Viktor Löwen

Die zwölf Jünger Jesu


Скачать книгу

baue Mt aber nicht weiter aus, er könne das auch gar nicht, da Mk die Identifikation bereits komplett habe, stattdessen mache Mt sie nur expliziter als Mk.32 Das bedeutet für Wilkins allerdings nicht, dass Mt den Begriff „Jünger“ – einem terminus technicus gleich – ausschließlich auf die Zwölf anwendet:33 „While it may be accepted that Mark and Matthew generally identified the terms, it is questionable whether they intended to limit the term μαθητής exclusively to the Twelve.“34 S.E. hätten Martin Hengel und Benno Przybylski gezeigt, dass die beiden ersten Evangelisten neben den Zwölf auch andere „Jünger“ kennen (z.B. 8,19.21; 10,24f42; 27,57).35 In seinem Aufsatz „Named and Unnamed Disciples in Matthew: A Literary-Theological Study“ geht Wilkins auf diese Stellen ein und zählt u.a. Josef von Arimathäa (27,57) zu den wenigen „Jüngern“ außerhalb des Zwölferkreises.36 Um das Verhältnis zwischen gewöhnlichem und außergewöhnlichem Gebrauch des Begriffs „Jünger“ zu klären, schließt er sich Kingsbury an,37 und formuliert die Regel: „Therefore, unless Matthew states otherwise, he refers to the Twelve when he refers to the μαθηταί, but he does not mean to imply that Jesus has no other disciples.“38 Dass Wilkins mit dem Begriff „Jünger“ auch Joseph von Arimathäa verbindet und den Begriff nicht auf die Zwölf beschränkt, wurde bereits gesagt. Deswegen überrascht es nicht, dass Wilkins das Verb μαθητεύω mit dem Substantiv μαθητής verbindet: beide gehören s.E. zu einem Konzept. Er übersetzt die ersten beiden Vorkommen sinngemäß „als Jünger unterwiesen werden“ und das dritte mit „zu Jüngern machen“.39 Die mt Identifizierung der Zwölf mit den Jüngern deutet Wilkins als theologisch beabsichtigt:40 „Matthew had a desire to pass his tradition on faithfully, but he also had a desire to interpret that history from his own perspective for the needs of his church.“41 Der Begriff μαθητής ermögliche es der Gemeinde, in den Jüngern Beispiele („examples“) zu sehen, für den Umgang mit den eigenen Bedürfnissen und Nöten.42 Schließlich sei dazu auf Wilkins späteren Artikel zu „Disciples“ in DJG verwiesen.43 Hierin unterscheidet er zwischen den „Jüngern“ und den „Zwölf“. Diese Unterscheidung betrifft alle vier Evangelien und deswegen auch das MtEv, was seine Verweise auf Mt 10,1-15 und 19,23-30 unterstreichen. Er macht die Unterschiede daran fest, wozu sie jeweils von Jesus berufen wurden: die „Jünger“ seien (im Gegensatz zum „Volk“) im übertragenen Sinne zu „cost and commitment“ bereit gewesen. Die Zwölf dagegen seien zu Jesu Mitarbeitern berufen worden, die er für die Zukunft ausgebildet habe; sie hätten im wörtlichen Sinn alles verlassen und seien ihm nachgefolgt. Belege für diese spezifische Funktion der Zwölf seien 10,1-15 und 19,23-30. Zu dieser Funktion der Zwölf passe der Titel „Apostel“ (10,2), weil er ausdrücke, dass sie beauftragte und ausgesandte Repräsentanten Jesu sind. Die Zwölf werden in den Evangelien sowohl als „Jünger“ als auch als „Apostel“ bezeichnet: „As ,disciples‘ the Twelve are set aside as the examples of what Jesus accomplishes in his followers; as apostles the Twelve are set aside as the leaders within the new movement to come, the church.“44

      Im Jahr 2011 ist ein Aufsatz von Joel Willitts zur Bedeutung der zwölf Jünger im MtEv erschienen: „The Twelve Disciples in Matthew“.45 Darin schlägt Willitts eine vergleichsweise ungewöhnliche Deutung der Zwölf vor: Jesus habe die Zwölf als politische Anführer des versammelten Zwölf-Stämme-Volkes Israel vorgesehen. Laut Willitts macht Mt die Identifizierung der Jünger mit den Zwölf, die er bei seiner Vorlage MkEv vorfindet, explizit, wofür v.a. der Ausdruck „zwölf Jünger“ (Mt 10,1; 11,1; 20,17) spreche. Von der Identifizierung schlussfolgert Willitts auf ein besonderes Interesse des Evangelisten an der Zwölfzahl der Jünger, im Gegensatz zu Luz, der daraus ein mt Desinteresse an ihnen abgeleitet hatte. Man könnte Willitts’ Ausführungen auf den ersten drei Seiten seines Aufsatzes so verstehen, dass im MtEv die Zwölf identisch und synonym seien mit den Jüngern. Dieses Verständnis wird später korrigiert: „Matthew does use the terms μαθητής and δώδεκα together or interchangeably, but they are not synonymous.“46 Denn Mt berichte von zwei verschiedenen Gruppen, wenn in 9,36-10,4 die Zwölf aus einer größeren Jüngergruppe ausgewählt würden.47 Mt gestalte diesen Wechsel von Jünger zu Zwölf in 9,36-10,4 absichtlich als einen fließenden Übergang, um zu zeigen, dass die Zwölf in erster Linie Jünger sind. Deswegen sei Luz’ These, dass die Jünger transparent seien, (zumindest teilweise) gerechtfertigt. Willitts versteht also unter „Identification“, dass in besonderer Weise das Jünger-Sein bzw. die Jünger-Identität der Zwölf betont wird. Willitts versucht eine theologische Erklärung dafür zu liefern, dass die Zwölf historisch einmalig (Strecker) und gleichzeitig transparent seien (Luz). Er fragt: warum haben die Zwölf diese beiden Funktionen?48 Der Ansatz seiner Antwort liegt in einer davidisch-messianischen Lesart des MtEv.49 Willitts beobachtet zunächst in PsSal 17 zwei Funktionen des davidischen Messias und erkennt dann parallel dazu beide Funktionen bei Jesus im MtEv: Jesus sei einerseits Gottes ewiger Weisheitslehrer, andererseits der politische König über ein wiederhergestelltes Israel, der Israel und die Nationen regieren werde. Willitts schlussfolgert: diese beiden Funktionen Jesu als Lehrer und Herrscher bildeten die Grundlage für die Zwölf. S.E. haben auch die Zwölf diese beiden Funktionen, die sich folgendermaßen zusammenfassen lassen: die Jünger aller Zeiten stehen in der Pflicht, vom ewigen Lehrer Jesus lernen, aber nur die historischen zwölf Jünger dürfen mit dem Herrscher Jesus herrschen. Zur erstgenannten Funktion: Die Zwölf sind wie alle anderen Christen Jesusjünger und Schüler des ewigen Weisheitslehrers; und alle späteren Christen müssen sich am historisch vergangenen Jesus orientieren, weil er aufgrund seines ewigen Seins auch für ihre Gegenwart derselbe ist. Weil sich aber die Christen aller Zeiten an Jesus orientieren müssen, macht Mt die historischen Jünger transparent für die späteren „Jünger“ (zur Betonung des Jünger-Seins der Zwölf, s.o. zu Mt 9,36-10,4). Obwohl die Anweisungen Jesu an die Zwölf und die Jünger für die Gemeinde relevant sind (vgl. 28,18-20), gibt es keine Eins-zu-Eins-Korrespondenz und es bleibt eine gewisse Distanz.50 Zur zweitgenannten Funktion: wie Jesus haben auch die Zwölf eine politische Funktion im messianischen Reich, die historisch einmalig ist und sie von den späteren Christen unterscheidet. Die Funktion der zwölf Jünger ist also nicht in dem Sinne „symbolisch“, dass sie für eine andere Entität (wie das Volk Israel) stehen, mit der sie selbst nichts zu tun haben, sondern eher im Sinne einer Synekdoche, d.h. als ein repräsentativer Bestandteil der größeren Entität. Die Zwölf sind deswegen zwar Teil des eschatologischen Israel, aber zusätzlich Leiter der neuen Gemeinschaft.51 Ihre politische Funktion besteht aus drei Punkten. Erstens gelte sie für Jesu irdische Zeit: weil die Zwölf im Text vor Mt 10 unerwähnt blieben, tritt ihre besondere Funktion ab Mt 10 besonders hervor, sie spielen eine wichtige Rolle in Jesu Mission vom Himmelreich, wo der funktional zu verstehende Ausdruck „Apostel“ (V.2) auf die Zwölf angewandt wird. S.E. passe zur Rolle der Zwölf in Mt 10 der Missionsbefehl 28,16-20.52 Zweitens bestehe die politische Funktion der Zwölf in der Autorität über die „ekklesia“: Mt berichtet in 16,17-19 und 18,18, dass Jesus den Zwölf Autorität über das eschatologische Israel gibt. So werde die Petrus zugesprochene Autorität in 16,17-19 etwas später in 18,18 nicht in demokratisierender Weise der gesamten Gemeinde zuteil, sondern lediglich den Zwölf.53 Als Stütze für diese These zieht Willitts Martinez᾽ Aufsatz „The Interpretation of ‘Oi Mathetai in Matthew 18“ (1961) heran, wonach mit „die Jünger“ ab 10,1-4 ausschließlich die Zwölf gemeint seien.54 Auf diese Autorität der Zwölf über die Gemeinde deuten laut Willitts auch die Speisungsgeschichten hin (14,13-20; 15,32-39), wo die Zwölf eine leitende Verantwortung als „Unter-Hirten“ gegenüber dem versammelten Volkübernehmen, indem sie unter ihnen Nahrung verteilen. Drittens besteht die politische Funktion der Zwölf darin, dass sie im zukünftigen Eschaton Herrscher bzw. Regenten sein würden (vgl. 19,28).

      1.2.3 Kritische Anfragen an die redaktionskritischen Deutungen der zwölf Jünger

      Die folgenden kritischen Anfragen richten sich insbesondere an zwei zentrale Prinzipien der klassischen redaktionskritischen Methodik, welche die inhaltliche Interpretation der zwölf Jünger Jesu bestimmt haben. Das erste methodische Prinzip lautet: der Text ist ein transparentes „Fenster“ für eine konkrete Gemeindesituation. Dieses Prinzip hat dazu geführt, dass die zwölf Jünger Jesu zu typischen Jüngern erklärt wurden, die für die mt Gemeinde