geführt wurde.
Plötzlich machten die beiden kehrt und standen ihm gegenüber.
„Da finde ich ja die beste Begleitung!“ sagte das junge Mädchen! „Monsieur Guerard muss nämlich nach Zoppot zurück, er will seine Gattin vom Bahnhof abholen, und ich wäre noch gerne ein Stück weitergegangen, denn hier fängt es erst an schön zu werden. Nicht wahr, Sie nehmen mich mit, Herr Pastor? Auf Wiedersehen heute abend, Monsieur! Wenn Sie dann für mich noch Zeit haben.“
„Ich dachte gar nicht, dass Herr Guerard verheiratet wäre,“ äusserte Hans, nachdem sich jener entfernt hatte. Es gab zwar nichts auf der Welt, was ihm gleichgültiger gewesen wäre, als das Verheiratetsein oder Nichtverheiratetsein des Franzosen, aber er wollte doch irgend etwas sagen.
„Er ist es erst seit kurzer Zeit, seine Frau soll ein entzückendes Geschöpf sein. Sie kommen wegen der Tenniswoche nach Zoppot und wollen sich jetzt noch tüchtig einspielen ... aber man kann in diesem Wogengetose ja sein eignes Wort nicht verstehen. Ich meine, wir setzen den Weg auf der Höhe fort.“
Nun gingen sie auf der mit jungem Nadelholz bepflanzten Düne, oberhalb des Meeres, das jetzt weit unter ihnen lag. Sie trug wieder den grünen Filzhut, in dem er sie zum erstenmal gesehen, den dunklen Tuchrock hatte sie hochgerafft, und um ihr Gesicht war ein dichter Schleier gezogen, der es gegen den Sturm schützen sollte. Aber hier oben mitten in der Tannenschonung war es ruhiger, sie konnten ohne Mühe sprechen.
„Jetzt sind wir schon zum drittenmal zusammen, und ich weiss wenig, doch einiges von Ihnen. Sie aber von mir gar nichts. Sie gestatten mir also, Ihnen meine Personalien zu geben: Nuscha Löwing, 24 Jahre alt, gebürtig aus einem kleinen Ort hart an der russischen Grenze, wo, wie ich Ihnen wohl schon erzählte, meine Mutter heute noch lebt. Ich hingegen bin viel in der Welt herumgekommen, war Erzieherin in England und Frankreich und bin augenblicklich in derselben Stellung bei einem höheren russischen Beamten in Petersburg. Wenn Sie noch mehr wissen wollen, müssen Sie fragen. Freilich, ob ich Ihnen alles sagen werde, weiss ich nicht.“
Er fragte nichts. Er war auf diese Art der Unterhaltung wenig eingeübt. Zudem war der Weg hier dicht am Rande der Düne ganz eng, so dass sie nur hintereinander gehen konnten. Sie passte den schnellen, kräftigen Schritt dem seinen an und erzählte weiter: von ihrem Vater, der, ursprünglich ein reicher Fabrikbesitzer, durch eine unglückliche Spekulation sein ganzes Vermögen verloren und sich dies so zu Gemüte gezogen, dass er sich eines Tags das Leben genommen. Wie sie nun mit der Mutter und einer grossen Anzahl jüngerer Geschwister allein geblieben wäre, wie sie ihre Lehrerinnenprüfung gemacht und mit ihrem Gehalt, das sie bei freier Verpflegung nach Hause schicken konnte, für die Ihrigen sorgte. Nur weil er sie so gut bezahlte, wäre sie dann zu dem russischen Baron gegangen. Seit drei Jahren schon wäre sie dort. Im Winter lebten sie in Petersburg, im Sommer nähme der Baron einen langen Urlaub, dann reisten sie in das Hochgebirge, in die Schweiz oder nach Tirol. Aber am liebsten wäre sie in Zoppot.
Er musste aufmerken, wollte er ihre Worte verstehen. Denn der Wind war, nachdem sie die Schonung verlassen, stärker geworden und blies hier auf der freien Höhe mit vollen Backen. Zudem glaubte er aufs neue zu beobachten, was ihm bereits während ihrer ersten Unterhaltung damals im Gesellschaftszimmer des „Seestern“ aufgefallen war, dass ein leiser fremdländischer Ton in ihrer Sprache war.
Die Baronin hätte in diesem Sommer nach Tarasp gehen müssen, aber „er“ — sie brauchte immer diese kurze Bezeichnung, wenn sie von ihrem Brotherrn sprach — wollte mit den beiden Kindern nach Zoppot kommen. Sie wäre vorausgereist, um alles einzurichten. Nun könnte sie ihn jeden Tag erwarten, dann hätte ihre schöne Freiheit ein Ende. Um so mehr wollte sie sie jetzt noch geniessen.
Eine kurze Strecke führte der Weg wieder hart am Strand entlang. Die starke Brandung und der Wind, der ihnen entgegen war, machten ihn schwierig, wenigstens für Hans, obwohl er ein guter Fussgänger war. Sie focht das widerstrebende Element nicht an. Als wäre sie ein Teil von ihm, so froh und unbekümmert schritt sie durch Sturm und Wogen, die über ihren Fuss dahinfluteten und sie bis an den Kopf bespritzten.
„So ist es schön! So liebe ich es!“ rief sie, als sie einen Augenblick am Vorsprung einer Kuppe haltmachten, denn die Wellen gingen hier, wo der Pfad ganz schmal wurde, so hoch, dass sie kaum vorwärtskonnten.
„Ich muss bekennen, dass mir ein wolkenloser Himmel und eine ruhig geglättete See lieber wären, augenblicklich wenigstens für unsern Spaziergang.“
„Nein,“ gab sie lebhaft zurück, „ein verhangener Himmel kann zur Verzweiflung bringen, aber der ewig blauende macht mich erst recht müde und traurig. So ist es das Rechte: immer wechselnd Licht und Finsternis! Immer das Ungewisse, das macht den Reiz des Lebens aus. Ein unablässliches Neigen und Steigen, just so wie an dieser Klippe. Nur keine sonnenstille Ruhe, immer Unruhe und Wagen und Gefahr — immer das Spielen um Leben und Tod!“
Sie brach ab, ganz plötzlich, und wie es schien, nicht ohne Absicht. Da kamen ihm ihre letzten Worte zum Bewusstsein.
„Immer in Gefahr?“ wiederholte er. „Und immer ein Spiel um Leben und Tod? Wissen Sie etwas davon in Ihrer Jugend und gesicherten Stellung?“
„Und ob ich etwas davon weiss! ... Doch kommen Sie, wir wollen jetzt hier wieder die Klippe empor, da oben führt ein wundervoller Weg durch eine kleine Waldung. Ich kenne sie von den früheren Jahren her und werde Sie führen.“
„Dann müssen wir wieder zurück. Hier führt kein Weg herauf.“
„Was brauchen wir Weg und Steg? Sie run wirklich manchmal so, als wenn Sie ein alter Herr wären ... vorwärts!“
Behend wie eine Gemse kletterte sie die steile Anhöhe empor, ab und zu fasste sie eins der zahlreichen Gestrüppe mit der Hand und liess sich von ihm emporziehen. Dabei sprach und scherzte sie, sich zu ihm zurückwendend, ohne Aufhören, obwohl er jetzt auch nicht eine Silbe vernahm. Alles war in ihr Bewegung: jede Muskel des geschmeidigen Körpers, das schwarze krause Haar, das der Wind zauste, und die kirschroten Lippen, von denen die Worte glatt und leicht wie Perlen fielen.
Nun schritten sie wieder auf ebenem, gepflegtem Wege durch Laub- und Nadelholz, zwischen den Bäumen hindurch sahen sie das schaumgekrönte Wasser, dumpftosend drang das Geprall der Wogen an ihr Ohr.
„Hier bin ich im vergangenen Jahr fast jeden Tag gegangen. Er arbeitete dann auf seiner Veranda, und die Kinder spielten am Strande.“
„Und seine Frau?“ fragte er nebenhin.
Sie streifte ihn mit einem schnellen Blick: „Die lag in ihrer Hängematte im Südpark und las Dostojewskys ‚Raskolnikow‘.“
Allmählich verlor sich der Wald und lichtete sich dann ganz. Nun gab es nur noch einzelne verknorrte und verkümmerte Stämme im dichten Dünensande.
Sie gingen am Rande eines Getreidefeldes mit kecken blauen und roten Eindringlingen, die sich wie träumende Müssiggänger auf den schlanken Stengeln wiegten. Mit starker Hand strich der Wind über die hohen Ähren, sie duckten sich und hoben sich wieder und rauschten wie die Wogen des Wassers. Unter den Wolken, die sich dunkler und dichter türmten, flog eine Schar von Raben dahin, dem Meer entgegen, und über ein Brachfeld, dem Horizont zu, zog ein Schäfer mit seiner Herde; das vielstimmige Blöken der Tiere einte sich mit dem aufgeregten Gekrächz der Raben. Laut bellte der Hund. Die ersten Häuser von Adlershorst wurden sichtbar.
„Nun werden wir erst ins Kurhaus gehen und eine Tasse Kaffee trinken,“ schlug sie vor, „und dann führe ich Sie durch das kleine uckige Dorf hoch oben auf die Spitze von Adlershorst. Dort haben wir den schönsten Blick der Welt.“
In dem grossen Saal des Kurhauses war es leer und ungemütlich, er fühlte sich wenig behaglich, sie aber löffelte die Schokolade, die sie sich bestellt hatte, mit sichtbarer Lust und vertilgte einen Berg von Kuchen dazu; ab und zu glitt die kleine Zungenspitze an die roten Lippen, um die Reste der Kuchenkrümel von ihnen zu tilgen. Eine gewisse Gier war in ihrer Art zu essen, nichts Feines, aber auch nichts Unappetitliches. Auch hier erschien sie, wie in allen Äusserungen ihres Wesens, das rechte Kind der Natur, das von der Kultur und Gesellschaft nur geradesoviel Firnis entliehen hatte,