Robert Heymann

Jeder Mann liebt Ursula


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Man hatte damals viel von dem Verbrechen gesprochen, daß er begangen hatte, denn in dem Hause Ussis war er ja noch immer bekannt. Ussi hatte nicht so recht verstanden, was er getan hatte, sie hörte nur: Sittlichkeitsverbrechen, ohne eine rechte Vorstellung damit zu verbinden. Nur Grauen empfand sie. Dann vergaß sie ihn. Bis sie eines Tages Vater aus der Kneipe holte — wen sah sie an Vaters Tisch? Stemmerkarl. Wieder begrüßte er sie mit seiner schleimigen Freundlichkeit. Sie machte, daß sie fortkam. Schließlich fiel sein Name nur noch einmal, als der Bruder erzählte, Stemmerkarl habe im Norden einen Bouillonkeller aufgemacht.

      „Geh weg“, sagte Ussi. „Ich kenn dich nicht! Das ist lange her, und im übrigen sind Sie mir reichlich unsympathisch!“

      Die Freunde am Nebentisch brüllten vor Lachen.

      „Mensch, Stemmerkarl,“ riefen sie durcheinander, „da schlag doch einer lang hin ... setz den Leierkastenmann raus, die kann auch anders ...“

      Stemmerkarl schaute Peter unschlüssig an. Auf Peter hatte er keinen Haß. Aber das Mädchen sollte ihn hier nicht umsonst blamiert haben.

      Ohne zu fragen, packte er ihre Hand. Die verschwand in der seinen wie ein kleiner Vogel, und schon zog er Ussi halb über den Tisch.

      Ussi schrie kurz auf, ihre Augen wurden ganz groß, hilflos, der Schrecken schrie aus ihnen, ein blinder Schrecken vor tausendfachem, nicht gewolltem Schicksal, das andere Mädchen ereilt hatte.

      „Mensch, Ussi“, sagte Stemmerkarl, „nich so jroßartig, vastehste?“

      Er verstummte. Ein heftiger Schlag hatte ihm die Zähne in die Lippen gestoßen.

      Peter hatte von der Seite her zugeschlagen. Stand da und schlug ihm zum zweitenmal die Faust in die Fresse, daß es nur so knallte. Schrie unverständliche Worte dabei und schlug immer weiter, seitwärts an der Wand stehend, bis dem Stemmerkarl das Blut aus dem Mund lief und er rot sah.

      Da schlug er zurück. Peter taumelte und sank vornüber auf den Tisch. „Noch eins,“ sagte Stemmerkarl, „dann stehste im Hemde!“ Er wollte Peter den Rest geben, aber da entstand Tumult im Lokal. Die Freunde warfen sich auf ihn. Ussi hatte einen Schreikampf bekommen und war dem Kerl mit ihren zehn Fingern ins Gesicht gefahren. Beinahe hätte sie ihm ein Auge ausgekratzt. Die Wirtin war von rückwärts gekommen und räumte mit ihren drallen Armen aus. Alles schrie und quirlte durcheinander, und plötzlich waren Ussi und Peter auf der Straße. Ussi hörte noch, wie einer sagte: „Det wird dir heimjezahlt, du Jammerlappen!“

      Sie sah den blutspuckenden Peter neben sich: wie sein Skelett aus dem armseligen Mantel wuchs. Das ist also Peter, der einmal so ein hübscher, eleganter Mann war, und der jetzt aussah wie ein ganz armer, armer Junge.

      „Die Sache war das Theater nicht wert“, murmelte sie.

      Peter schwankte. Sie schob ihren Arm unter den seinen und zog ihn mit sich fort. Auf ihrem Mantel waren blutige Spritzer, aber sie achtete nicht darauf.

      „Mach’ dir nichts daraus, Peter! Hörst du, Peter? Lieber Junge —“

      Peter war noch so benommen, daß er sich nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte. Der Kiefer schmerzte unerträglich. Wenn Stemmerkarl seinen Schwinger austeilte, ging jeder Gegner nieder. Peter hielt sich mit äußerster Energie aufrecht. Ihm war übel, alles drehte sich, aber neben ihm war Ussi, er hörte ihre süße Stimme, das war der reine Balsam.

      „Peterchen! Nimm dich zusammen! Wir treffen uns auch wieder. Hörst du? Wir treffen uns wieder!“

      Da wurden die grauen Augensterne in Peters hohlem Gesicht unter der gelblichen Stirn mit den eingefallenen Schläfen ganz groß.

      Ursula wischte mit dem parfümierten Taschentuch das Blut aus seinem Gesicht.

      „Regt dich denn die Geschichte noch immer so auf?“

      „Nein! Aber ich bin glücklich, Ussi. Die ganze Welt könnte ich umarmen. Wir treffen uns wieder? Wenn du etwas von mir willst, Ussi, du brauchst nur zu reden. Nur zu sagen brauchst du es. Ich springe in den Landwehrkanal und hol ein Goldstück herauf!“

      „Es gibt ja jetzt gar keine Goldstücke, du dummer Peter. Ich kann nicht mal eines reinwerfen!“

      „Ja, es ist dummes Zeug, was ich sage, aber meinen Kopf würde ich hergeben für dich ... weil ich dich lieb habe, Ussi! Nie habe ich dich vergessen ... und ... arbeiten werde ich wieder ... suchen werde ich die Arbeit ... und wenn ich sie vom Mond holen muß! — Hör’ doch, Ussi, wo willst du denn hin? Da drüben ist die U.-Bahn — wo treffen wir uns denn, Ussi? So warte doch! Wo wollen wir uns denn treffen? Wann? Morgen? Ja? Hast du morgen Zeit? Ich mache dir einen Vorschlag! Morgen in dem Kino Koppenstraße. Um neun Uhr warte ich. Ich mache mich auch wieder fein, Mädel, ganz wie ehedem, du brauchst dich nicht mit mir zu schämen! Du mußt nicht denken, daß ich so wie heute kommen werde!“

      Er war neben Ussi hergerannt. Nun redete er in den Wind. Wie graues Tuch lag es über dem Platz, es rieselte Feuchtigkeit. Zäh und undurchsichtig wie das ewige Unglück lastete die Nacht, noch trostloser war das Leben für die Menschen, die der Straße gehörten.

      Aber Peter war dieser Welt der Tatsachen entrückt. Er sah auf seinem Wege weder die Silhouetten der Dirnen, noch die Menschen, die in Hauseingängen lagen und schliefen. Einer im Stehen, andere hingekauert auf die Steinstufen.

      „Sie kommt“, sagte Peter immer wieder vor sich hin und reckte die Arme. Sie kommt! Aber plötzlich senkte sich ein schwarzer Schleier über sein Glück.

      Wer wird mir einen Anzug geben?

      So, im Mantel, kann er Ussi zum zweitenmal nicht treffen. Das steht fest. Er dachte nach. Ging die Freunde der Reihe nach durch. Wer hatte denn noch einen Anzug, der nach etwas aussah? In dem man ein anständiges Lokal betreten konnte? Das ist die Frage, die Peter beschäftigte, die ihn die ganze Nacht nicht zur Ruhe kommen ließ.

      2.

      Ursula saß in dem Wagen der U.-Bahn und fuhr nach Charlottenburg.

      Was hatte sie getan? Dem Peter ein Rendez-vous versprochen?

      Warum hatte sie das nur getan?

      Aus Mitleid ...

      So’n Quatsch! So ’ne hirnverbrannte Idee!

      Was wollte sie denn noch mit Peter?

      Hatte sie ihn jemals geliebt? O ja! Sie hatte ihn geliebt, und die Erinnerung an jene Zeit hatte ihre Kraft noch nicht verloren. Das war ihre schönste Zeit. Gedankenlos lebte man dem Heute, sie arbeitete damals in einem Kravattengeschäft als Lehrmädchen. Peter verdiente als Bankbeamter allerhand Geld, und die Sonntage gehörten ihnen. Das Leben war ja damals noch vor ihr, es war noch so weit bis zur vollen Verantwortung für alles, was man dachte, was man träumte. Sie hatte Peter lieb gehabt. Die echte, die große Liebe — die war es vielleicht gar nicht gewesen. Nein, die war es bestimmt nicht gewesen, sie hatte ihn bis zu dem heutigen Tage wahrhaftig vergessen. Vergessen war vielleicht zu viel gesagt. Sie hatte kaum mehr an ihn gedacht ... Warum hatte sie sich nun heute so weit mit ihm eingelassen? Was ist denn überhaupt geschehen? War sie verhext gewesen? Warum war sie mitgegangen? Sie senkte die Augen und betrachtete mit Mißbehagen die rostbraunen Flecken auf ihrem Mantel.

      Draußen stoben Lichter vorbei. Arbeiter im Schacht. Ussis Blick ging unruhig über die Menschen in dem Abteil hinweg. Ein gutgekleideter jüdischer Händler saß ihr gegenüber, einen großen Teppich zwischen die Beine geklemmt. Unruhig strich seine Hand über den pechschwarzen Bart, sein Blick war zeitfremd. König Salomo in der Untergrundbahn, dachte Ussi und verbiß ein Lachen. Der feiste Herr neben dem blassen König schaute Ussi an. Wie ein Wüstenscheich, für dessen Harem ich bestimmt bin. Ne, Dicker, nich’ in die Lamäng!

      Auch der Herr, der die Zigarettenspitze wie eine Fahnenstange im Munde hielt, fand keine Gnade vor Ussis kritischem Blick. Er las eine Illustrierte Zeitung, sein wuchtiges Kinn war vorgeschoben, ein kleines Ladenmädchen saß an seiner Seite, las ungeniert mit. Bei einer Kurve flog das schmächtige Ding an seine Schulter, er überschüttete sich das Knie mit Asche, die Kleine kroch in sich zusammen unter