Und die lagen draußen.
Sie kehrte zurück in den Raum, in dem sie aufgewacht war, und öffnete die andere Tür. Einige Äste oder dünne Stämme waren dagegengelehnt, aber es war kein Problem, sich zwischen ihnen hindurchzuwinden. Wenn man sie damit gefangen halten wollte, wäre mehr Mühe nötig gewesen.
Dann sah sie einige spitze Äste vor der Schwelle, in flachem Winkel eilig in den Boden gerammt. Die Zacken wiesen nach außen. Wer auch immer diese Barrikade gebaut hatte, wollte nicht Jessica drin-, sondern etwas von ihr fernhalten. Wahrscheinlich wilde Tiere von mäßiger Intelligenz.
Sie suchte nach Hinweisen darauf, dass solche potenziellen Angreifer in der Nähe lauerten, da zog der Zeitbrunnen ihre Aufmerksamkeit auf sich: Seine Farbe veränderte sich. Er wurde heller und wieder dunkler ... Nein, das stimmte nicht. Er flackerte, verschwand kurzzeitig und gab den Blick auf den gelblichen Steinboden darunter frei. Dann war er wieder da, in seiner ganzen geheimnisvollen Schwärze, dann wieder fort ...
Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Der Zeitbrunnen war vielleicht ihre einzige Möglichkeit, diese Welt je wieder zu verlassen – und er löste sich vor ihren Augen auf! Im Reflex rannte sie darauf zu, hielt jedoch vor der Kante an. Was tat sie da? Sie hatte zwei Zeitbrunnentransfers überlebt. Bei beiden wusste sie nicht, warum. Die Passage durch einen Zeitbrunnen ist nur mit einem speziellen Schutz möglich, den ich Ihnen leider nicht bieten kann, hatte NATHAN gesagt.
Jessica Tekeners analytisches Misstrauen sezierte die Worte des Mondgehirns. Es gab also einen Schutz, auch wenn NATHAN ihn nicht selbst anbieten konnte. Seine weiteren Bemerkungen deuteten klar darauf hin, dass er sie bis zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt hingehalten hatte, um sie dann doch in den Brunnen zu stoßen. Da sie lebte, hatte jemand oder etwas sie in diesem Moment geschützt. Und NATHAN hatte davon gewusst.
Aber ob das nun immer noch der Fall war oder ob ein neuerliches Eintauchen in den Zeitbrunnen nur ein originellerer Suizid als der Kombistrahler wäre, wusste sie nicht. Das Risiko war ihr zu hoch. Frustriert sah sie zu, wie der Brunnen erlosch.
Immerhin erhielt sie dadurch ein paar Antworten auf andere Fragen. Die gelben Bodenplatten waren teils rußgeschwärzt, teils gesplittert, teils geschmolzen und wieder erstarrt. All das sah nach der Wirkung von Thermostrahlen aus. Vermutlich hatte also genau an dieser Stelle das Gefecht stattgefunden, das den Energiespeicher ihres Kombistrahlers teils entleert hatte. Jemand, der kein guter Schütze war, hatte auf bodennahe Ziele gefeuert.
Ein schrilles Geräusch hinter ihr ließ sie herumwirbeln.
»Kriiieh! Kriiieh!«
Tiere drängten von allen Seiten zwischen den Gebäuden hindurch auf den Platz: Riesenwürmer oder Raupen mit krabbenartigen Scheren und Schwänzen, die in hammergleiche Hornklumpen ausliefen. Sie waren schnell, vor allem aber waren es viele. Jessica riss ihren Strahler hoch und gab einen Warnschuss ab – doch davon ließen sich die Angreifer nicht abschrecken. Sie grillte die erste Scherenraupe erbarmungslos, doch auch das brachte den Vormarsch nicht zum Stehen.
Voller Entsetzen sah sie, dass die Viecher sich zwischen sie und ihre Zuflucht geschoben hatten. Sie feuerte, um sich einen Weg in die Sicherheit ihres Verstecks zu bahnen, und rannte los.
Ihre rasche Bewegung wirbelte Staub auf, glitzernde Kristalle, die beim Rennen tief in ihre Lunge gelangten. Das Zeug löste bei ihr irgendetwas aus. Ihr wurde schwindlig, ihre Schritte wurden unsicher. Die Welt verschwamm vor ihren Augen.
Nein!, schrie sie sich in Gedanken selbst an. Du musst klar bleiben! Nur ein paar Sekunden noch, dann bist du in Sicherheit!
Doch ihre Sinne ließen sich nichts befehlen. Sie sah ihr Ziel nicht mehr, nicht die Tiere mit ihren Scheren und Hämmern, die ihr den Weg dorthin verstellten. Stattdessen sah sie nur ein glitzerndes Wabern, und davor schälte sich eine Gestalt aus dem Nichts ...
Hondro! Also war er doch noch in ihrem Geist! Er hatte sie die ganze Zeit ...
Nein. Hondro löste sich auf, er zerlief zu einer schwarzen Pfütze, rund wie ein Zeitbrunnen. Daraus stieg ein blau leuchtendes Tetraederholo empor. Dessen Ecken und Kanten verzogen sich, beulten sich aus, bis sich ein blau leuchtender Würfel um seine Z-Achse drehte. Dieser verwandelte sich zum Oktaeder ...
NATHAN, begriff sie. Dass sie so lange gebraucht hatte, um sich zu erinnern, war ein schlechtes Zeichen. Das Zeug, das sie einatmete, tat ihr nicht gut.
Ein gewaltiger Schlag traf Jessica Tekener in den Rücken, so kräftig, das sie abhob und durch die Luft geschleudert wurde. Das war es, dachte sie benommen. Die Tiere. Sie haben mich.
Ihr Kopf prallte auf einen Boden, den ihre Augen nicht sahen, und NATHANS kühl-helles Blau wich letztlich doch einer schwarzen Lichtlosigkeit.
4.
Der schwarze Ritter preschte in vollem Galopp auf die Lichtung und brachte sein Pferd inmitten des erloschenen Zeitbrunnens zum Stehen, zwölf Schritte von Omar Hawk und seinen Begleitern entfernt. Trotz der schweren Rüstung gelang ihm ein leidlich eleganter Abstieg von seinem Reittier. Er verharrte kurz, sammelte sich, dann kam er mit entschlossenen Schritten näher.
Der Oxtorner spannte seine Muskeln. Wer wusste schon, was diese Erscheinung von ihnen wollte? Er war sicher, dass ihm das Langschwert des seltsamen Neuankömmlings nicht gefährlich werden konnte, ebenso wenig Watson. Bei Gucky und Sofgart sah das allerdings ganz anders aus.
Die Kampfbereitschaft erwies sich allerdings als überflüssig. Der Ritter griff keineswegs an, sondern ließ sich zu Hawks erneuter Überraschung ehrerbietig auf ein Knie nieder und senkte das Haupt. Zumindest ruckte der eimerartige, schwarze Helm mit dem schmalen Sichtschlitz ein Stück nach vorn und abwärts.
»Willkommen, Edle, auf Echo-TOOR.« Eine Männerstimme klang dumpf aus dem Helm hervor. »Es danken die Schwestern für Euren Beistand im Kampf um die Höhen. Mit Eurer Gabe werden sie die neun Heere zurücktreiben in die Finsternis.«
»Tag, ich bin Gucky«, sagte der Mausbiber. »Was erzählst du da?«
»Es ist Bestimmung!« Der Ritter klang geradezu emphatisch. »Um das Schwert Caliburn für die letzte Schlacht zu schärfen, müssen neun Tropfen den Wetzstein benetzen. Drei trägt der edle Herr bei sich.« Er neigte das Haupt noch etwas tiefer vor Hawk. »Ich nehme die Gabe in Demut entgegen und lobpreise Eure Ritterlichkeit.«
»Tropfen« war das Erste und bislang Einzige aus der schwülstigen Rede, mit dem Hawk etwas anfangen konnte. Der Ritter wollte also die drei mysteriösen Artefakte aus Sofgarts F'Atkor haben und ging fälschlicherweise davon aus, dass Hawk sie bei sich trug.
Leider war Sofgart zu exakt derselben Schlussfolgerung gelangt. »Kommt nicht infrage«, lehnte der Arkonide entschieden ab. »Die Tropfen bleiben bei mir!«
Hawk ärgerte sich stumm. Mit dieser unbedachten Äußerung hatte Sofgart, definitiv der Schwächste und Unerfahrenste aus ihrer Gruppe, sich gerade selbst zur Zielscheibe gemacht.
Dem Ritter war das natürlich nicht entgangen. Der Helm ruckte herum. »Verzeiht, Edler. Ich habe mich vom Schein blenden lassen. Wahre Macht und Ritterlichkeit blüht oft im Stillen, und manch schwacher Stamm trägt erstaunliche Last. Es ist meine Bestimmung, Euch davon zu erlösen.«
»Sie bleiben bei mir«, sagte Sofgart scharf. »Was weißt du über die Tropfen? Was willst du mit ihnen?«
Der Ritter blieb still, ohne den Blick von Sofgart zu wenden – zumindest wenn man das aus der Ausrichtung des Visiers schließen konnte. Seine Augen und der Rest des Gesichts blieben vollkommen dahinter verborgen.
Plötzlich lag eine unbehagliche Spannung in der Luft. Hawk hatte nicht das Gefühl, dass der mysteriöse Ritter Sofgarts Nein akzeptieren würde. Erneut richtete er sich auf einen Kampf ein.
Doch auch beim zweiten Mal erwies sich das als unnötig. Der Ritter stand auf, kehrte zu seinem Pferd zurück, schwang sich hinauf und galoppierte Richtung Südwest von dannen.
»Das – war – seltsam«, stellte Gucky gedehnt und völlig zutreffend fest. »Kann mir