Viktor Löwen

Die zwölf Jünger Jesu


Скачать книгу

gemeint ist, und zweitens weil es methodisch problematisch ist, einzelne Jünger zu „typischen“ Figuren des Zwölferkreises zu erklären (dazu gleich mehr).

      Weil die zwölf Jünger zu Jesu wichtigsten μαθηταί zählen, sind die Aussagen des MtEv über Jesu „Jünger“ im Allgemeinen auch für die „zwölf Jünger“ relevant. Z.B. legt der Ausdruck οἱ μαθηταί in Mt 13,10 nahe, dass auch die Zwölf zu den „Jüngern“ gehören, denen Jesus die Gleichnisse erklärt (was durch weitere Aussagen des MtEv über das Spezialwissen der zwölf Jünger gestützt wird, z.B. in 10,26f oder 20,17-19). Doch eine Auslegung sämtlicher Passagen des MtEv, in denen der Begriff μαθητής / μαθηταί vorkommt, würde im Ergebnis ein Gesamtbild der Jünger Jesu ergeben, aber kein Gesamtbild speziell der zwölf Jünger. Um Letzteres zu erreichen, müsste man eigentlich drei Schritte gehen (die ersten beiden können getauscht werden): Erstens legt man alle Passagen aus, die speziell von den zwölf Jüngern handeln. Zweitens legt man alle Passagen aus, die von den Jüngern im Allgemeinen handeln. Und drittens vergleicht man beide Auslegungen auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zueinander. Die vorliegende Arbeit fokussiert sich allerdings auf den erstgenannten Schritt. Darin liegt aus methodischer Perspektive einerseits eine Schwäche dieser Arbeit, andererseits ist diese Schwäche kaum zu vermeiden. Denn an der Beschränkung auf die Passagen des MtEv, die ausdrücklich auf den Zwölferkreis verweisen, zeigt sich ein grundsätzliches methodisches Problem, das bei der Analyse jeder Einzelfigur und Figurengruppe auftaucht: Soeben wurde festgestellt, dass es für ein Gesamtbild der zwölf Jünger notwendig ist, im zweiten Schritt ein Gesamtbild der allgemeinen Jünger zu entwerfen. Allerdings genügt es auch für ein Gesamtbild der allgemeinen Jünger eigentlich nicht, alle Passagen des MtEv mit den Vorkommen des Begriffs μαθητής / μαθηταί auszulegen. Dafür müsste man nämlich weitere Schritte gehen, indem man auch die anderen Figuren des MtEv analysiert, weil sie zumindest auf indirekte Weise Aussagen über die allgemeinen Jünger treffen. So ist aus diversen Jesusworten, ob er sie z.B. an das (eher neutrale) Volk oder z.B. an bzw. gegen die (eher negativen) Schriftgelehrten und Pharisäer richtet, ableitbar, wie er sich einen idealen Jünger vorstellt. Die wechselseitigen Verhältnisse zwischen den Figuren des MtEv machen deutlich, dass erst die Analyse aller Figuren des MtEv, die in einer Figurenkonstellation mündet (vgl. dazu Anhang [online], Exkurse 2 und 3), das vollständige Bild einer einzelnen Figur bzw. Figurengruppe erkennbar werden lässt. Demnach wäre für ein vollständiges Gesamtbild des Zwölferkreises nicht nur das Gesamtbild der allgemeinen „Jünger“, sondern z.B. auch das des Volkes oder z.B. das der politischen und religiösen Anführer zu berücksichtigen (zumal diese an einigen Stellen des MtEv das negative Gegenüber zu den zwölf Jüngern bilden, vgl. z.B. die Diskussion zu 9,36 unter II,1.2.1.3).7 Allerdings ist dieses „Ideal“ wegen der Komplexität der Figurenkonstellation im MtEv im Rahmen einer solchen Arbeit praktisch nicht umsetzbar. Es ist also aus pragmatischen Gründen notwendig, sich auf diejenigen Passagen zu konzentrieren, die ausdrücklich – und damit am zuverlässigsten – auf eine bestimmte Figur bzw. Figurengruppe verweisen. Die Analyse dieser Passagen ist folglich nicht nur ein wesentlicher, sondern der wesentlichste Beitrag zum Gesamtbild der entsprechenden Figur bzw. Figurengruppe. Nichtsdestoweniger dürfen die Auslegungsergebnisse des zweiten Hauptteils nicht missverstanden werden, erstens als ein vollständiges Gesamtbild der zwölf Jünger Jesu (denn die vielen Aussagen des MtEv über die allgemeinen Jünger Jesu und über die anderen Figuren des MtEv werden in dieser Arbeit nur punktuell, aber nicht vollständig ausgelegt und einbezogen), und zweitens als spezifische Merkmale der zwölf Jünger, im Unterschied zu anderen Jüngern oder zu sonstigen Figuren (denn es fehlt ein Vergleich mit den Aussagen des MtEv über die allgemeinen Jünger Jesu und über sonstige Figuren).

      Weil der allgemeine – numerisch unspezifische – Ausdruck μαθητής bzw. μαθηταί auf den Kreis der zwölf Jünger verweisen kann, sollte überprüft werden, an welcher Stelle er das tatsächlich tut.8 Bei dieser Überprüfung sind sprachliche Besonderheiten, wie z.B. das Vorhandensein oder Fehlen eines Artikels, keine geeignete Kriterien (vgl. I,1.2.3.3). Ein geeigneteres Kriterium ist die inhaltliche Parallelität zwischen der einzelnen Stelle, die zur Debatte steht, und einer (oder mehreren) anderen Stellen, die eindeutig vom Zwölferkreis handelt. Allerdings hat auch dieses Kriterium eine deutliche Schwäche, weil man dabei von einer inhaltlichen Gemeinsamkeit fälschlicherweise auf die Gleichheit der Personen schließen könnte. Denn selbst auffallende Kennzeichen der zwölf Jünger, wie z.B. ihre rigorose Aufgabe sozialer Bindungen, könnte auch auf weitere Jesusjünger zutreffen (vgl. z.B. Mt 19,16ff). Oder um das obige Beispiel zu nennen: Aus der Beobachtung in 10,26f und 20,17-19, dass Jesus den zwölf Jüngern Spezialwissen vermittelt, lässt sich eben nicht sicher schlussfolgern, dass er in 13,10ff allein seine zwölf Jünger adressiert. Wie also lässt sich methodisch ausschließen, dass Mt bei der Verwendung des Begriffs μαθητής / μαθηταί nicht auch an weitere Jünger außerhalb des Zwölferkreises denkt? Dafür müssten zwei zuverlässigere Kriterien erfüllt sein: Erstens muss im nächstliegenden Kontext der Zwölferkreis ausdrücklich genannt sein. Zweitens muss μαθητής / μαθηταί tatsächlich auf diese bestimmten Personen bezogen sein, d.h. beide referenzidentisch sein. Ob dieses zweite Kriterium erfüllt ist, entscheidet sich an der Kontinuität zwischen den benachbarten Textstellen. Die Kontinuität bezieht sich insbesondere auf das Thema, die beteiligten Personen sowie die Zeit und den Ort des Geschehens. Sind aber beide Kriterien nicht erfüllt, so lässt der Text eine präzisere Bestimmung, wer genau mit μαθητής / μαθηταί gemeint ist, nicht zu, so dass man als Interpret letztendlich diese (vom Autor evtl. intendierte) „Unschärfe“ bzw. „Referenzschwäche“ akzeptieren und sich folglich – zwecks einer fokussierten Analyse der Bedeutung der Zwölf – auf andere Passagen als sichere Textbasis beschränken sollte (vgl. zur Anwendung dieser Kriterien: die jeweiligen Unterkapitel „Passagenabgrenzung“ und „Personenkonstellation“ im zweiten Hauptteil).

      Bei der Suche nach den Zwölf-Jünger – Stellen im MtEv wird man auch auf Einzelfiguren aufmerksam, die mit Eigennamen oder Berufen vorgestellt werden und häufig diesen beiden Größen „Jünger“ oder „Zwölf (Jünger)“ zugeteilt werden können. Besonders häufig genannte Einzelpersonen aus dem Zwölferkreis sind Simon Petrus, die Zebedaidenbrüder Jakobus und Johannes, aber auch Judas. Diese vier Jünger sind im MtEv „qualitativ“ von den anderen Jüngern verschieden: Petrus und die Zebedaiden (eher) in positiver, Judas in negativer Hinsicht. Daran wird eine methodische Schwierigkeit erkennbar (ausführlicher im Anhang [online], Exkurs 3): Ist ein Merkmal, das ein Jünger aufweist, ihm als Einzelperson eigen, oder ist es „typisch“, d.h. lässt es sich auf andere Personen übertragen? Und sollte es sich übertragen lassen, so bleibt zu klären, auf wen genau: auf den kleinen „Kreis“ der drei Jünger Petrus, Jakobus und Johannes, auf den Zwölferkreis oder auf einen bestimmten weiteren Jüngerkreis oder gar auf unbestimmte Jesusanhänger?9 Aus dieser Schwierigkeit folgt, dass man sich sinnvollerweise auf diejenigen klaren Belege beschränkt, die auf den Zwölferkreis als eine in sich geschlossene Größe hinweisen. Demnach werden einerseits auch diejenigen Textstellen integriert, die zwar von zehn oder elf Jüngern handeln, aber den gesamten Zwölferkreis meinen (s.o.). Und andererseits werden Textstellen außenvorgelassen, die sich nur mit kleineren „Gruppen“ innerhalb des Zwölferkreises befassen, wie z.B. den drei erwähnten Jüngern.

      Abschließend lässt sich festhalten: Den Ausgangspunkt für die Stellenauswahl bilden die oben besprochenen Vorkommen der Zahlen Zehn, Elf und Zwölf, weil sie eindeutig auf den Zwölferkreis verweisen. Diese Vorkommen werden in den Einleitungen der folgenden Kapitel in die dazugehörenden Passagen eingeordnet. Dort wird auch darüber diskutiert, inwieweit jeweils benachbarte Passagen, wo allgemein von μαθητής / μαθηταί die Rede ist, einbezogen und zur textuellen Basis gezählt werden müssen.

ZWEITER HAUPTTEIL (II): Auslegung

      1 Die zwölf Jünger Jesu in Mt 9,36-10,42

      1.1 Einleitung zu Mt 9,36-10,42

      1.1.1 Vorkommen des Zwölferkreises

      Die zwölf Jünger Jesu werden im MtEv zum ersten Mal im Zusammenhang mit der Aussendungsrede (Mt 10,5c-42)