Viktor Löwen

Die zwölf Jünger Jesu


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τῷ Ἰησοῦ. Dieser Mann, der „ein Jünger Jesu geworden war“, war mit Sicherheit kein Mitglied des Zwölferkreises, sondern – gemäß dem, was man allein aus dem MtEv schließen kann – ein ansonsten Unbekannter, der reich war und möglicherweise gute politische Kontakte hatte, da er sich Zutritt zu Pilatus verschaffen konnte. Das dritte Verb ist dagegen wieder auf eine allgemeine und unspezifische Menschenmenge bezogen (28,19): πορευθέντες οὖν μαθητεύσατε πάντα τὰ ἔθνη […]. Die elf Jünger sollen andere Menschen „zu Jüngern machen“. Auffallend ist, dass die Herkunft der zukünftigen Jünger international ist: sie stammen potentiell aus allen Völkern.

      2.3 Ergebnis und Schlussfolgerungen

      Erstens. Mit μαθητής werden nicht nur konkrete Anhänger (oder „Schüler“) Jesu bezeichnet, sondern auch die Anhänger des Johannes, die Anhänger der Pharisäer und allgemeine, „ideale“ Anhänger (oder „Schüler“) Jesu. Welche dieser Jüngergruppen Mt mit μαθητής meint, lässt sich jeweils am unmittelbaren Kontext feststellen. Zweitens. Klar ist, dass alle Glieder des Zwölferkreises „Jünger“ sind: Mt bezeichnet sowohl eine Teilmenge der Gruppe als auch die Gesamtgruppe so. Damit scheiden die Modelle 5, 4 und 1 aus (s.o. I,2.1). Drittens. Wesentlich schwieriger zu bestimmen ist, ob Mt mit dem Substantiv μαθητής auch weitere (historische) Personen außerhalb des Zwölferkreises bezeichnet: stimmt also Modell 2 (Jünger = 12) oder Modell 3 (Jünger = 12 + x)? Selbst wenn neben dem „anderen der Jünger“ (Mt 8,21) auch der Schriftgelehrte (8,19) ein Jünger war, besteht die Möglichkeit, dass beide Personen Teil des Zwölferkreises waren. Doch weil der „andere der Jünger“ bereits in 8,21 zu den Jüngern gezählt wird, also am Anfang des Gesprächs mit Jesus über eine Jesusnachfolge, die die Vernachlässigung familiärer Pflichten zur Folge haben kann, ist es durchaus wahrscheinlich, dass es zwei verschiedene Arten der Jesusjüngerschaft gab, und das schon relativ früh in Jesu Wirken, wie es Mt darstellt (vgl. 8,21 mit 4,18-22). Desweiteren spricht mehr dafür, dass Jesus in 10,1 den (evtl. bereits bestehenden) Zwölferkreis aus einer größeren Jüngergruppe herausrief (wenngleich nicht unbedingt „berief“ im Sinne einer Konstituierung), als dass Jesus bereits in 9,37f ausschließlich den Zwölferkreis adressierte. Doch am deutlichsten ist das Verb μαθητεύω: weil es zu demselben semantischen Feld zählt wie das Substantiv, gibt es einen eindeutigen Beleg für die Existenz einer historischen Person, die ein Jesusjünger war, aber nicht dem Zwölferkreis entstammte, nämlich Joseph von Arimathäa (27,57). Diese drei Sprachverwendungen, von μαθητής in 8,21 und 9,37 und von μαθητεύω in 27,57 sollten auf der Sprachsystemebene berücksichtigt werden. Deswegen spricht der Gesamttext eher für Modell 3.

      Viertens. Dieses Hyperonym – Hyponym-Modell erklärt auch Einzelpassagen, in denen Mt offensichtlich μαθητής als absolutes Synonym für die Zwölf verstanden haben will. Diese kontextbedingten Synonyme sind aber kein Beleg für die Synonymität beider Größen auf der Sprachsystemebene. Mit anderen Worten: Man darf kontextbedingte Synonyme nicht dahingehend pauschalisieren, dass in allen anderen Kontexten ebenfalls Synonymität vorliegt! Konkret bedeutet das: Man sollte mit einem größeren Jüngerkreis (inklusive der Zwölf!) rechnen, außer Mt deutet es im Kontext an, dass nur die Zwölf oder Einzelne der Zwölf mit „Jünger“ gemeint sind.1 Fünftens. Wenn man nun grundsätzlich mit der Möglichkeit rechnet, dass Mt mit „Jünger“ verschiedene Jesusjünger meint, dann ist es nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten, dass der Leser beim Auftreten von μαθητής zunächst an die ihm bekannten Personen denkt: ab Mt 4,18-22 an die beiden Brüderpaare, ab 9,9-13 zusätzlich an den Zöllner Matthäus und ab 10,1-4 an die Zwölf, usw. Dennoch müssen nicht immer alle als „Jünger“ bekannten Personen vollzählig anwesend zugegen sein, wenn von οἱ μαθηταί die Rede ist. Mit anderen Worten: Mit οἱ μαθηταί können mehr oder weniger als die zwölf Jünger gemeint sein (die in Modell 3 verschieden groß gezeichneten Kreise sollten nicht als Widerspiegelung des realen Größenverhältnisses verstanden werden). Demnach sollte der Leser die genaue Größe der Gruppe der Jünger und ihre genaue personelle Zusammensetzung offenlassen, wenn Mt im Kontext keine klaren Angaben zur Personenidentität macht.

      2.4 Das Vorkommen der zwölf Jünger im MtEv und eine erste Stellenauswahl

      Eine Studie zum Thema „Die zwölf Jünger im MtEv“ behandelt im Idealfall alle Textpassagen des MtEv, die Verweise auf ebendiesen Zwölferkreis enthalten. Besonders gewichtig für die Identifizierung der Figurengruppe Zwölferkreis ist ihre explizite Benennung. Denn der Gruppenname enthält häufig bereits eine erste Definition, d.h. er zeigt welche Merkmale die Einzelfiguren zu einer Figurengruppe vereint.1 Der Begriff μαθητής ist ein solches nomen appellativum. Die bezeichneten Personen sind Jünger von jemandem, der sie in bestimmten Lebensbereichen anleitet. Bei der Benennung δώδεκα μαθηταί wird das „Jünger“-Konzept um eine weitere numerische Information ergänzt und die Gruppe auf zwölf bestimmte Einzelpersonen beschränkt. Dieser Ausdruck „zwölf (Jünger)“ ist stabil und kann nicht in Spannung geraten mit im Text beschriebenen Charaktermerkmalen.2

      Die Kardinalzahl δώδεκα kommt im MtEv 13 Mal vor. Nicht (direkt) relevant sind folgende vier Vorkommen:3 In Mt 9,20 (δώδεκα ἔτη) gibt die Zahl „Zwölf“ die Krankheitsdauer von zwölf Jahren an. In 14,20 (δώδεκα κοφίνους) wird die Menge von zwölf mit Brot gefüllten Körben nicht (im übertragenen und außerdem vielleicht ironischen Sinne) auf die Anzahl der an der Speisung beteiligten Jünger bezogen.4 In 26,53 (δώδεκα λεγιῶνας ἀγγέλων) hat die Anzahl von zwölf Engel-Legionen höchstens einen indirekten Bezug zu den zwölf Jüngern. In 19,28 (τὰς δώδεκα φυλὰς τοῦ Ἰσραήλ) gibt es zwar einen Zusammenhang zwischen den zwölf Stämmen Israels und dem Zwölferkreis (vgl. das nächste Vorkommen), aber die Zahl „Zwölf“ beschreibt hier die Vollzahl der zwölf Stämme Israels. Dagegen zählt ein fünftes Vorkommen, nämlich δώδεκα θρόνους in demselben Vers 19,28, zu den relevanten Stellen zum Thema „Zwölferkreis“, weil es die Thronplätze sind, auf denen die zwölf Jünger sitzen werden. Es sind folglich neun relevante Stellen, die direkt auf den Zwölferkreis referieren: 10,1.2.5a (10,1: τοὺς δώδεκα μαθητὰς αὐτοῦ; 10,2: Τῶν δὲ δώδεκα ἀποστόλων; 10,5: Τούτους τοὺς δώδεκα); 11,1 (τοῖς δώδεκα μαθηταῖς αὐτοῦ); 19,28 (δώδεκα θρόνους); 20,17 (τοὺς δώδεκα [μαθητὰς]); 26,14.20.47 (26,14: εἷς τῶν δώδεκα; 26,20: μετὰ τῶν δώδεκα; 26,47: εἷς τῶν δώδεκα). Fokussiert man sich aber auf diejenigen Stellen, die wesentliche Aussagen über den Zwölferkreis treffen, dann lassen sich 26,14 und 26,47 vernachlässigen, weil hier der Zwölferkreis zwar genannt wird, aber nur in dem Zusammenhang, dass Judas zu ebendiesem gehörte (zur Relevanz von Einzelfiguren des Zwölferkreises gleich mehr).5 Ergänzend zur Zahl „Zwölf“ kommen die Zahlen „Elf“ und „Zehn“ hinzu, natürlich nur unter der Vorausssetzung, dass sie das Phänomen „Zwölferkreis“ beschreiben: Die Kardinalzahl ἕνδεκα kommt im MtEv ein einziges Mal vor, nämlich in 28,16 (Οἱ [δὲ] ἕνδεκα μαθηταί), mit der sie tatsächlich eine Personenzahl der Jüngergruppe bezeichnet: gemeint sind die aus 10,2-4 bekannten elf Jünger (Zwölf minus Judas).6 Die Kardinalzahl δέκα kommt im MtEv drei Male vor: in 20,24 (οἱ δέκα; auf die zehn Jünger bezogen: Zwölf minus die beiden Zebedaiden); 25,1 (δέκα παρθένοις; zehn Jungfrauen) und 25,28 (τὰ δέκα τάλαντα; zehn Talente). Von diesen Vorkommen ist 20,24 für das Verständnis des Zwölferkreises relevant, weil hier die zehn Jünger auf das Verhalten der anderen beiden Jünger des Zwölferkreises in 20,20-22 reagieren. Nach den Zahlen „Zwölf“, „Elf“ und „Zehn“