Viktor Löwen

Die zwölf Jünger Jesu


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gebaut werde, durch den Kern der Jüngergemeinde, nämlich die Elf. Dieses Argument macht richtigerweise auf die Kontinuität zwischen der ersten und zweiten Aussendung des Zwölferkreises aufmerksam. Das ist aber kein Argument gegen das Wachstum der Jüngergemeinde während Jesu irdischen Wirkens. Zudem hat nicht der auferstandene, sondern der irdische Jesus die zwölf Jünger zur Gruppe versammelt, weswegen auch ein Jüngerwachstum abgesehen vom Zwölferkreis vorstellbar ist.

      2 Verhältnisbestimmung „Jünger“ – „Zwölf (Jünger)“ und Schlussfolgerungen

      Im Folgenden soll auf der Grundlage des Endtextes und unter Berücksichtigung der obigen semantischen Richtlinien (v.a. I,1.2.3.3) das Verhältnis zwischen den „Jüngern“ und den „Zwölf (Jüngern)“ bestimmt werden. Darauf aufbauend soll versucht werden, die Textstellen im MtEv zu identifizieren, in denen der Zwölferkreis vorkommt.

      2.1 Paradigmatische Relationen

      Man kann sowohl auf der Sprachsystemebene (auch „langue“ genannt) als auch auf der Sprachverwendungsebene (auch „parole“ genannt) die paradigmatischen Relationen von Wörtern bestimmen.1 Auf der Sprachsystemebene gibt es folgende Relationsarten zwischen zwei Wortbedeutungen (siehe folgende Skizze, in entsprechender Reihenfolge): „absolute Synonymie“ (Modell 1: 100 % Überschneidung),2 „teilweise Synonymie“ (Modell 2: <100% Überschneidung, z.B. „schön“ – „hübsch“), „Hyponymie“ (Modell 3, z.B. ist beim Wort „Hund“ impliziert, dass es ein „Tier“ ist), „Antonymie“ (Modell 4, z.B. die beiden gegensätzlichen Wörter „ledig“ – „verheiratet“) und „Contiguity“ (Modell 5, z.B. „Hund“ – „Katze“ oder „rennen“ – „gehen“).3

Modell 1 Modell 2 Modell 3 Modell 4 Modell 5

      Alle diese Relationsarten zwischen zwei Wortbedeutungen können wiederum in einer hyponymen Relation zu einem dritten Wort stehen, dem „Hyperonym“, sie selbst wären dann „Kohyponyme“ (z.B. „Hund“ – „Katze“ als Kohyponyme zum Hyperonym „Tier“). Der wesentliche Unterschied zwischen der Sprachsystemebene und der Sprachverwendungsebene liegt darin, dass Wörter, die im Sprachsystem nicht zur Relationsart Synonymie gehören, in der konkreten Sprachverwendung Synonyme sein können. Das ist allerdings nur bei den ersten drei Relationsarten der Sprachsystemebene möglich, weil nur diese sich – ganz oder teilweise – überlappen. D.h. im Umkehrschluss, dass kontextbedingte Synonymie nur bei „Antonymie“ und „Contiguity“ unmöglich ist (z.B. sind „ledig“ und „verheiratet“ niemals austauschbar). Der Unterschied zwischen der Sprachsystemebene und der Sprachverwendungsebene bezüglich Synonymie erklärt sich folgendermaßen: Auf der Sprachverwendungsebene ist es möglich, dass in einem bestimmten Sprachkontext verschiedene Ausdrücke, die unterschiedliche Bedeutungsmerkmale aufweisen (wie z.B. beim Hyperonym – Hyponym-Verhältnis „Tier“ – „Hund“), dieselbe Sache beschreiben und deswegen ohne Informationsverlust wechselseitig austauschbar sind.4 Das impliziert nicht, dass diese beiden Wörter auch in einem anderen Sprachkontext synonym sein müssen. Denn im Fall der Synonymie bestimmt der konkrete Sprachkontext durch Vermittlung zusätzlicher Informationen (syntagmatische Ebene) welcher Teil der lexikalischen Bedeutung(en) im Vordergrund steht, so dass eine gemeinsame Schnittmenge zur Anwendung kommt (z.B. die paradigmatischen „going to“ und „flying to“ in den Sätzen „I’m flying to New York“ oder „I’m going to New York by air“ sind kontextabhängige Synonyme durch das syntagmatische „by air“.).5 Vermittelt aber der Kontext keine zusätzlichen Informationen (z.B. wenn „by air“ fehlen würde), dann sind Wörter, die auf der langue-Ebene in der Relationsart „teilweise Synonymie“ oder „Hyponymie“ zueinander stehen, konsequenterweise keine (kontextbedingte) absolute Synonyme und dürfen nicht austauschbar verstanden werden (weil der Satz „I’m flying to New York“ mit „flying“ eine spezifischere Information enthält).

      Überträgt man diese linguistischen Unterscheidungen auf das Verhältnis zwischen „zwölf Jünger“ bzw. „die Zwölf“ bzw. der „Apostel“ auf der einen Seite und „Jünger“ auf der anderen Seite, dann muss man ebenso die Sprachsystemebene und die Sprachverwendungsebene unterscheiden: verwendet der Evangelist beide Ausdrucksweisen in einem bestimmten Sprachkontext synonym oder bilden ihre lexikalischen Bedeutungen eine – absolute oder teilweise – Synonymie? Oder trifft eine der vier anderen paradigmatischen Relationsarten auf beide Entitäten zu? Für unsere Zwecke ist nicht das Sprachsystem der Sprachgemeinschaft relevant, in der der Evangelist Mt lebt und spricht, sondern schlichtweg sein eigenes Sprachsystem: was meint Mt im Normalfall mit „Jünger“ und wen bezeichnet er damit? Die Sprachsystemebene und die Sprachverwendungsebene müssen zwar unterschieden werden, sie sind aber keineswegs voneinander getrennt. Denn eine lexikalische Bedeutung ist eine Definition, die aus der Summe aller konkreten Wortvorkommen eines semantischen Wortfeldes resultiert. Will man nun bestimmen, ob bei „Jünger“ auf der einen Seite und „Zwölf (Jünger)“ bzw. „Apostel“ auf der anderen Seite Synonymie vorliegt, dann gilt die Regel: man darf nur dann von einer (absoluten) Synonymie ausgehen, wenn es entweder ebenso auf der Sprachsystemebene absolute Synonymie ist oder aber der sprachliche Kontext enthält zusätzliche Informationen, so dass die Begriffe tatsächlich ohne Informationsverlust austauschbar wären (wie im obigen Beispielsatz die Information „by air“). Der letztere kontextspezifische Fall trifft natürlich nur unter der Voraussetzung zu, dass beide Größen auf der Sprachsystemebene nicht zu den Relationen „Antonymie“ oder „Contiguity“ gehören. Enthält der Kontext aber keine ebensolche Information, dann ist von derjenigen Relation auszugehen, die auf der Sprachsystemebene gilt. Setzt man diese Vorüberlegungen praktisch um, bedeutet das Folgendes: Sinnvollerweise beginnt man mit der Ermittlung des Ausdrucks „die Jünger“. Denn worauf der andere Ausdruck „die Zwölf (Jünger)“ bzw. „Apostel“ im MtEv im Normalfall referiert, weiß der Leser des MtEv, da der Evangelist in Mt 10,2-4 die historisch konkreten und namentlich benannten Mitglieder des Zwölferkreises aufgelistet hat. Allerdings steht hier nicht eine möglichst präzise Definition des Begriffs „Jünger“ im Vordergrund, sondern die Bestimmung des jeweiligen Referenten im MtEv: sind damit immer nur die Zwölf gemeint oder auch andere Personen oder nur andere Personen? Wenn man also die eben aufgelisteten paradigmatischen Relationen auf das Verhältnis von „Jünger“ und „Zwölf“ überträgt, dann ergeben sich auf der Sprachverwendungsebene folgende Möglichkeiten (siehe Skizze, in entsprechender Reihenfolge). Mit μαθητής bzw. μαθηταί können gemeint sein: nur einige Personen der Zwölf, aber auch weitere Personen außerhalb des Zwölferkreises (Modell 1), nur die Zwölf (Modell 2), ein erweiterter Jüngerkreis, der die Zwölf umfasst (Modell 3), nur einige der Zwölf (Modell 4), oder ein Jüngerkreis, der die Zwölf ausschließt (Modell 5).

Modell 1 Modell 2 Modell 3 Modell 4 Modell 5