Viktor Löwen

Die zwölf Jünger Jesu


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Gemeinde irrelevant sein sollen: Warum wurde z.B. der Ausdruck „Apostel“ samt der Namenliste der Zwölf nicht gestrichen? Warum ist z.B. die Beschränkung auf die Mission in Israel noch vorhanden? Sind sie inkonsequente Überbleibsel der redaktionellen Arbeit oder (theologisch und / oder historisch) bewusst übriggelassen worden?

      Schlussfolgerungen zur Transparenz der (zwölf) Jünger. Es lassen sich einige kritische Anfragen an eine pauschale und starre Verbindung von textuellen Personen und realen Personen im Sinne einer prinzipiellen Transparenz formulieren. Es ist zwar durchaus vorstellbar, dass der Evangelist Mt den Begriff „Jünger“ gezielt gewählt hat, um es dem christusgläubigen Leser / Hörer des MtEv zu erleichtern, an die Jünger des Textes anzuknüpfen. Dafür sprächen deutlich erkennbare Parallelen zwischen diesen beiden Personengruppen. Aber die Wahl des Begriffs „Jünger“ muss man nicht mit „Transparenz“ oder „ekklesiologischer terminus“ bezeichnen. In Alternative dazu könnte man davon sprechen, dass Mt durch diese Begriffswahl die jeweilige Person des Textes für Identifikation und Kontinuität „öffnet“, dem Leser sozusagen ein „Rollenangebot“ macht, indem er ihm „Anknüpfungspunkte“ ermöglicht. Nichtsdestoweniger greift die Transparenz-These zu kurz, weil der implizite Leser von allen Figuren lernen kann, selbst von den viel gescholtenen Pharisäern in Mt 23.42 Denn alle Figuren, inklusive der Jünger, beurteilt der Leser am Maßstab Jesu: wer sich an Jesus als seinem Vorbild orientiert, ist der „wahre“ Jünger.43 Dabei bleibt auch für den Leser eine je verschieden große „Distanz“ zu den unterschiedlichen Figuren, sogar zu den Jüngern. Die Distanz des „allwissenden“ Lesers zu den Jüngern entsteht nicht nur durch das gelegentliche „nicht-Jesus-gemäße“ Verhalten der irdischen Jesusjünger wie sie im MtEv beschrieben sind, sondern auch durch historisch unwiederholbare Elemente. Was aber übertragbar und anwendbar ist, wird das nachösterliche Gemeindeglied bzw. die Gemeinde (-Leitung?) je und je entscheiden müssen. Es ist vorstellbar, dass der Evangelist Mt in einigen Passagen den „Zugang“ für seine Adressaten „geöffnet“ und in anderen Passagen „geschlossen“ gehalten hat. Man kann also nicht generell behaupten, dass alles, was über die „Jünger“ gesagt ist, eins zu eins über die Gemeinde gesagt wird. Die kritischen Anfragen an die Transparenz-These sind nicht notwendigerweise gegen eine Rekonstruktion des „Sitz im Leben“ des MtEv gerichtet. Vielmehr ist eine gewisse Zurückhaltung angebracht, gegenüber dem (zu) stark dominierenden Paradigma, dass die Jünger transparent seien für Gemeindeglieder oder Gemeindeleiter. Man wird dem Text eher gerecht, wenn man die Jünger zunächst auf der Textebene analysiert, statt sie (vorschnell und) grundsätzlich einer realen Personengruppe der Adressaten zuzuordnen und anschließend im Bewusstsein dieser Verknüpfung die Jüngerstellen zu lesen.44 Zu dieser Analyse der Jünger auf der Textebene gehört es, aus ihnen und anderen Einzelfiguren und Figurengruppen eine Figurenkonstellation zu erstellen (vgl. Anhang [online], Exkurs 2). Eine synchrone Analyse eines theologischen Aspektes auf der Grundlage des Gesamttextes umgeht die oben diskutierten Probleme, die sich bei einer Fenster-Methodik ergeben. Die Ergebnisse der synchronen Analyse lassen sich am Text selbst überprüfen und begründen. Zudem wurde bereits oben darauf hingewiesen, dass die eigentliche „Theologie“, die der Autor seinem Leser durch den Text kommuniziert, im Text als Gesamtgröße enthalten ist.

      1.2.3.2 Kritische Anfragen an die redaktionskritische Trennung zwischen Redaktions- und Traditionsstoff und die Irrelevanz des Zwölferkreises

      Norman Perrin definiert die redaktionskritische Methodik folgendermaßen:

      „It is concerned with studying the theological motivation of an author as this is revealed in the collection, arrangement, editing, and modification of traditional material, and in the composition of new material or the creation of new forms within the traditions of early Christianity.“1

      Gemäß dieser Definition manifestiert sich die Theologie des Redaktors in den redaktionellen Anteilen des Evangeliums, die aus zwei Elementen besteht: erstens aus dem Arrangement und der Komposition des Materials (das wird in der Forschung unter dem Stichwort „Kompositionskritik“ und teilweise unter dem Stichwort „Literarische Kritik“ behandelt) und zweitens aus der Trennung zwischen Tradition und Redaktion (das wird als „editorial criticism“ oder als „klassische Redaktionskritik“ bezeichnet).2 Die folgenden kritischen Anfragen richten sich in erster Linie gegen das zweitgenannte Element. Demnach kommt dem Redaktionsstoff und den redaktionellen Veränderungen eine besondere theologische Bedeutsamkeit zu, während die theologische Bedeutsamkeit des übernommenen Traditionsstoffs nivelliert wird. Eine wesentliche Folge davon ist, dass der Traditionsstoff im Lichte des Redaktionsstoffs gelesen wird.3 Gelegentlich werden inhaltliche Spannungen im MtEv damit erklärt, dass die Aussagen jeweils verschiedenen Traditionsstufen entstammen und der Redaktor ältere Überlieferungen übernommen hat, ohne sie ausreichend in Einklang mit seiner eigenen Theologie gebracht zu haben.4 Diese klassische redaktionskritische Methodik wurde auch auf die zwölf Jünger im MtEv angewandt. Das wirkte sich nicht nur auf die Auswahl der Textstellen zum Thema „Der Zwölferkreis im MtEv“ aus, sondern auch auf die Verhältnisbestimmung „Zwölf (Jünger) – Jünger“, ebenso wie auf die konkrete Deutung der Zwölf (Jünger).5 Z.B. konnte Strecker aufgrund bewusster Absehung von traditionellen Elementen argumentieren, dass für Mt die Jünger mit den Zwölf „synonym“ sind. Luz dagegen konnte die Gleichsetzung der Jünger mit den Zwölf nur deswegen für „selbstverständlich“ erklären, weil er die Zwölf-Passagen vom MkEv her las. Im Anschluss an Luz hat man häufig folgendermaßen argumentiert: weil der Redaktor Mt die Zwölf im Vergleich zu seinen Vorlagen nicht weiter ausbaue, den Ausdruck „Zwölf“ stattdessen gelegentlich streiche und häufig durch sein Vorzugswort „Jünger“ ersetze, müsse diese „Isotopie der Veränderungen“6 auf zweierlei Weise gedeutet werden: erstens als mangelndes (theologisches) Interesse an den textuellen bzw. den historischen Zwölf. Und zweitens als besonderes Interesse am Jünger-Sein der Zwölf. Durch ihr Jünger-Sein erscheinen sie den Adressaten wie typische Gemeindechristen (oder wie typische Gemeindeleiter), was zur Folge hat, dass sich die Adressaten mit den (Zwölf) Jüngern identifizieren und sie zu Vorbildern nehmen können. Gegen eine solche klassische redaktionskritische Methodik und ihre Folgen für das Verständnis des Zwölferkreises lassen sich u.a. folgende kritische Anfragen richten.

      Das linguistische Prinzip der Kontextualität und die synchrone Lektüre des Endtextes. Ein prominenter Einwand gegen die klassische Redaktionskritik, der häufig von Vertretern des „literary criticism“ eingebracht wird, ist texthermeneutischer Art: äußert sich die theologische Intention des Evangelisten tatsächlich nur im Redaktionsstoff? Denn gegen eine derartige Fragmentierung eines Textes spricht das linguistische Prinzip der Kontextualität, womit die Kohärenz eines Textes zusammenhängt.7 Der Autor beabsichtige seinen Adressaten mittels des ihnen vorliegenden Textes bestimmte Inhalte zu kommunizieren. Deswegen sollte ein Text synchron analysiert werden. Aus diachroner Perspektive betrachtet bedeutet das, dass der Redaktor sein Interesse (auch) am Traditionsstoff darin zeigt, dass er ihn mit dem Redaktionsstoff zu einer kohärenten Einheit komponiert. Wenn der Evangelist den Traditionsstoff unverändert übernimmt, dann stimmt er dem Text in seiner vorliegenden Gestalt zu, da er zu seinen eigenen theologischen Überzeugungen und seinen pastoralen Anliegen passt.8 Folgt man aber der methodischen Annahme, dass das Interesse des Redaktors im intakten Gesamttext – bestehend aus Traditions- und Redaktionsstoff – zu erkennen ist, dann ist eine über Markus hinausgehende Akzentuierung nicht nötig, um ein Interesse des Matthäus an bestimmten Themen zu belegen. Ähnlich wie der Evangelist Matthäus – gemäß der klassischen 2Q-Hypothese – das ihm vorliegende MkEv als Endtext gedeutet hat und darin die mk Theologie enthalten sah, ohne nach chronologisch vorauslaufenden redaktionellen Veränderungen der Vorlage(n) des MkEv durch den Evangelisten Markus zu fragen, so ähnlich deutet die lesende oder hörende Gemeinde das MtEv, ohne es mit dem MkEv zu vergleichen. Sollten nun inhaltliche Spannungen auftauchen, so sollte man sich zunächst darum bemühen, alle Textelemente in kohärenter Weise zusammenzudenken.9 Daraus ergeben sich einige Schlussfolgerungen. Wenn nun das MtEv eine kompositorische Einheit darstellt, dann wirkt sich das auch auf das Thema „Zwölferkreis“ aus. Erstens muss man dann die (theologische) Bedeutung und Funktion der Zwölf entsprechend umfassend behandeln. Wenn aber alle Vorkommen der Zwölf im MtEv bedeutsam sind, dann darf man eine Analyse der Zwölf nicht auf einzelne redaktionell