten kopfgroße, schwarz glänzende Paneele zwischen diesen Fenstern. Eines davon zeigte einen Lichtreflex, als sie darauf zuging. Zuerst hielt sie es nur für die Spiegelung des Abstrahlfelds ihrer Waffe. Dann aber wiederholte sich das Aufblitzen, und sie begriff: Es war eine technische Einrichtung, und ihre Energieversorgung funktionierte!
Vorsichtig näherte sie sich, konnte jedoch nichts erkennen, was ihr Aufschluss über Zweck oder Bedienung des Geräts gegeben hätte. Sie zuckte mit den Schultern, dann berührte sie die Fläche. Was auch immer geschehen mochte, es war mit ziemlicher Sicherheit nicht so schlimm wie das, was hinter ihr lag.
Drei Sekunden lang passierte nichts, dann brüllte sie auf. Ihr Mund und ihre Zunge fühlten sich an, als hätte man ihr Schwefelsäure hineingekippt und gleichzeitig einen starken Stromschlag verabreicht. Es war nur ein Moment, aber der widerwärtige Nachgeschmack blieb – ganz zu schweigen von dem Schock über die völlig unerwartete Attacke.
Ein rechteckiger Abschnitt in dem Tresen vor ihr leuchtete auf. Jessica hörte ein Surren, dann zog sich das leuchtende Areal zurück wie eine horizontale Schiebetür.
Durch die Öffnung fuhren ein Teller und ein Glas mit einer klaren, farblosen Flüssigkeit nach oben. Auf dem Teller dufteten krosse Bratkartoffeln und zwei kleine, zart gegrillte Steaks neben etwas Krautsalat.
Sie war fassungslos. Ihr Leibgericht, oder zumindest eine ihrer Lieblingsspeisen. Sie überlegte, wann sie zuletzt überhaupt etwas gegessen hatte – vor der Attacke auf Luna jedenfalls, und sie wusste nicht, wie lange sie danach bewusstlos gewesen war. Sie war geradezu wahnwitzig hungrig, und dies ... Sie hatte nicht die Widerstandskraft für eine sorgfältige Untersuchung der Mahlzeit. Mit bloßen Fingern nahm sie eine Kartoffelscheibe und biss hinein. Sie knusperte zwischen den Zähnen, und der Geschmack war ein Gedicht. Sie fühlte sich mehr als entschädigt für die Säureattacke wenige Augenblicke zuvor.
Es war ein Scan, begriff sie nun. Die Maschine hat meine Physiologie und den Geschmackssinn analysiert sowie verträgliche und sogar schmackhafte Nahrung für mich synthetisiert. Und zwar auf einem Niveau, das jede terranische Robotkantine bei Weitem übertraf. Sie kostete von der Flüssigkeit. Es war herrliches, kaltes, klares Wasser. Etwas Schöneres hätte sie sich im Augenblick nicht wünschen können.
Mit bloßen Händen schaufelte Jessica das Essen in sich hinein und bestellte sich noch eine zweite Portion, die ihr dankenswerterweise ohne erneute Abtastung serviert wurde. Danach war sie satt und hatte ein gutes Stück innerer Ruhe und gedanklicher Klarheit zurückgewonnen.
Sie hatte ein Dach über dem Kopf. Sie war mit Nahrung versorgt. Alles, was sie zum Überleben brauchte, war erst mal gewährleistet. Wenn sie gewollt hätte, hätte sie dieses Gebäude vielleicht nie mehr verlassen müssen. Die Welt draußen einfach ignorieren, nie wieder irgendwohin gehen, wo Iratio Hondro von ihr Besitz ergreifen konnte ...
Sie lächelte, als dieser Gedanke sich ungebeten aufdrängte. Es lag nicht in der menschlichen