Will Berthold

Vollstreckt - Johann Reichart, der letzte deutsche Henker


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auf meinem eigenen Grundstück formlos umlegen würden. Einer machte eine Geste mit der flachen Hand an seinem Hals, und das sollte wohl bedeuten, daß sie mich hängen wollten.

      Sie schleppten mich zu ihrem Jeep; einer setzte sich links, ein zweiter rechts. Aus der Entfernung sahen ein paar Zivilisten zu. Der Fahrer jagte los, mit Vollgas. Eine Zeitlang fuhren sie wie unschlüssig hin und her, rasten über Münchens zerstörte Straßen. Dann hielten sie vor dem Hachinger Friedhof.

      »Go on, son of a bitch!« sagte der Sergeant neben dem Fahrer.

      Sie trieben mich vorwärts, dabei ging ich freiwillig, mit einem pelzigen Gefühl in den Beinen. Als sie mich gegen einen Grabstein stellten, wußte ich, daß sie mich nicht hängen, sondern erschießen wollten.

      Sie ließen sich Zeit. Sie waren ja Amateure. Sie fummelten mit der geladenen, entsicherten Waffe vor meinen Augen. Dann verbesserte der Sergeant meine Position wie ein Photograph, der das offizielle Hochzeitsbild macht. Sie schoben mich nach links, dann nach rechts. Einer fesselte meine Hände mit einem Kälberstrick. Sie lachten, redeten durcheinander. Einer spuckte, verfehlte aber mein Gesicht.

      Ich lehnte mich gegen den Grabstein, starrte in die Gewehrmündungen. Gleich würde alles vorbei sein. Und das war gut so.

      Aber es kam anders.

      Plötzlich trat ein US-Offizier dazwischen und beendete die Szene. Er brüllte den Soldaten etwas zu. Sie nahmen auf einmal Haltung an. Er gab ihnen Befehle, die ich nicht verstand. Aber später sagte einer der GIs in seinem radebrechenden Deutsch: »Kaltgemacht wirst du doch, du Schwein.«

      Sie lieferten mich in einer Arrestzelle der Polizei ab. Dann kam ich in ein Untersuchungsgefängnis. Jetzt begann die Irrfahrt quer durch die Barackenlager. Manchmal war ich mit fünfzehn anderen in einer Zelle, mitunter auch allein. Meistens war die Luft stickig und das Essen knapp. Aber wo ich auch war, stets war der Himmel für mich so groß wie das Fenster hinter den Gitterstäben.

      Ab und zu erhielt ich eine Zeitung. Mitunter sagte mir einer der Mitgefangenen, was die Nazis alles verbrochen hatten. Allmählich begriff ich, wie sehr der Staat, dem ich blind ergeben gedient hatte, mich ausgenutzt hatte, ausgenutzt und mißbraucht.

      Es brachte mich um den Schlaf. Der Morgen quälte mich, und die Nacht fürchtete ich. Niemand half mir. Meine Mitgefangenen waren Hoheitsträger der Partei, Richter, Staatsanwälte – die Größen von gestern. Einige wurden später hingerichtet; andere rückten schon sehr bald wieder in die höchsten Stellungen ein. Aber keiner, ob er zur Gruppe eins gehörte oder zu den Glücklicheren, wechselte ein Wort mit mir, wollte neben mir schlafen oder seine Zukunfssorgen mit mir teilen.

      Ich war der Einsamste im Lager, und doch selten allein, denn nun fingen sie an, mich zu besuchen, in großer Schar, die Männer und Frauen, die ich hingerichtet hatte. Mitten in der Nacht starrten mich 3165 Gesichter an, so wie damals, als ich der letzte Mensch gewesen war, den sie in ihrem Leben sahen.

      Ihr Tod trug mein Gesicht.

      Ich hatte einen schrecklichen Beruf gehabt. Ich war Scharfrichter gewesen – ich möchte es nie wieder werden.

      Damals begann es, aber der Spuk wurde nicht ferner, als sich die Zeit normalisierte, und oft verwünschte ich die betrunkenen GIs, die im Hachinger Friedhof so lange herumgemacht hatten.

      Wenn die Nacht in den Tag übergeht, ist es soweit. Dann kommt der stumme Zug. Die Frauen. Die Männer. Die Schuldigen. Die Unschuldigen. Und ihre toten Augen starren mich aus Wachsgesichtern an, wie damals, als ich den Hebel zog. Einige lächeln. Andere kämpfen verzweifelt gegen das Ende. Die meisten beten. Doch mit dem Amen fällt das Beil. Und während ich die Lippen aufeinanderpresse, höre ich meine Stimme durch das Grauen geistern: »Das Urteil ist vollstreckt.«

      Ich habe es öfter als dreitausendmal sagen müssen. Auf Befehl des Staates, der so großzügig mit dem Leben umging, führte ich 3165 Menschen in die Todeszelle. Ich arbeitete mit den Augen, mit den Händen, mechanisch. Empfindungen hätten den traurigen, letzten Akt verzögert und die Todesangst eines einsamen Menschen verlängert. Ich verkürzte das Sterben auf vier Sekunden In dreiundzwanzig Dienstjahren als Scharfrichter ist mir nie eine Panne passiert.

      Nur in einem einzigen Fall versagte die Exekution:

      Bei mir selbst.

      Ich sollte schweigen. Ich habe es jahrelang getan. Viele Menschen gingen mir aus dem Weg. Aber die Sensation läuft mir nach. In den Hungerjahren nach dem Krieg wollte Amerika meine Geschichte kaufen. Gegen Care-Pakete.

      Ich schwieg.

      Dann kam eine englische Agentur und bot mir eine Riesensumme.

      Ich schwieg.

      Ich hatte die Absicht, immer zu schweigen. Aber zwischen diesem Entschluß und dem heutigen Tag liegen zweitausend Nächte, die mich folterten, marterten, zermürbten … und die mich zwangen, meine Geschichte zu berichten.

      Ich weiß nicht, ob es eine Anklage oder Verteidigung sein wird. Ich muß es tun wie unter einem inneren Zwang. Ich will schildern, wie man Scharfrichter wird. Warum. Wie es ist, wenn man Menschen sterben läßt. Und dann das Gewissen aufsteht. Die Angst. Die Furcht. Das Grauen.

      Ich habe diese Menschen gesehen. Ich kannte ihre Fälle. Ich hatte fast mit allen Mitleid. Aber ich war überzeugt, daß sie zu Recht sterben mußten.

      Bis dann die Hitlerjustiz auf das Recht verzichtete.

      Ich weiß, daß hier die Grenzen meines Berichts zu liegen haben. Diese Hunderte, Tausende von Menschen, die von einem Regime hingerichtet wurden, dessen Hebel ich bedienen mußte, sind eine ungeheure Anklage, die zu schreiben ich kein Recht habe. Ich werde mich auf die kriminellen Fälle beschränken. Meine Erlebnisse, Erinnerungen und Begegnungen mit politischen Opfern habe ich einem Journalisten übergeben, der sie als wohl einzig dastehendes Zeitdokument darstellen mag.

      Bis zu den Hinrichtungen des Jahres 1933 stimmte es, wenn der Staatsanwalt sagte: »Im Namen des Volkes …«

      Ich erhielt von der Weimarer Republik meinen ersten Anstellungsvertrag. Es war kein Zufall. Ich stamme aus einer Familie, die seit beinahe dreihundert Jahren in ununterbrochener Reihenfolge den Scharfrichter stellte. Bei uns zu Hause hatte ein Scharfrichter nichts Düsteres oder Anrüchiges an sich. Wir hielten es für einen harten, notwendigen und ehrenwerten Beruf. Wir kannten die Namen unserer Vorfahren, zum Beispiel Lorenz Schellerer, der auf dem Münchner Heumarkt im Jahre 1854 eine der letzten Hinrichtungen mit dem großen Handschwert vornahm und dabei die Delinquentin, eine Gattenmörderin, mehrmals verfehlte. Seitdem wurde in Deutschland die Guillotine eingeführt.

      Ich hatte schon als Neunjähriger meinen Vater verloren. Ein wenig vertrat mein Onkel Franz Xaver die Vaterstelle. Er war ein großer, würdig aussehender alter Herr, der streng und fromm lebte.

      Er war aber auch der Scharfrichter von Bayern, der einzige, der in diesem Land jemals in Beamtenrang aufrückte. Er hatte von 1894 bis 1924 achtundfünfzig Mörder hingerichtet. Für jeden von ihnen ließ er Totenmessen lesen. Und später stiftete er aus eigenen Mitteln eine Kapelle.

      Damals war mein Onkel schon über siebzig Jahre alt. Als im Jahre 1924 die Schwurgerichte wieder eingesetzt wurden, mußte er in den Ruhestand treten. Er wurde vom Justizministerium gebeten, für einen geeigneten Nachfolger zu sorgen. Er wandte sich an meinen Bruder Michael, der aber den elterlichen Hof bewirtschaftete und nicht die Dienstwohnung im Münchner Amtsgericht in der Au beziehen konnte.

      Damit war ich an der Reihe.

      Ich sagte nein.

      Ich hätte dabei bleiben sollen.

      Mein Onkel und ein Staatsanwalt nahmen mich in die Zange. Ich hatte zu dieser Zeit eine gut gehende Gastwirtschaft. Vorher leitete ich eine Tanzschule. Damals war ich jung und lebenslustig. Die Wanderjahre hatten mich nach Hamburg verschlagen, wo ich auch zwei Tanzturniere gewann. Mit einem hanseatischen Regiment war ich in den Ersten Weltkrieg eingerückt, wurde verschüttet und verwundet, schließlich wieder entlassen. Dann arbeitete ich in einer großen Wurstfabrik. Der Neigung nach wollte ich Kaufmann werden und wurde es auch. Ich hatte in allen Berufen Glück