Viktor Löwen

Die zwölf Jünger Jesu


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in der späteren Mt-Forschung nicht selten rezipiert, wenngleich meist nur auszugsweise.3

      1.1.1 Rudolf Bultmann

      Rudolf Bultmann verfolgt mit seiner formgeschichtlichen Untersuchung folgendes Ziel: „[…] ein Bild von der Geschichte der Einzelstücke der Tradition zu geben; von der Entstehung dieser Tradition wie von ihrer Abwandlung bis zu der Fixierung, in der sie uns in jedem der Synoptiker vorliegt […].“1 Folglich durchlief auch der bei den Synoptikern versammelte Jüngerstoff zunächst vor-markinische Tradierungsstufen, sodann die markinische Tradierungsstufe, bevor er schließlich von Mt oder Lk redigiert und weitertradiert wurde. Um das Ziel der Formkritik zu erreichen, müsse man neben dem „Stilgesetz“ auch die „Gesetze der literarischen Weiterüberlieferung“ berücksichtigen.2 Eines dieser zentralen Überlieferungsgesetze besagt, dass die ursprünglich im Großen und Ganzen stabilen Erzählungen im Überlieferungsprozess von „legendarischen Schöpfungen der Phantasie“ beeinflusst wurden, so dass kurze und einfache Erzählstücke zunehmend um Details erweitert wurden und verschiedenartig wuchsen.3 Dieses Überlieferungsgesetz wendet Bultmann in seiner Analyse des synoptischen Stoffs allgemein auf Personen und speziell auf die Jünger an.4 Er stellt fest, dass sich eine grundsätzliche Tendenz abzeichne: anfangs noch unbestimmte Personen wurden zunehmend zu bestimmten Personen. Das zeige sich erstens darin, dass zunächst unbestimmte Personen (-gruppen) zu bestimmten Gruppen und „Typen“ gezählt wurden, in etwa den Schriftgelehrten, Pharisäern oder den Jüngern. Hierzu gehört, dass vormals einheitliche Gruppen intern differenziert wurden, was z.B. in Mt 28,17 deutlich werde, wonach nur eine Teilmenge der Jünger am Auferstandenen zweifelte. Und zweitens zeige sich die zunehmende Bestimmung darin, dass bis dato unbestimmte Einzelpersonen mit zusätzlichen Details versehen wurden, in etwa Namen erhalten haben, mit bestimmten Eigenschaften charakterisiert oder ihnen bestimmte Handlungen zugeschrieben wurden.5

      Daraus folgt: in der vor-markinischen Phase seien mit den „Jüngern“ nicht die Zwölf gemeint gewesen, sondern eine unbestimmte und nicht fest umrissene Anhängerschar um Jesus. Reste dieser alten Tradition fänden sich z.B. in Mk 3,34: solche, die Gottes Willen tun, gehören zu Jesu Familie und sind seine „Anhänger“ bzw. „Jünger“. Die Jünger seien auf dieser Entwicklungsstufe meistens – wie eine Einzelperson – als Einheit dargestellt worden, erkennbar an der Kollektivbezeichnung „Jünger“. Allerdings seien bereits in dieser frühen Phase hin und wieder Einzelpersonen aus der allgemeinen Jüngergruppe namentlich hervorgehoben worden.6 Dennoch gilt s.E. grundsätzlich die Regel, dass Differenzierungen und Individualisierungen ein eindeutiges Zeichen für den sekundären Charakter seien. In der markinischen Phase schematisiere der Redaktor des MkEv die Jünger: sie seien „als selbstverständliche Begleitung Jesu überall vorausgesetzt“, mit Ausnahme ihrer Berufung, Aussendung und Rückkehr.7 Dass Jesus an manchen Stellen alleine auftritt, ohne seine Jünger, deutet Bultmann folgendermaßen: „[…] daß die Jünger in manche Einzelgeschichten der Tradition noch nicht eingedrungen sind […].“8 Darüber hinaus zeige sich die redaktionelle Arbeit des Mk darin, dass er die Jünger mit den Zwölf identifiziere: „Und zwar denkt Mk, wo er von den μαθηταί als Gruppe redet, offenbar immer an die Zwölf (auch wohl an den Stellen vor der Berufung naiv und ohne Reflexion 2,15f18.23; 3,7.9).“9 Die Nennung der δώδεκα sei – abgesehen von 3,13-19 und 6,7-13 – „sekundäre Redaktionsarbeit des Mk und vielleicht gar z.T. späterer Abschreiber.“10 Diese Entwicklung von einer „unbestimmten Anhängerschar“ zur „bestimmte[n] Gruppe der Zwölf“ zeige sich z.B. an 4,10, wo der Evangelist Mk das ursprüngliche „es fragten ihn, die um ihn waren“ um „samt den Zwölf“ ergänzt habe.11 Aber auch in dieser mk Tradierungsphase müsse man damit rechnen, dass Mk (und alle späteren Abschreiber) hin und wieder einzelne Personen aus dem Zwölferkreis hervorgehoben hätten.12 In der nächsten matthäischen Überlieferungsphase übernehme Mt von Mk sowohl die Gleichsetzung von Jüngern und Zwölferkreis, wobei die Gleichsetzung für Mt inzwischen sogar selbstverständlich sei, als auch die Rolle der Jünger als ständige Begleiter Jesu, wobei Mt ihre Rolle als Begleiter noch weiter ausbaue:

      „Die Jünger spielen dieselbe Rolle wie bei Mk. Daß Mt oft die μαθηταί ausdrücklich nennt, wo sie im Mk-Text nur vorausgesetzt sind, will natürlich nichts sagen. Er fügt sie aber auch manchmal da ein, wo Mk nicht an sie denkt: 9,19; 12,49; 23,1. […]. Die Zwölfzahl ist bei ihm selbstverständlich, und es ist bezeichnend, daß er auch in der Verklärungsszene und im Gespräch nachher einfach οἱ μαθηταί sagt (17,6.10.13); er scheint vergessen zu haben, daß nach 17,3 nur die drei Vertrauten anwesend sind, wie er denn auch V.14 nicht wie Mk 9,14 sagt, daß sie πρὸς τοὺς μαθητάς kamen, sondern πρὸς τὸν ὄχλον, und wie er 24,3 die eschatologische Rede nicht an die vier Vertrauten, sondern an die μαθηταί insgesamt gerichtet sein lässt.“13

      Ein anderes Beispiel für Bultmanns Verständnis ist Mt 12,49: hier nenne Mt die um Jesus sitzenden Personen „Jünger“, aber er verstehe unter ihnen „zweifellos“ die Zwölf (par Mk 3,34).14 Sehr ähnlich sieht Bultmann das bei den Apophthegmata: „Auch für Mt versteht sich diese Identität [der μαθηταί mit den Zwölf; V.L.] schon von selbst […].“15 Die von Mk eingebrachte Gleichsetzung der „Jünger“ mit den „Zwölf“ sei auf der nächsten Überlieferungsstufe bereits selbstverständlich geworden, so dass spätere Abschreiber wie Mt wieder allgemein von „seinen Jüngern“ reden, aber damit – stillschweigend, weil voraussetzend – die bestimmten „Zwölf“ meinen!16 So wie in Mt 17,1-14 par Mk 9,2-14 spreche Mt auch an diesen Stellen allgemein von „Jüngern“, während in der Parallele bei Mk einzelne Jünger genannt sind. Bultmann deutet diesen mt Vorzug von „Jüngern“ gegenüber Einzeljüngern als „Interesse für die Zwölf“.17 Daraufhin leitet Bultmann zum nächsten Aspekt der „Überlieferungstendenz“ über: von der selbstverständlichen Gleichsetzung der Jünger mit den Zwölf ausgehend werden auf der nächsten Überlieferungsstufe wieder Einzelpersonen – wie z.B. Petrus – aus dem Zwölferkreis hervorgehoben.18 Deswegen entspreche es laut Bultmann eher der allgemeinen Entwicklung, dass Mt manchmal einzelne Jünger nennt, anstatt wie Mk allgemein von den „Jüngern“ zu reden (z.B. Mk 7,17 par Mt 15,15 oder 18,21).

      1.1.2 Kritische Anfragen an Bultmanns formkritische Deutung der zwölf Jünger

      An Bultmanns Deutung der Jünger im Allgemeinen sowie der zwölf Jünger im Speziellen lassen sich einige kritische Anfragen richten.1 Erstens: Ist Bultmanns Entwicklungs-Modell in sich konsistent und damit auch praktisch anwendbar? Denn für Bultmann ist die Hervorhebung von Einzelpersonen einerseits ein Kennzeichen für den sekundären Charakter und andererseits theoretisch in allen Überlieferungsphasen auffindbar.2 Nach welchen Kriterien sollte dann über das Alter einer solchen Angabe entschieden werden? Das führt zu den nächsten beiden kritischen Beobachtungen. Zweitens: Bultmanns These, dass die meisten der Verweise auf den Zwölferkreis im MkEv auf den Evangelisten Mk zurückgehen, lässt sich aus redaktionskritischer Sicht in Frage stellen, so z.B. durch Ernest Best geschehen.3 Drittens: Einerseits sieht Bultmann im Wechsel von den allgemeinen Jüngern (im MkEv) hin zum einzelnen und konkreten Jünger (im MtEv) die normale und erwartbare Entwicklung. Allerdings findet sich im MtEv auch der umgekehrte Wechsel, wenn Mt nicht mehr einzelne Personen reden lässt, wie es noch bei Mk der Fall war, sondern allgemein die „Jünger“. Diesen ungewöhnlichen Wechsel deutet Bultmann aber als Interesse an den Zwölf. Sollte das Überlieferungsgesetz tatsächlich stimmen: ließe sich dieser Wechsel nicht auch als ein Argument gegen eine einfache Abhängigkeit des MtEv vom MkEv deuten? Und könnte man außerdem diese Reihenfolge als Infragestellung des Überlieferungsgesetzes deuten, dass es zumindest in dieser starren Form nicht zutrifft? Das leitet über zum nächsten Punkt. Viertens: Lässt sich nachweisen, dass in der Überlieferung des synoptischen Stoffs die Differenzierung, Detailliertheit und Individualisierung tatsächlich zunimmt? In der Jesus-Forschung werden die „Überlieferungsgesetze“ als Authentizitäts-Kriterium infrage gestellt.4 Ebenfalls kritisch ist die neuere Form- und Gattungsforschung: sie bemängelt den Grundsatz der klassischen Formgeschichte, dass das Einfachere und Kürzere das Ursprünglichere sei. Vielmehr müsse man mit verschiedenen Varianten von Formen rechnen, die insgesamt unbeständig seien.5 Vielfach