junges Mädchen der Steppe. Sie ist in meiner Erinnerung wieder aufgelebt, seitdem ich mit Ihnen zusammen bin.“
Wieder der schnell hinstreifende Blick.
„Er war sehr traurig?“
„Ja.“
„Wie das Leben — nein, heute nicht, heute ist es schön und voller Kraft wie der Sturm da draussen. Ich bin satt, wir können wieder ins Freie.“
Er bezahlte, sie liess es als selbstverständlich geschehen und dankte auch nicht.
Der Sturm war zu einer Stärke gelangt, wie er hier an der Küste nur selten ist, besonders im Anfang Juli. Mit langatmigen Stössen kam die See gegen das Ufer gedonnert, jagte die wirbelnden Wogen vor sich hin wie eine Meute losgelassener Hunde, peitschte sie gegen die Pfähle der kleinen Badeanstalt. Und wenn sich ihre weissen Gischtköpfe an ihnen zerschlugen, dann brüllte sie, durch den Widerstand gereizt, wie ein wildes Tier zum Himmel empor, der jetzt dumpf und bleiern ohne jeden Durchblick des Lichts, ja fast ohne eine Schattierung über den erregten Wassern hing.
Sie waren auf den Seesteg getreten. Blaugrün, wie gekocht, rollte das Wasser unter ihnen dahin, reckte sich mit aufschwellendem Kamme zu ihnen empor, taumelte zurück in die Tiefe in donnerndem Zusammensturz — ein Schauspiel von unbeschreiblicher Erhabenheit, auf das stumm und starr die Hügelkette rings am Ufer herabsah.
Gebannt stand Hans. Auch seine Begleiterin wandte keinen Blick von den entfesselten Elementen; den Kragen der pelzverbrämten Jacke hatte sie hochgezogen, ihre Hand hielt ihn fest umschlossen, den Filzhut hatte sie dicht in die Stirn gedrückt, unter ihnen leuchteten die frischen Wangen. Mit einem Male wandte sie sich um.
„Es ist etwas in der Luft um uns,“ sagte sie mit einer Stimme, deren ernster Ton ihr wunderbar anstand, „etwas Grosses, Unheilschwangeres. Und wissen Sie auch, was das ist? Das ist der Krieg!“
Eine lange Weile sprachen sie kein Wort, auch dann nicht, als sie vom Stege fort hinter dem Kurhause aufwärts den steilen, mit rohen Steinen gepflasterten Weg emporstiegen, der anfangs zwischen niedrigen Häusern mit schmucken, blühenden Vorgärten, später durch einen kleinen, jedoch dichten und dunklen Wald zur Höhe der Klippe hinaufführte.
Die regenschweren Wolken hatten sich ganz tief gesenkt. Bald lagerten sie sich mit drückender Wucht auf die Hügel und Berge, bald setzten sie sich wie eine Kappe aus Gaze auf die Häupter der beiden Vorgebirge, die unmittelbar vor ihnen ins Meer hinausragten.
„Es ist hier beinah wie im Gebirge, wenn man endlich einen Höhepunkt mit Mühe erreicht hat und nichts sieht,“ sagte sie mit dem Missmut eines Kindes, dem man ein Vergnügen, auf das es sich lange gefreut, eigenwillig zerstört. „Aber“, suchte sie sich nach ihrer Art zu trösten, „es ist ja überall so. Wir sehen nie ohne Schleier, im ganzen Leben nicht ... ich Sie nicht und Sie mich nicht. Was wissen wir beide voneinander? Und wenn wir einen ganzen Sommer hindurch solch eine Wanderung zusammen machten, würden wir uns deshalb näherkommen?“
„Sieh,“ dachte er bei sich selbst, „sie ist so ungeistig gar nicht, wie du meintest, sie philosophiert auf ihre eigne Art, und was sie da eben sagte, klang gar nicht so ungescheit.“ Laut aber erwiderte er: „Sie haben recht. Wir wissen nichts vom andern und am wenigsten von uns selber. Die Nähe entfernt, die Ferne bringt nahe, das ist das wunderbare Gesetz des Lebens, das wir nie erforschen werden, und würde uns das Alter des Meeres oder der ewigen Berge.“
Aber nun war sie schon nicht mehr bei der Sache.
„Es wird kalt hier oben,“ sagte sie, indem sie mit den festen Schuhen den Fussboden klopfte, „und Sie hängen Ihren Gedanken nach und kümmern sich keinen Augenblick darum, wenn ich armes Kind hier neben Ihnen erfriere. Wir wollen uns drinnen im Walde ein schützendes Plätzchen suchen, dann können Sie meinetwegen weiterphilosophieren. Obwohl ich lieber etwas Lustiges von Ihnen hörte — ich glaube, Sie können gar nicht lustig sein.“
Sie hatten den gewünschten Ruheplatz gefunden: eine kleine moosbewachsene Erhöhung unter einer niedrigen Buche, deren Zweige hinter ihnen zuschlugen wie eine Tür.
„Und nun kommen Sie und wärmen mich ein bisschen mit Ihrem grossen Lodenmantel!“
Sie rückte dicht an ihn heran, nahm die eine Hälfte seines Mantels, schlug sie um ihre Schulter und kauerte jetzt, mit den Zähnen vielleicht mehr absichtlich als unwillkürlich klappernd, an seiner Seite. Er fühlte den warmen Strom ihres Blutes, der belebend zu ihm herüberfloss; nie hatte er sich einem weiblichen Körper so nahe gefühlt.
Über ihnen sang der Sturm sein Lied in den Ästen der Bäume. Von unten her aber drang die Brandung des Meeres zu ihnen empor wie Orgelton in den tiefsten Registern. Von den nahen Feldern trug der starke Lustzug den Duft der Roggenblüte, der sich mit dem feuchten Moos- und Erdgeruch einte.
Immer noch sass sie dicht an ihn geschmiegt. „Ihr Deutschen seid alles: klug und denkend und auch gut, ja sehr gut. Aber galant seid ihr nicht, es ist euch nicht gegeben; die feine, sanfte Zärtlichkeit der Franzosen kennt ihr nicht, die man haben kann, ohne etwas Böses zu denken und zu wollen, und die doch wohltut, besonders wenn man friert — wie ich jetzt.“
Ihre Hand suchte unter dem dichten Mantel die seine, eiskalt lag sie zwischen seinen Fingern. Heiss stieg es in seinem Inneren auf ... mit einem Male sprang sie empor, ganz schnell und unvermittelt: „Nach Hause!“ rief sie mit gepresster, geängstigter Stimme. „Die Sonne geht schon unter, es wird Nacht, bevor wir im ‚Seestern‘ sind.“
Sie wählte nicht den gutangelegten Weg, den sie heraufgegangen waren, steil im Zickzack durch Baum und Busch stürzte, sprang sie den Abhang mit einer Behendigkeit herunter, dass er ihr nicht zu folgen vermochte. Als wäre eine Rotte von Verfolgern hinter ihr her, so gehetzt lief sie. Aber mit einer Sicherheit zugleich, die jedem kleinen Hindernis, jeder Baumwurzel und jedem Stein unfehlbar aus dem Wege ging. Endlich hielt sie in ihrem wilden Lauf an, setzte sich, an einer scharfen Biegung des Pfades angelangt, einige Meter über dem Meer auf einen Felsblock und winkte ihm, der weit oberhalb von ihr war, mit der Hand zu. Nun wartete sie ruhig, obwohl es eine kleine Weile währte, bis er in ihre Nähe gelangt war.
„Warum stürzten Sie den Berg wie eine Besessene herunter? Und warum wählten Sie nicht den Pfad, den alle Menschen gehen?“ fragte er halb unwillig, halb scherzend.
„Weil es mit einem Male über mich kam!“ erwiderte sie lachend.
„Über Sie kam?“
„Sie sagten es ja eben selber: das Besessene. Mein Blut muss dann eine Ablenkung haben, sonst wird es rebellisch. Nein, sehen Sie mich nicht so erschreckt an, jetzt ist es wieder ganz ruhig und vernünftig ... Stützen Sie mich, bitte, wenigstens bei diesem kurzen Abstieg hier! Ich glaube, ich habe mir den Fuss verletzt. Aber es ist nicht der Rede wert.“
„Sehen Sie, die Strafe für Ihren Leichtsinn! Diese ungeebneten Wege steil die Klippe herab sind, wenn man sie nicht genau kennt, gar nicht so ungefährlich, besonders in solchem Sprungschritt nicht.“
Ein kurzer, flimmernder Blick zwischen den dichten, seidenen Wimpern: „Ich habe in meinem Leben ganz andre Wege gemacht, die ich noch weniger kannte, und die ein gut Teil gefährlicher waren.“
„Ja, Sie erzählten vorhin. Sie waren viel in der Schweiz. Sie sind Hochtouristin?“
Sie lächelte, ihr graziöses überlegenes Lächeln. „Ach nein, das meinte ich nicht.“
Und nun, das Antlitz ihm nur halb zugewandt: „Wissen Sie, dass es Menschen gibt, jenen Tieren ähnlich, die im Dunkeln besser sehen und sich bewegen als im Hellen? Menschen, die nur deshalb nie fallen und straucheln, weil sie eine Gefahr nicht kennen?“
Er verstand ihre Frage nicht. War es ein Scherz oder —? Aber schon flog wieder ein stilles Lächeln um den scharfgeschnittenen Mund: „Ich muss an unsre philosophische Unterhaltung denken, da vorhin auf der Klippe: dass kein Mensch eine Ahnung von dem andern habe, und gingen sie noch so dicht nebeneinander her. Und ist es nicht gut so? Wenn einer den andern kennte, auch nur das Geringste von dem ahnte, was in ihm vorginge — wie furchtbar wäre das Leben! Sehen Sie, Pastor, wenn