ließ die Bärin ihre Kinder trinken. Dann erhob sie sich ungeduldig. Sie hatte selbst Hunger. Mit ziemlicher Eile verließ sie den Unterschlupf und verdrückte Unmengen taufrisches Grün. Zeternd stiegen die Nebelkrähen auf. Und der Fuchs flüchtete in den Wald.
Aufmerksam sah Barro seiner Mutter zu. Für Grünzeug interessierte er sich noch nicht, auch nicht für summende Insekten. Aber als die Bärin mit der Tatze einen Stein umwendete und die darunter wuselnden Ameisen ableckte, tappte er neugierig näher. Er wollte wissen, was seine Mutter so genießerisch schleckte. Aber er sah nur den Stein; von den Ameisen war schon nichts mehr zu sehen.
Mit einemmal hob die Bärin schnüffelnd ihre Nase. Sie hatte offenbar etwas gewittert. Zielsicher stapfte sie auf einen hohlen Baumstumpf zu. Barro tappte mit Burri direkt hinter ihr. Und je näher sie herankamen, desto lauter erhob sich ein merkwürdiges Summen.
Ohne Zögern grub die Bärin ihre Pfoten in den Baumstumpf, fetzte das morsche Holz auseinander. Splitter flogen umher. Und dazwischen flog noch anderes. Und das summte und surrte und setzte sich überall hin.
Barro spürte einen schmerzhaften Stich in der Nase. Und dann noch einen, immer mehr. Verzweifelt versuchte er, die Bienen abzuwehren, schüttelte wie wild seinen Kopf und fuchtelte mit den Pfoten. Doch die Bienen zerstachen jeden Fleck, den sie erreichen konnten.
Nun bohrte die Bärin ihre Schnauze in das Holz, schmatzte und schleckte. Und als sie wieder auftauchte, glänzte ihre Schnauze, klebte ihr Gesicht von Honig. Das roch gut und süß, unheimlich süß. Barro schnupperte gierig. Und er leckte mit seiner kleinen Zunge, leckte das duftend verklebte Fell seiner Mutter. Burri leckte ungestüm von der anderen Seite. Und das schmeckte, schmeckte so gut, daß sie darüber die Stiche vergaßen.
Erst als in dem Baumstumpf nichts mehr zu holen war und die drei vor den wütenden Bienen flüchteten, spürte Barro den Schmerz: in seiner Nase, seinen Ohren und auf seiner Zunge. Doch immer wieder versuchte er, noch einen Honigrest aus dem Pelz seiner Mutter zu schlecken.
Wäßriger Spiegel
Es dauerte ein paar Tage, bis Barro von den Stichen nichts mehr merkte. Nur seine Nase war noch ein wenig geschwollen. Und manchmal juckte sie noch. Seine Nase hatte die meisten Stiche abbekommen. Doch die kühlte er geschickt im frischen Wasser des Baches. Das hatte er seiner Mutter abgeguckt. Und das half.
Inzwischen waren die drei Bären weiter den Bach hinabgezogen. Hier in der tieferen Bergregion änderte sich die Landschaft. Kiefern mischten sich unter urige Fichtenwälder. Und Weiden und Birken schimmerten in hellem Grün.
Barro fühlte sich ganz wohl hier, tobte mit Burri verspielt am Bachufer entlang und platschte spritzend durch das flache Wasser. Burri aber schien das weniger zu gefallen. Sie mochte die Spritzerei nicht. Und als Barro nicht damit aufhörte, jagte sie ihn und schnappte unwirsch nach seinem Ohr. Barro stieß ihr seine Tatze vor den Bauch. Burri fauchte und lief davon. Und Barro rannte brummelnd hinter ihr her.
Plötzlich stutzte er. Der Bach wurde mit einemmal unheimlich breit, dehnte sich aus zu einer weiten glitzernden Fläche. Auch Burri verharrte wie angewurzelt. Die beiden standen an einem Waldsee, einem stillen tiefen See von unwahrscheinlicher Klarheit. So viel Wasser hatten sie noch nie gesehen. Beunruhigt blickten sie sich nach ihrer Mutter um.
Doch die Bärin hatte es nicht eilig. Sie kannte den See. Und sie sah ihre Kinder. Gemächlich stapfte sie durch ein sumpfiges Wiesenstück, schnupperte an Wollgras und Trollblumen und fing geschickt einen Frosch. Das wirkte beruhigend auf die Kleinen. Es drohte offenbar keine Gefahr.
Barro wurde neugierig. Plätschernd fließendes Wasser kannte er ja, dieses Wasser hier aber war völlig still und glatt. Kein Windhauch kräuselte die schimmernde Oberfläche. Und Barro beugte sich vorsichtig darüber, um seine wieder einmal juckende Nase zu kühlen.
Mitten in der Bewegung zögerte er. Aus dem Wasser heraus blickte ihn jemand an: ein kleiner fremder Bär. Und je tiefer er sich hinabbeugte, desto mehr kam ihm der fremde Bär entgegen, bis ihre Nasen sich beinahe berührten. Der fremde kleine Bär machte ihm alles nach. Barro schnupperte aufgeregt. Doch der Bär roch gar nicht wie ein Bär, der roch überhaupt nicht. Und das verwirrte Barro.
Unwirsch holte er aus und schlug seine Tatze auf die fremde Nase. Aber da war keine Nase, nur Wasser, das Barro um die Ohren spritzte. Und der fremde Bär war weg. Das verwirrte Barro noch mehr. Suchend blickte er sich um. Doch nur Burri stand ein Stück neben ihm. Und sie fauchte ärgerlich, weil sie ein paar Spritzer abbekommen hatte.
Nun hatte Barro endgültig genug. Von Spiegelbildern wußte er nichts, auch nichts von spiegelnden Wasserflächen. Er spürte nur seine juckende Nase. Ungestüm tauchte er seinen Kopf in die von seinem Tatzenschlag noch leicht bewegten Wellen. Und er fand es sehr beruhigend, daß der fremde kleine Bär nicht wiederkam.
Die Bärin schien sich für den See nicht zu interessieren. Sie wußte, daß hier nicht mehr viel zu holen war. Der stille See wirkte wie tot. Und das war er auch, jedenfalls beinahe. Doch das konnte die Bärin nicht wissen. Seine Klarheit zeigte seine Krankheit. Schwefelsäurehaltiger Regen hatte den See vergiftet, Schwefel aus unzähligen Fabrikschornsteinen hatte fast alles Leben ausgelöscht. Je klarer der See, desto saurer war das Wasser. Die Fische, Krebse und Amphibien waren verschwunden, bis auf ein paar Barsche und Hechte. Und mit ihnen verschwanden die Fischadler und die Otter. Was blieb, war ein tiefklarer, todkranker See.
Gemächlich stapfte die Bärin weiter. Barro vergaß den fremden kleinen Bären im Wasser und folgte seiner Mutter. Burri trottete hinter den beiden her.
Am jenseitigen Seeufer äste ein Elch in einer sumpfigen Bucht. Doch er stand weit weg und wirkte winzig klein. Und als die drei Bären in den Wald eindrangen, hörten sie von einer fernen Straße dumpf verklingenden Motorenlärm.
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