Viktor Löwen

Die zwölf Jünger Jesu


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Einzelfiguren und Figurengruppen im MtEv, abgesehen von solchen zu Jesus: zum Volk, zu den Frauen, zu Jesu Gegnern, zu Jesu Jüngern, zu Petrus, usw.5 Jedoch gibt es m.W. bislang keine Einzelstudie mit dem spezifischen thematischen Schwerpunkt auf dem Zwölferkreis. Man könnte nun einwenden, dass dieser Eindruck täusche: die Lücke sei nur konstruiert und existiere in Wirklichkeit gar nicht, da Mt-Forscher die „Zwölf“ im Zusammenhang mit dem Thema „Jünger im MtEv“ behandelt hätten. Dieser Einwand ist nur teilweise zutreffend. Das Thema „Jünger im MtEv“ wurde tatsächlich in diversen Veröffentlichungen zu Genüge bearbeitet (vgl. I,1). Allerdings gingen die meisten Mt-Forscher dabei – ob explizit oder implizit – von der These aus, dass der Evangelist Matthäus6 die Gruppen bzw. Gruppenbezeichnungen „die Jünger“ (οἱ μαθηταί) und „die zwölf (Jünger)“ (οἱ δώδεκα [μαθηταί]) grundsätzlich als identische Größen betrachte. D.h.: es gebe bei Mt keine inhaltlich-sachliche Differenz zwischen beiden Größen. Wenn man aber auf eine Differenzierung zwischen beiden Größen verzichtet und zudem allein und allgemein die Größe „Jüngerkreis“ untersucht, dann wird offenbar die andere Größe „Zwölferkreis“ als subsumierend mit abgehandelt verstanden.7 Folglich gebe es an dieser Stelle keine Forschungslücke. Der Ansatzpunkt dieser Studie ist eine (kritische) Überprüfung einer solchen üblichen – und häufig stillschweigend vorausgesetzten – Subsumierung des Themas „Zwölf (Jünger) im MtEv“ unter dem Thema „Jünger im MtEv“. Demgegenüber resultiert die Argumentation unter I,2 in der These, dass Mt die „Zwölf“ und die „Jünger“ durchaus unterscheide. Und obwohl Mt auch die Zwölf als „Jünger“ bezeichnet, ist es legitim und notwendig, in erster Linie diejenigen Textstellen auszulegen, die eindeutig auf die „Zwölf (Jünger)“ verweisen (vgl. I,2.4). Kurz: Die Zwölf sollten nicht nur als eine eigenständige Größe des MtEv wahrgenommen, sondern auch in einer eigenen Studie untersucht werden.

      3 Relevanz und Auswirkungen

      Als eines von vielen inhaltlichen Elementen des MtEv sind die zwölf Jünger eingebunden in ein komplexes Beziehungsgeflecht. Sie stehen in mehr oder weniger direkter Beziehung zu anderen Personen (-gruppen): zu Jesus, zum Volk Israel, zu den Anführern des Volkes Israel, usw.1 Außerdem sind mit den zwölf Jüngern viele (theologische) Themen verbunden. Es seien beispielhaft drei theologische Topoi herausgegriffen. Erstens: Welche Rolle kommt dem Zwölferkreis zu im gegenwärtigen und zukünftigen „Himmelreich“, dessen Anbruch Jesus proklamiert (Eschatologie)? Zweitens: In welchem Verhältnis stehen die Zwölf zu Jesu Person und seinem Handeln und wie wirkt sich das Zwölfer-Verständnis auf das Jesusbild aus (Christologie)? Drittens: Haben die Zwölf eine besondere Funktion für die Gemeinde Jesu? Gehören sie (nur) zu einer historisch vergangenen Zeitepoche oder sind sie (auch) für die nachösterliche Gemeinde von Bedeutung (Ekklesiologie)? Aufgrund dieses personellen und thematischen Beziehungsgeflechts hat eine bestimmte Interpretation des Zwölferkreises direkte Auswirkungen auf das Verständnis der anderen Personen und Themen. Die konkreten inhaltlichen Implikationen können in dieser Studie jedoch höchstens angedeutet, aber nicht weiter untersucht werden. Nichtsdestoweniger bietet diese Studie vielfältige Ansatzpunkte für weitere Arbeiten.

      4 Aufbau

      Auf diese Einführung folgt der erste Hauptteil (I). Hier wird im ersten Kapitel (I,1) ein Überblick über die ntl Forschung der letzten etwa 100 Jahre vermittelt. Dabei werden die für das Thema „Die zwölf Jünger Jesu im MtEv“ relevanten Mt-Forscher, ihre form- (I,1.1), redaktions- (I,1.2) oder narrativkritischen (I,1.3) Methoden sowie die daraus folgenden inhaltlichen Positionen jeweils zuerst ausführlich vorgestellt und danach kritisch bewertet. Das zweite Kapitel des ersten Hauptteils (I,2) baut auf dieser kritischen Bewertung auf: hier wird eine alternative Bestimmung des Verhältnisses zwischen „Jünger“ und „Zwölf (Jünger)“ im MtEv präsentiert. Diese Verhältnisbestimmung wiederum ermöglicht die Identifizierung derjenigen Verse des MtEv, in denen der Zwölferkreis thematisiert wird. Die themenrelevanten Verse wiederum bilden den Ausgangspunkt für die Auslegung im zweiten Hauptteil.

      Im zweiten Hauptteil (II) erfolgt in vier Kapiteln eine ausführliche Auslegung der vier Textpassagen Mt 9,36-10,42 (II,1); 19,27-20,28 (II,2); 26,20-35.56 (II,3) und 28,16-20 (II,4). Jedes dieser vier Kapitel besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil wird die jeweilige Textpassage eingeleitet. Dazu gehören meistens: Vorkommen des Zwölferkreises, Personenkonstellation, Abgrenzung der Textpassage, Literarischer Kontext sowie Aufbau. Im zweiten Teil des jeweiligen Kapitels werden die Textabschnitte, die beim Aufbau der Passage festgestellt worden sind, nacheinander ausgelegt. Die Auslegung des jeweiligen Textabschnitts enthält meistens folgende Elemente (jedoch nicht immer einheitlich): Rohübersetzung, Literarischer Kontext, Aufbau, Kommentar und Analyse, Zusammenfassung der Auslegung. Das dritte Kapitel zu Mt 26,20-35.56 hat abgesehen von diesen beiden Teilen einen dritten Teil, in dem der Charakter des Mahls in 26,20-30 besprochen wird (II,3.2).

      In allen Kapiteln liegt der Schwerpunkt auf der Kommentierung bzw. Analyse des Textabschnitts. Diese orientiert sich meistens an der Versabfolge innerhalb des Textabschnitts. Die Analyse richtet sich grundsätzlich am Thema Zwölferkreis aus. D.h., dass sämtliche Aspekte des mt Textes berücksichtigt werden, die eine inhaltliche Aussage über den „Gegenstand“ Zwölferkreis treffen (könnten). In diesem Zuge werden häufig zum Versinhalt passende Fragen formuliert und an den Text gestellt. Nach der jeweiligen Antwort wird meistens (da von der Fragestellung abhängig) mithilfe der lexikalisch-grammatikalischen und semantisch-kommunikativen Analyse gesucht.1 Dies geschieht grundsätzlich unter Berücksichtigung des textuellen Mikro- und Makrokontextes des MtEv. Die Ausführungen haben einen argumentativen Stil: es werden Forschungspositionen und Auslegungsoptionen vorgestellt und diskutiert, und schließlich wird – wenn notwendig und möglich – einer bestimmten Auslegung der Vorzug gegeben. Die eigenständige Analyse sowie der große Umfang der auszulegenden Textstellen nötigt dazu, Schwerpunkte zu setzen. So ist z.B. Mt 28,16-20 aus theologischen und forschungsgeschichtlichen Gründen verhältnismäßig ausführlich.

      Im Schlussteil werden einige wichtige Ergebnisse dieser Studie kurz zusammengefasst. Es schließen sich ein Literaturverzeichnis und ein Abkürzungsverzeichnis an. Besonderer Erwähnung bedarf der Anhang mit 16 Exkursen, der online zu finden ist, unter www.meta.narr.de/9783772087240/Anhang.pdf.

ERSTER HAUPTTEIL (I): Forschungsüberblick und Verhältnisbestimmung Jünger – Zwölf (Jünger)

      1 Forschungsüberblick: Die zwölf Jünger Jesu in der Mt-Forschung ab 1921

      Dieses Kapitel beschreibt und bewertet die Deutungen der zwölf Jünger Jesu in der Mt-Forschung der letzten etwa hundert Jahre. Den Startpunkt dieses Forschungsüberblicks bildet Rudolf Bultmanns bahnbrechendes Werk Die Geschichte der synoptischen Tradition aus dem Jahr 1921, das nicht nur hinsichtlich seiner form- und redaktionskritischen Methodik forschungsgeschichtlich prägend war, sondern auch hinsichtlich seiner Deutung der zwölf Jünger Jesu im MtEv.1 Den Endpunkt bildet Joel Willitts kurzer Artikel „The Twelve Disciples in Matthew“ aus dem Jahr 2011.2 Alle hier besprochenen Forschungsbeiträge dieses Zeitraumes werden gemäß ihrer jeweiligen Auslegungsmethode drei verschiedenen Gruppen zugeordnet: zuerst der Formkritik, danach der Redaktionskritik und zuletzt der Narrativen Kritik. Bei der Besprechung dieser drei Gruppen wird jeweils mit der Darstellung sämtlicher Forschungspositionen zum Thema Zwölferkreis begonnen, wobei die Forschungspositionen nach den Kriterien „zeitliche Phase“ und / oder „inhaltliche Position“ angeordnet sind. Auf die Darstellung folgt jeweils die kritische Bewertung der Forschungspositionen. Diese Anordnungsweise ermöglicht mindestens zweierlei: erstens auf evtl. vorhandene Zusammenhänge zwischen den Auslegungsmethoden und den inhaltlichen Ergebnissen zu schließen. Und zweitens Zusammenhänge zwischen dem Thema Zwölferkreis und anderen Themen zu erkennen. Aus der hier vorgenommenen Bewertung der bisherigen Forschungsgeschichte werden im hierauffolgenden Kapitel (I,2) Schlussfolgerungen gezogen, indem das Verhältnis zwischen „Jünger“ und „Zwölf (Jünger)“ bestimmt wird und darauf aufbauend Textstellen im MtEv identifiziert werden, die von den Zwölf (Jüngern) handeln.

      1.1 Formkritik

      Karl