Will Berthold

Vollstreckt - Johann Reichart, der letzte deutsche Henker


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zu sagen, worum es ging. Er sollte – nunmehr für die Sieger – das erledigen, wofür er von der Spruchkammer in Garmisch als »Hauptschuldiger« eingestuft werden sollte: In Nürnberg arbeitete Reichhart den Armeehenker für die Hinrichtung der Hauptkriegsverbrecher ein; in Landshut war er an Exekutionen beteiligt. Freilich waren die Todeskandidaten diesmal keine Politischen und auch keine Kriminellen, sondern KZ-Aufseher, Kommandeure von Einsatzkommandos und auch Verurteilte, die abgeschossene US-Piloten gelyncht hatten. Sowie Reichhart die Exekutionen hinter sich gebracht hatte, wurde er wieder von GIs in das Interniertenlager zurückgeschafft, um sich für das zu verteidigen, was er eben erneut hatte besorgen müssen.

      Die Freiheit, die Reichhart schließlich – eingestuft als einfacher Mitläufer der Nazipartei – erlangte, wurde für ihn zu einem permanenten Spießrutenlauf; in einem freilich blutigen Statisten manifestierte sich das Schuldbewußtsein vieler Zeitgenossen. Häufig wurde der Einsame von Deisenhofen mit Zurufen wie: »Rübe ab!« traktiert. Der Hundezüchterverein, dessen Mitglied Reichhart war, um für seine Schnauzer und Pinscher einen Stammbaumnachweis zu erhalten, wollte ihn ausschließen. Während in der Öffentlichkeit immer lauter und dringender die Wiedereinführung der durch das Grundgesetz abgeschafften Todesstrafe verlangt wurde – bei gleichzeitiger Forderung nach Einstellung aller schwebenden Prozesse gegen NS-Täter –, während sich ein Abgeordneter des Deutschen Bundestags bereit erklärte, das Todesurteil notfalls auch selbst zu vollziehen, und ein anderer Volksvertreter, Mitglied der Regierungspartei – er hatte die Wiederinbetriebnahme des Fallbeils so leidenschaftlich gefordert, daß es ihm den Spitznamen »Kopfab-Jäger« eintrug –, vorübergehend sogar zum Bundesjustizminister avancierte, bezeichneten es Briefeschreiber an Münchener Zeitungen immer wieder als Skandal, daß Johann Reichhart, ein »Mann mit so viel Blut an den Händen«, frei herumlaufe. Nicht der Richter war in ihren Augen schuld, sondern der Henker – von allen Errungenschaften des Dritten Reiches schien sich das »gesunde Volksempfinden« am längsten erhalten zu haben.

      Johann Reichhart war nicht der einzige Henker des Dritten Reiches, aber neben dem vorwiegend in Plötzensee auftretenden Pferdemetzger Röttger der bekannteste. 3165mal wurde er in die Todeszelle gerufen. Wenn er eintrat, trug der Tod im Morgengrauen sein Gesicht. 3165 Menschen, die meisten Männer, hatte dieser Scharfrichter in mehr als fünfundzwanzig Berufsjahren in nicht mehr überbietbarer Geschwindigkeit vom Leben zum Tode befördert, unter ihnen abgefeimte Mörder und gänzlich Unschuldige, kleine Bauern, die ein »Schwein mit zwei Schwänzen« geschlachtet, Postbedienstete, die aus einem Feldpostpäckchen ein paar Zigaretten entwendet, Nachbarn, die aufgefischte Feindnachrichten verbreitet hatten, Bagatellsünder, auch Schwerverbrecher, meistens aber Politische wie zum Beispiel die Geschwister Scholl, Hans Leipelt, Christoph Probst, Alexander Schmorell und Professor Huber, alle Mitglieder der idealistischen, doch harmlosen Widerstabsgruppe »Weiße Rose«.

      Er kam, bereitete die Exekution vor, verkürzte den Hinrichtungsvorgang von üblicherweise zwanzig auf vier Sekunden, er fragte nicht, er zweifelte nicht, er sträubte sich nicht – sein Gewissen war die Stoppuhr. Freilich hatte Reichhart einige Male um seine Ablösung gebeten, aber der Staat verweigerte sie ihm mit der womöglich gar nicht so abwegigen Begründung, daß seine Arbeit »kriegswichtig« sei.

      Er erhielt dafür pro Exekution 50 Reichsmark Entgelt; davon mußte er den Lohn für seine beiden Knechte und auch ihre »Auslösung« bezahlen. Steuerlich gesehen war der Henker ein selbständiger Gewerbetreibender mit einem vom Staat vorgeschriebenen Umsatz.

      Die zahlreichen Sondergerichte und der Volksgerichtshof hielten ihn nicht klein. In einem Jahrzwölft Nazizeit wurden über 16 500 Todesurteile gefällt, von Militärgerichten weitere 24 559 allein bis zum 31. Dezember 1944, wo die statistischen Aufzeichnungen abbrachen. Die meisten dieser Urteile sind vollstreckt worden. Keiner der furchtbaren Juristen, die sie verhängt hatten, wurde dafür jemals strafrechtlich durch gültiges Urteil zur Rechenschaft gezogen, nicht ein Richter der sogenannten ordentlichen Justiz. Ein vormaliger Marinerichter brachte es sogar zum Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg und verteidigte sich nach Bekanntwerden eines bei Kriegsende vollzogenen Todesurteils mit den unfaßbaren Worten: »Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein.«

      Rechtens war zum Beispiel das Urteil gegen den zweiundfünfzigjährigen Regierungsrat Dr. jur. Theodor Korselt aus Rostock, der in der Straßenbahn kurz nach dem Abfall Italiens bemerkt hatte: So weit müsse es in Deutschland auch kommen, und der Führer habe zurückzutreten, weil »wir nicht mehr siegen können und nicht alle bei lebendigem Leibe verbrennen wollen«.

      »Als Mann in führender Stellung und mit besonderer Verantwortung hat er dadurch den Treueid gebrochen«, heißt es im Urteil vom 23. August 1943, »unsere nationalsozialistische Bereitschaft zu mannhafter Wehr beeinträchtigt und unserem Kriegsfeind geholfen. Er hat damit seine Ehre für immer eingebüßt und wird mit dem Tode bestraft.«

      Die Witwe des damals »rechtens« Verurteilten hatte, wie in seinem Buch »Die Sippe der Krähen« der Autor Michael Anders mitteilt, 746,60 Reichsmark Gerichtskosten zu entrichten, davon 300 Reichsmark für die Todesstrafe und 158, 18 für die Vollstreckung des Urteils; in diesen Kosten war das Entgelt für den Henker inbegriffen.

      Die Höhe seiner Entschädigung wurde in den Ländern verschieden gehandhabt; der Berliner Scharfrichter zum Beispiel erhielt zu einem Jahresfixum von 3000 Reichsmark nur 30 Reichsmark Kopfprämie und hatte ebenfalls seine Helfer davon zu bezahlen. Sein Assistent Kleine wurde 1946 in Halle – damals Sowjetzone – wegen Beihilfe zu den Exekutionen in den Jahren 1944/45 als »Nutznießer« verurteilt. Er hatte für 931 Vollstreckungen 26433 Reichsmark erhalten. Wie Kurt Rossa feststellt, war der »Stücklohn eines Scharfrichters die Sache der freien Übereinkunft«.

      Das preußische Strafvollstreckungsgesetz vom 1. August 1933, noch weitgehend vom Weimarer Staat übernommen, stellt im § 4, Absatz II, fest, daß der Vollzug der Todesstrafe die »ernsteste staatliche Hoheitsbestätigung« sei; trotzdem delegiert sie die Exekution an Lohnbeauftragte.»Die Nazijustiz liebte das Todesurteil, doch sie verachtete den berufsmäßigen Henker«, urteilt Rossa, »nicht Justizbeamte bedienten ihre Guillotine, sondern Privatpersonen, die auf Grund von Dienstverträgen gegen Stücklohn ihres Amtes walteten.«

      In München-Stadelheim, einem der Arbeitsplätze des Johann Reichhart, wurden 1200 Hinrichtungen vollstreckt, zusätzlich arbeitete der Henker ambulant mit dem Fallbeil im Gepäck. Vor dem braunen Machtantritt war eine Exekution ein singuläres Ereignis, das nach einem düsteren, pedantisch vorgeschriebenen Ritus vollzogen wurde; zu ihm gehörten die Henkersmahlzeit ebenso wie der Anstaltsgeistliche oder die geladenen Zeugen. Davon kam man schon deswegen ab, als, wie es der evangelische Gefängnispfarrer Karl Alt nannte, an »Großschlachttagen« von vier, acht, zwölf, achtundzwanzig bis zu hundertsechundachtzig Menschen vom gleichen Scharfrichterteam hingerichtet wurden.

      Die vom Fließband gelieferten Todesurteile der »ordentlichen« Justiz ließen sich nur noch durch Massenhinrichtungen bewältigen. Die Henkersmahlzeit wurde abgeschafft. Jeweils zwei Leichen kamen in einen mit Sägemehl gefüllten Sarg, der um 20 cm verkürzt war – amtlich angeordnete Materialeinsparung, da ein Körper ohne Kopf weniger Platz benötigte. Mitunter wurden erkrankten Verurteilten von abgestumpften Wärtern die Medikamente mit den Worten verweigert: »Dir wird ja sowieso bald die Rübe abgehackt.«

      In Plötzensee, der Richtstätte Berlins, gab es für Justizwachtmeister, die Todeskandidaten aus der Zelle zur Exekution führen mußten, bis zu acht Zigaretten Sonderzulage; dafür mußten sie gelegentlichen Widerstand brechen und Schreienden ein Handtuch in den Mund stopfen. In der gleichen Anstalt sollten an einem Septembertag des Jahres 1943 hintereinander dreihundert Verurteilte enthauptet werden. Nach der hundertsechsundachtzigsten Exekution waren die Henker am Ende ihrer Nervenkraft, so daß einhundertvierzehn Todeskandidaten einen Tag länger auf die »ernsteste staatliche Hoheitsbetätigung« warten mußten.

      Die Delinquenten wurden mit einer solchen Eile aus den Zellen gerissen und in den Vollstreckungsraum geleitet, daß der Verwaltungsoberinspektor Sch. die Namen verwechselte und vier Gefangene versehentlich köpfen ließ. Menschenleben waren wenig wert. Ein Dienststrafverfahren blieb dem Überforderten erspart; es ging – für den Beamten – mit einer »ernsthaften Verwarnung« ab.

      »Der