Rebecca Michéle

Im Schatten der Vergeltung


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      Maureen atmete tief ein.

      »Verzeih, Philipp, aber ich kann euch nicht zu dem Fest begleiten.« Auch nach siebzehn Ehejahren gelang es Maureen immer wieder, ihren Mann zu überraschen. Sie sah seinen entgeisterten Blick und fühlte sich äußerst unbehaglich.

      »Was willst du damit sagen? Bist du plötzlich erkrankt?«

      »Ich fühle mich nicht in der Lage, mir das dumme und geistlose Geschwätz der Damen anzuhören.«

      »Maureen, das geht nicht!« Philipp packte sie an den Schultern und schüttelte sie. »Lady Esther verlässt sich auf dich. Du hast versprochen, den Verkaufsstand zu betreuen.«

      Maureen fiel wieder ein, welche Zusage sie der Nachbarin gemacht hatte. Trotzdem konnte sie unmöglich auf das Fest gehen und so tun, als wäre ihre Welt in Ordnung. Nicht, solange sie nicht wusste, was in dem Brief stand.

      »Philipp, ich habe eine Nachricht erhalten ...« Sie stockte, denn sie bemerkte, dass Philipp es wenig interessierte, was sie zu sagen hatte. Leise fuhr sie fort: »Von ... meiner Mutter.«

      Ihre Worte verfehlten nicht ihre Wirkung. Philipps eben noch rosiger Teint wurde blass. Maureen, die den Brief noch immer in der Hand hielt, strich vorsichtig über das Kuvert, als wäre es ein kostbarer Schatz.

      »Was schreibt sie?«, fragte Philipp knapp.

      »Ich ... ich habe den Brief noch nicht geöffnet.«

      Philipp nahm ihr den Umschlag aus der Hand und betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn.

      »Warum meldet sie sich nach so langer Zeit?«

      »Ich weiß es nicht. Der Brief kommt aus Edinburgh. Das wundert mich, meine Eltern haben die Stadt immer gehasst und wären niemals freiwillig dorthin gezogen.«

      »Es ist sehr viel Zeit vergangen, Maureen«, gab Philipp zu bedenken. »Wir sollten ihn öffnen.« Als er Anstalten machte, das Kuvert aufzureißen, nahm Maureen den Brief schnell wieder an sich.

      »Ich möchte das tun. Und ich will dabei allein sein.«

      »Aber Lady Esther …«

      Aufgeregt stieß Maureen hervor: »Lady Esther kann mir gestohlen bleiben. Ich halte hier eine Nachricht meiner Mutter in den Händen – die erste nach über siebzehn Jahren! Das ist ja wohl wichtiger als das alberne Gartenfest. Ich möchte den Brief in Ruhe lesen, und fürchte gleichzeitig den Inhalt. Alles andere ist mir gleichgültig. Kannst du das nicht verstehen?«

      Philipp schüttelte den Kopf, er war jetzt ebenfalls besorgt.

      »Es werden schlechte Nachrichten sein. Warum sonst sollte deine Mutter dir schreiben? Du lebst seit langer Zeit in Cornwall und hast mit deinen Eltern nicht das Geringste zu tun. Sie waren es schließlich, die den Kontakt abgebrochen haben. Wenn ich dir einen Rat geben darf: Wirf den Brief ins Feuer und lass die Vergangenheit ruhen! Du hast schließlich Jahre gebraucht, sie zu vergessen.«

      Maureen schüttelte so heftig den Kopf, dass sich die Locken unter dem Hut lösten und auf ihre Schultern fielen.

      »Ich habe niemals vergessen! Ein Teil von mir ist immer in Schottland geblieben.«

      »Du hast nie darüber gesprochen«, warf Philipp erstaunt ein. »Ich dachte immer, du möchtest weder an Schottland noch an deine Eltern erinnert werden.«

      Maureen lächelte, aber es war ein bitteres Lächeln.

      »Es gibt Situationen, mit denen man sich abfinden muss, weil man keine andere Wahl hat. Es wäre müßig gewesen, unentwegt über Begebenheiten nachzugrübeln, an denen ich nichts ändern kann. Als ich an deiner Seite Schottland verließ, haben mich meine Eltern verstoßen. Trotzdem habe ich immer an sie gedacht und mich gefragt, wie es ihnen geht und ob sie gesund sind.«

      Philipp sah seine Frau fest in die Augen.

      »Du weißt selbst, dass es besser für dich ist, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Mit Lady Esthers Hilfe bist du ein anerkanntes Mitglied der Gesellschaft geworden. Maureen, du bist keine Schottin mehr, sondern eine Engländerin, und dich verbindet nichts, aber auch gar nichts mehr mit deinen Eltern oder mit Schottland.«

      »Weil ich dazu gezwungen wurde, meine Herkunft zu verleugnen, all die Jahre hindurch, bis zum heutigen Tag«, erwiderte Maureen heftig, auf ihren Wangen bildeten sich hektische rote Flecken. »Ja, du und die göttliche Esther habt ganze Arbeit geleistet und alles Schottische in mir erstickt. Aus dem armen Mädchen, der Tochter eines Kutschers, musste eine Lady werden, die den Erwartungen deiner Nachbarn entspricht.« Sie presste beide Hände an die Schläfen und senkte den Kopf. »Und die ich niemals sein werde.«

      Maureen wusste nicht, warum sie das gesagt hatte. Sie hing doch an ihrem Leben in Trenance Cove. Sie, eine einfache Magd, war in die Welt des Adels aufgestiegen, was kaum jemandem aus ihrer Gesellschaftsschicht je gelang. Dabei war ihr dies niemals wichtig gewesen, sie wollte einzig und allein an der Seite des geliebten Mannes sein. Für ihn hatte sie sich bemüht, sämtliche Konventionen des Landadels zu lernen und nach ihnen zu leben. Nun holte der Brief ihrer Mutter all das, was sie seit Jahren unterdrückt hatte, mit Macht hervor, und Maureen besaß keine Kraft, die Erinnerungen länger zur Seite zu schieben oder gar zu ignorieren.

      »Du bist ungerecht, und das weißt du auch! Die hiesige Gesellschaft hätte niemals eine Schottin in ihren Reihen geduldet. Und die Reaktion meines Vaters wird dir ja wohl noch gut in Erinnerung sein. Nur mit knapper Not entging ich einer Enterbung.«

      Die Erinnerung an den Tag, als Philipp sie nach Trenance Cove gebracht hatte, war auch heute noch bitter. Den alten Sir Trenance traf beinahe der Schlag, als sein Sohn mit einer Ehefrau aus der Armee heimkehrte. Nicht nur die Tatsache, dass er es gewagt hatte, ohne väterliche Zustimmung zu heiraten, sondern dass die Auserwählte weder adliger Abstammung noch vermögend war, bewirkte bei Philipps Vater einen heftigen Wutausbruch. Er hatte sich sogar dazu hinreißen lassen, Philipp zu ohrfeigen. Als er dann noch erfahren musste, dass er Maureen in Schottland kennengelernt hatte, diesem kargen, dunklen Land, das von barbarischen Wilden und Aufständischen bevölkert war, drohte er, seinen einzigen Sohn auf der Stelle zu enterben. Keiner seiner Nachbarn hatte jemals Schottland besucht, keiner war durch das weite Hochland mit seinen zahlreichen Seen gewandert, hatte die Rudel von Rotwild erblickt, die geruhsam in der untergehenden Sonne äsen. Keiner hatte jemals den absoluten Frieden erlebt, der jeden, der einmal dort war, unweigerlich in seinen Bann zog.

      »Ich habe dich damals geliebt.« Maureens Stimme war nicht mehr als ein Wispern. »Ich habe alles für dich getan und mich immer bemüht, die Frau zu sein, die du an deiner Seite wolltest.«

      Dass Philipp von seinem Vater nicht enterbt und des Hauses verwiesen worden war, hatte er allein Esther Linnley und deren Einfluss zu verdanken. Die Nachbarin hatte Sir Trenance versprochen, binnen kurzer Zeit aus dem wilden, in ihren Augen unkultivierten Mädchen eine Lady zu machen. Zögernd stimmte er dem Vorschlag zu. Hinzu kam, dass Maureen bei ihrer Ankunft in Cornwall bereits schwanger war und den künftigen Erben von Trenance Cove unter ihrem Herzen trug. Dass sie dann nur einem Mädchen, Frederica, das Leben schenkte, brachte Maureen bei ihrem Schwiegervater nicht gerade Sympathien ein. Das Verhältnis zwischen Sir Trenance, seinem Sohn und Maureen blieb gespannt, und als der alte Herr zwei Jahre später starb, fühlte sich Maureen regelrecht befreit – obwohl sie sich für diesen Gedanken schämte.

      Philipp berührte sie leicht an der Wange.

      »Wir waren so schrecklich jung ...«

      Abrupt wandte Maureen ihm den Rücken zu und starrte aus dem Fenster.

      »Bitte, lass mich jetzt allein. Sag Lady Esther, ich sei plötzlich krank geworden. Ich bringe es heute nicht fertig, mich unter die fröhliche Gesellschaft zu mischen und Konversation zu betreiben.«

      »Sie wird sehr verärgert sein«, gab Philipp erneut zu bedenken, Maureen antwortete ihm jedoch nicht mehr. Mit einem Seufzer ließ er sie allein. Maureen hatte immer ihren eigenen Kopf gehabt, und genau das hatte ihn damals fasziniert. Er bewunderte ihr Temperament, ihre Art, jeden Tag mit einem Lachen zu beginnen und sich tapfer jeglichen Problemen zu stellen.