Viktor Löwen

Die zwölf Jünger Jesu


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Dieses Prinzip hat dazu geführt, dass die konkreten zwölf Jünger des mt Endtextes für theologisch irrelevant erklärt wurden bzw. ihre theologische Relevanz auf ihr typisches Jünger-Sein beschränkt wurde, und dass die „Zwölf“ mit den „Jüngern“ gleichgesetzt wurden.

      1.2.3.1 Kritische Anfragen an den Text als „Fenster“ und die Transparenz der (zwölf) Jünger

      Zur Existenz der sogenannten „Gemeinde des Matthäus“. In der Evangelienforschung ging man lange Zeit nahezu selbstverständlich davon aus, dass die Evangelisten an jeweils eine konkrete Einzelgemeinde schrieben. Richard Bauckham hat im Jahr 1998 den Sammelband The Gospels for All Christians: Rethinking the Gospel Audiences herausgegeben, in dem er gemeinsam mit Loveday Alexander, Stephen C. Barton, Richard Burridge, Michael B. Thompson und Francis Watson diesen Forschungskonsens in Frage stellte.1 Bauckham schlägt dort vor, dass die Evangelisten ihre Schriften an alle damaligen christlichen Gemeinden adressierten. Im Jahr 2000 erschien Martin Hengels The Four Gospels and the One Gospel of Jesus Christ,2 worin er sich ebenfalls für eine breite Adressatenschaft aller vier Evangelien aussprach und in diesem Zuge die Vorstellung ablehnte, dass die Evangelien die (theologischen) Vorstellungen einzelner Gemeinden widerspiegeln würden.3 Ein weiterer prominenter Neutestamentler, der dem langjährigen Forschungskonsens widersprach, war Graham Stanton im Jahr 1992 mit A Gospel for a New People: Studies in Matthew.4 Man kann feststellen, dass Bauckhams Sammelband eine Debatte angestoßen hat, die noch andauert.5 Die wohl wichtigste Veröffentlichung, die diese Debatte weiterführt, ist der im Jahr 2010 von Edward W. Klink III herausgegebene Sammelband The Audience of the Gospels: The Origin and Function of the Gospels in Early Christianity.6 Ein Beitrag dieses Sammelbandes, derjenige von Craig Blomberg, ist besonders erwähnenswert, weil er zwischen dem „alten“ Forschungskonsens und der „neuen“ These vermitteln könnte: Mt schreibe an eine bestimmte mt Gemeinde und zugleich an alle anderen Gemeinden.7 Sollte nun die von Bauckham und anderen Neutestamentlern vertretene These, dass Mt nicht (nur) an die eine mt Gemeinde geschrieben habe, richtig sein, dann müssten konsequenterweise die Gemeinderekonstruktionen der klassischen redaktionskritischen Studien zumindest kritisch überprüft werden.8

      Zur Gattung des MtEv. Ein Argument gegen die These, dass die Evangelien an einzelne Gemeinden gerichtet sind, lässt sich speziell gegen die transparente Interpretationsweise anführen: Im Gegensatz zu (den ntl) Briefen, in denen die Adressaten und ihre Situation häufig explizit benannt sind, gehören die Evangelien zu einer Gattung, bei denen das eben nicht der Fall ist.9 Luz hatte in seinem Artikel „Fiktivität und Traditionstreue im Matthäusevangelium im Lichte griechischer Literatur“ (1993) festgestellt, dass es auch in der griechischen Literatur Werke gebe, die „doppelbödig“ seien und wie das MtEv allegorisch gelesen wurden.10 Tobias Hägerland widersprach dem in „John᾽s Gospel: A Two-level-drama?“ (2003): die allegorische Lesart gelte nur für griechische Romane, die sich aber von den ntl Evangelien deutlich unterschieden.11 Ebenso wie Richard Burridge oder Dirk Frickenschmidt stuft Hägerland die Evangelien als βίοι bzw. als antike Biographien ein.12 Marius Reiser dagegen sieht nur wenige Analogien zwischen den Evangelien und paganen Biographien. S.E. sind die Evangelien eher mit jüdischen Werken (des AT) vergleichbar, solchen die ebenfalls „doppelbödig“ sind.13 In diese Richtung weist auch Armin D. Baum mit seiner These, dass die Evangelien am ehesten mit den biographischen Abschnitten in atl und rabbinischen Schriften vergleichbar sind.14 Sollte Baums Kategorisierung zutreffen, so wäre damit allerdings nicht gesagt, dass diese Gattung eine Doppelbödigkeit kennzeichne und eine allegorische Lesart gestatte oder gar notwendig mache.

      Zur Existenz externer und interner Evidenzen. Für eine präzise und historisch gesicherte Rekonstruktion der sogenannten Gemeinde des Mt fehlen externe Evidenzen. Deswegen ist der Mt-Forscher gezwungen sich mit textinternen Evidenzen zu begnügen. Das aber ist eine schwierige Ausgangsposition, weil jegliches Gemeindebild auf einem hermeneutischen Zirkelschluss basiert und lediglich als ein hypothetischer Rekonstruktionsversuch angesehen werden kann.15 Es ist zwar unstrittig, dass das literarische Werk und das soziale Umfeld, in dem es entsteht, sich wechselseitig prägen, aber es bleibt häufig unklar, ob ein Element des literarischen Werkes in Bezug auf die Gemeindesituation weltbildend oder weltabbildend ist, oder um es auf Luz᾽ Unterscheidung anzuwenden: ob eine mt Passage „indirekt“ oder „direkt“ transparent ist.16 Auch das Bemühen, entweder von der redaktionellen Veränderung oder von der redaktionellen Bestätigung des Traditionsstoffs auf den gemeindlichen status quo zu schließen, den der Redaktor entweder verändern oder bestätigen möchte, resultiert nicht selten in mehrdeutigen oder gar sich widersprechenden Gemeindebildern.17

      Zu den Personenzuweisungen innerhalb der Mt-Forschung. Die nicht unerheblich divergierenden Personenzuweisungen in der Mt-Forschung wecken Zweifel an der Plausibilität einer Interpretationsweise, bei der der Text ein „Fenster“ ist:18 Das jüdische Volk steht entweder für judenchristliche Gemeindeglieder (so z.B. Minear oder Thysman), für heidenchristliche Gemeindeglieder (so z.B. Gundry19) oder für das jüdische Volk, unter dem die Gemeinde versucht zu missionieren (so z.B. Cousland). Die Jünger stehen entweder für die Gemeindechristen (so z.B. Luz, Bornkamm, Hummel u.v.a.) oder Gemeindeleiter (so z.B. Thysman oder Minear). Petrus steht entweder für den typischen Gemeindechristen (so z.B. Schweizer oder Trilling) oder für den Gemeindeleiter (so z.B. Overman oder Frankemölle). Die „Schriftgelehrten“ stehen für christliche Schriftgelehrte und Lehrer in der Gemeinde (z.B. Trilling), die „Propheten“ stehen für christliche Propheten, usw. Frankemölle wiederum leugnet überhaupt die Existenz von Lehrern oder Propheten in der Gemeinde, sie sind s.E. historische Größen. Diese Liste der divergierenden Personenzuweisungen ließe sich fortsetzen.

      Zu den Beschreibungen der Gemeindesituation innerhalb der Mt-Forschung. Die schwierige Aufgabe, die analogen Elemente zu bestimmen, d.h. die transparenten Elemente von den nicht-transparenten Elementen zu trennen, betrifft nicht nur Personen, sondern auch Situationen, die im MtEv beschrieben werden. Diese fehlende Konkretheit lässt sich sehr gut an Bornkamms Sturmstillungs-Auslegung und am folgenden Vergleich zwischen Bornkamms und Luz᾽ Interpretationsweise veranschaulichen. Bornkamm hatte die mt Erzählung von der Seenot der Jünger in ihrem Boot (Mt 8,23ff) in hermeneutisch-allegorischer Weise auf die mt Kirche (= Schiff) und ihre Nöte (= Sturm) gedeutet. M.E. ist das aber eine unbegründete Analogie: Warum sollte das Bild „Schiff“ auf die Kirche verweisen, war das etwa eine schon im 1.Jh. bekannte Metapher? Wäre es nicht ebenso denkbar, dass der Bezug zur Erzählung wesentlich konkreter gewesen war, d.h. andere Elemente, als die von Bornkamm angenommenen, könnten transparent sein? Rein hypothetisch betrachtet könnte der Evangelist innerhalb der Gemeinde eine Gruppe von Berufsfischern vorgefunden und sie mittels dieser Sturmstillungs-Perikope aufgefordert haben, sogar bei Sturm beruhigt auf See zu fahren, weil der auferstandene Jesus sie stets vor dem Untergang beschützen würde. Welche Kriterien würde Bornkamm anführen können, dass sein Blick hinter die „Kulissen“ der richtigere ist (und die Not der Jünger stärker abstrahiert werden muss, um eine Not im allgemeinen Sinne zu beschreiben, bestehend aus Konflikten, allgemeinen Sorgen usw.)?20 Eine nicht unübliche Deutung des redaktionell auffälligen „Kleinglaubens“ im MtEv kann veranschaulichen, dass man sich die Konkretheit des aktuellen Bezugs zur Heilungserzählung immer unterschiedlich stark ausgeprägt denken kann. Luz hatte die Betonung des Glaubens (gegen den Kleinglauben) in den Heilungsgeschichten als Reaktion auf eine besondere aktuelle Gemeindesituation gedeutet, nämlich das Ausbleiben von Geist-Erfahrungen bzw. von Wundern trotz ihres Gläubig-Seins. Also habe Mt eine begriffliche Unterscheidung geschaffen, indem er „Kleinglaube“ als Kennzeichen fehlenden Vertrauens, bei gleichzeitigem Glauben an Jesus, einführte.21 Luz’ Erklärung, dass Wunder ausblieben, scheint weniger stark vom Text abstrahiert (oder allegorisiert) zu sein, als Bornkamms Erklärung, dass die Gemeinde unter Sorgen und Nöten litt.

      Zur Konsistenz innerhalb einzelner Forschungsarbeiten. Ab und an fehlt innerhalb einer transparenten Interpretation die innere Konsistenz. Frankemölle z.B. scheint konsequent vorzugehen, wenn er die Unterschiede der Personen untereinander, die sich auf der Textebene zeigen, analog auf die Gemeinde überträgt: Petrus muss für den Gemeindeleiter stehen, weil die Jünger bereits den Platz für die Gemeindechristen besetzen. Z.B. folgt Overman zwar Frankemölle in dieser Personenzuweisung,