bitten die Herrschaften, an unserm bescheidenen Abendimbiss teilzunehmen, es ist eben angerichtet.“
Als Hans mit Nuscha auf der flotten Pinasse heimwärts fuhr, lag bereits der Hauch der aufsteigenden Nacht auf dem Wasser. Der Wind hatte sich gelegt, aber der Himmel blieb grau, trübe, regenschwer. Nur am Horizont glühte es in seltsamem Gegensatz purpurrot wie lohendes Feuer. Bis die Schatten sich tiefer senkten und mit ihren schwarzen Fittichen auch den schmalen, zitternden Lichtstreif deckten. Dort drüben aber lag die Flotte. Wie eine erleuchtete Stadt war sie anzusehen, mitten im Meer. Signale flogen von einem Schiff zum andern herüber, dann und wann prasselte eine Rakete zum nächtlichen Himmel empor.
Sie hatten die Pinasse verlassen und schritten die Südpromenade entlang ihrem Heime zu. Nuscha hatte wider ihre Gewohnheit eine lange Zeit geschwiegen, erst das Bild der erleuchteten Flotte hatte ihre Zunge gelöst. Nun sprach sie mit heller Begeisterung von den Erlebnissen des Nachmittags ... mit einem Male aber stockte sie, starrte mit grossen, glanzlosen Augen auf eine hochgewachsene männliche Gestalt, die, langsam und nach allen Seiten Umschau haltend, dicht vor ihnen ging, murmelte einige verwirrte Entschuldigungsworte und war verschwunden.
Hans hatte die Nacht schlecht geschlafen, allerlei wunderliche und drückende Träume hatten ihn gequält. Als er sehr spät zum Frühstück erschien, war der Esssaal leer und die Tische bereits zum grösseren Teil zum Mittagessen gedeckt. Draussen war wieder ein verhangener Himmel und eine kaltfeuchte Luft, die einem bis ins Innerste drang.
Als er in das Gesellschaftszimmer trat, fiel sein erster Blick auf Nuscha. Sie sass in der grünlichgrauen, pelzverbrämten Jacke an einem kleinen Tisch, mit einer Handarbeit beschäftigt. Ihr gegenüber, lässig an den Kamin gelehnt, stand ein hagerer, schmalschultriger Mann im schwarzen Überrock mit sehr langen Schössen. Sein Kopf war gross und spitz, sein Gesicht von gelblicher Farbe und sehr blasser Haut. Über der niedrigen Stirn lagen kurzgeschorene Haare von demselben bläulichen Schimmer, wie ihn auch der starke Knebelbart zeigte, der die Mitte des eckigen Kinns deckte.
Die beiden schienen im eifrigen Gespräch begriffen zu sein. Als er die Tür öffnete, sah er, wie der Mann mit einer gewissen Heftigkeit auf Nuscha einredete, die sich ihrerseits ruhig verhielt und so unentwegt auf ihre Handarbeit blickte, dass er nicht wusste, ob sie seinen Eintritt bemerkt hatte. Er grüsste sie, sie blickte auf und erwiderte seinen Gruss nicht unfreundlich, aber mit einer Förmlichkeit, die eine deutliche Zurückhaltung zeigte. Da sie keine Miene machte, ihn mit dem Herrn am Kamin bekannt zu machen, so sprach er sie nicht an, wie es erst in seiner Absicht gelegen, sondern begab sich an einen der am Fenster stehenden Schreibtische, um einen Brief an Fritz zu beginnen.
Aber er wurde bald gestört. Zwei Kinder im Alter von ungefähr vier bis sechs Jahren kamen in das Zimmer, stürzten auf Nuscha zu und begrüssten sie auf stürmisch zärtliche Art, während sie dem Herrn am Kamin in gemessener, beinah scheuer Weise und erst auf ihren Wink die Hand boten. Nun wandten sie sich wieder zu dem jungen Mädchen und erzählten alles mögliche, was sie gesehen und erlebt. Sie sprachen ein für ihr Alter vollendetes Französisch, und Nuscha antwortete ihnen ebenso. Bald darauf verliessen sie alle das Zimmer, und er sah sie von seinem Schreibtisch aus durch den Garten der Promenade zuschreiten.
„Baron Sopinecki, ein russischer Pole von Geburt, aber jetzt seit längerer Zeit schon in Petersburg ansässig,“ klärte ihn auf der Diele der würdige Besitzer des „Seestern“ auf, der in seinem goldgestickten Käppchen nach guter alter Art wie ein Vater in seinem grossen Hause waltete, sich um jeden Gast persönlich kümmerte und alle Mahlzeiten gemeinsam mit seinem zahlreichen Personal einnahm. „Ich kenne ihn nicht, er hat bis dahin immer im Kurhaus gewohnt und kommt zum erstenmal in den „Seestern“. Er traf gestern am späten Abend mit den beiden Kleinen auf dem Königsberger Dampfer ein, seine Frau ist noch im Bade, er erwartet sie aber in der nächsten Zeit.“
Auch in den kommenden Tagen nahm Nuscha dieselbe zurückhaltende Stellung ihm gegenüber ein, und er machte sie ihr nicht schwer. Manchmal war er ganz froh, jetzt wieder allein auf sich angewiesen zu sein. Dann aber kamen Stunden, wo sie ihm fehlte, mochte er sich’s auch nicht gern zugestehen.
Das junge französische Paar war, trotzdem das Tennisturnier längst beendet, zu seiner Erholung von den sportlichen Strapazen im „Seestern“ geblieben. Der eine der beiden Engländer schien gleichfalls die Absicht zu haben, mit seiner Schwester noch einige Zeit in dem behaglichen Hause zu weilen. Er sah sie nur bei den Mahlzeiten. Der Zugang an Menschen war wegen der unbeständigen Witterung geringer geworden, die Tafeln wurden kleiner.
Nur eine grössere befand sich noch im Saale; in ihrer Mitte sah er den hageren russischen Staatsrat, immer in einem langen schwarzen Überrock, meistens auch mit schwarzer Binde. Ihm gegenüber sass Nuscha, meist ebenfalls dunkel und mit beinah gesuchter Einfachheit gekleidet, zu ihren beiden Seiten die Kinder, denen sie das Essen zuteilte. Sie durften kein Wort reden, sich nicht einmal bewegen, das scharfe Auge des Vaters hielt sie in strengem Zaum. Dieser und Nuscha verständigten sich nur durch Blicke oder kurz hingeworfene Worte, meist in französischer, manchmal aber auch in russischer Sprache; dann verstand sie niemand. Nuscha aber hörte er sich öfter mit ihren Nachbarn, dem jungen Engländer und seiner blonden Schwester, unterhalten, die wohl auf ihren Wunsch jetzt zu ihr gesetzt waren. Auch ihnen diente sie in der Sprache ihres Landes, aber sie sprach sie nicht so geläufig wie die französische.
Endlich klärte sich das Wetter auf. Noch niemals in seinem Leben glaubte Hans ein so blaues Meer, einen so wolkenlosen Himmel gesehen zu haben. Voller Inbrunst sog er die balsamische Luft und wanderte seine altgeliebten Spaziergänge über die Strandpromenade oder hinein in den herrlichen Wald. Nuscha und ihren geheimnisvollen Begleiter traf er auch jetzt fast niemals draussen. Des Vormittags blieben sie zu Hause, sassen stundenlang in einem verborgenen Winkel des grossen Schreibsaals, lasen und schrieben Briefe, ohne miteinander zu sprechen. Nur einmal bemerkte er, dass sie dem Russen einen Brief überreichte, den sie gerade fertig gemacht, dass dieser ihn sehr eifrig durchlas, einige Verbesserungen in ihm machte, ihn ihr dann zurückgab, und dass sie nun längere Zeit miteinander leise verhandelten, wobei er ganz ruhig war, sie aber lebhaft, beinah leidenschaftlich auf ihn einsprach.
Bald nach dem Essen gingen sie aus dem „Seestern“, immer allein, nur selten sah man einen Fremden an ihrer Seite, dessen auffallende Kleidung die fremde Nationalität anzeigte. Sie kamen nie weiter als bis zum Kurhaus; aber auch dort sah man sie weder beim Konzert noch auf dem Stege. Einige wollten wissen, dass sie zu einem Klub vornehmer Russen gehörten, der sich in einem vorbehaltenen Zimmer zum Kaffee träfe, andre machten eine geheimnisvolle Miene und deuteten an, dass man dort verborgen Hasard spielte.
Es war an einem späten Abend, die Klänge der Kurkapelle waren eben verrauscht, Hans hatte ihnen von einem stillen Platz im Garten des „Seestern“ zugehört; er liebte die Musik, die aus der Ferne wie auf geheimnisvollen Schwingen herüberkam, die in der Nähe gab ihm weniger.
Er war auf sein Zimmer gegangen und wollte gerade die Laden schliessen, da sah er aus einer Wolke den Mond emporsteigen; es war nicht mehr seine volle Scheibe, er war bereits im Abnehmen. Aber sein Licht war stark und weithinleuchtend genug, das ganze Meer in seinen silbernen, bläulichen Dunst zu hüllen. Ein dünnes Gewölk zog über seine abgeplattete Scheibe, und durch sie blickte er nun hindurch, bald milchweiss, bald blassgrün schimmernd, webende Schleier über die stille Wasserfläche spinnend. Wie ein undurchdringliches Geheimnis lag die Welt da, voll stiller Ahnung und feiernder Grösse. In weichen Linien verschwimmend dehnte sich die Küste mit ihren vorspringenden Bergen, ihren tiefen, dunklen Buchten und dem Kranz der Wälder.
Es hielt ihn nicht auf seinem Zimmer, er tat den Mantel um, ging leise die Treppe herunter und trat ins Freie. Es wäre Sünde, diese Nacht zu verschlafen.
Freilich, er schien der einzige, dem ein so abenteuerlicher Gedanke gekommen. In tiefes Dunkel gehüllt lag das grosse Haus, nur in den Zimmern im ersten Stockwerk, die der Russe für sich und seine Begleitung gewählt, sah er durch die Spalten der festgeschlossenen Fensterladen Licht schimmern. Er erbat sich von dem Pförtner, der gerade die Kleider und Stiefel der Gäste auf der Diele zusammengestellt hatte, den Haustürschlüssel und begab sich auf die Wanderung, die Südpromenade herauf, über den Seesteg zur Nordpromenade, dann weiter an den einsamen Strand den Weg nach Adlershorst entlang. In einer