auf dem Schafott nicht festgeschnallt wurden, konnte sich der Körper im Tode ein letztes Mal frei bewegen. Der Torso bäumte sich auf, die Beine zuckten und schleuderten die Holzpantinen fort.
Aus dem Rumpf spritzte das Blut in hohem Bogen in den Gully … Wer hier im Namen des Volkes vom Leben zum Tode gebracht wurde, dem zeigte sich der Staat in aller Macht und Herrlichkeit. Der Henker im Cut, seine drei Knechte im schwarzen Anzug. Der Herr Kammergerichtsrat in roter Robe, der Staatsanwalt und der Pfarrer im schwarzen Talar, die Justizbeamten im jagdgrünen Tuch, der Anstaltsarzt im weißen Kittel, die Gäste in Uniform. Auf dem Tisch ein Kruzifix, an der Wand zwei hohe Kandelaber.
Nicht irgendein KZ-Wächter war am Werk, sadistisch veranlagt und womöglich betrunken. An diesem Todesort herrschten Recht und Ordnung, war jeder Schritt durch eine Vorschrift festgelegt. Für die Gäste gab es Eintrittskarten und den Hinweis: ›An der Richtstätte wird der deutsche Gruß vermieden‹. Vom Opfer erwarteten die Beamten, daß es sich dem Protokoll gemäß verhalte, ›ruhig und gefaßt‹. Nur selten fiel einer aus der Rolle.
›Ich erinnere mich an keinen, der geweint hat, geschrien oder sich gewehrt‹, sagt mir der evangelische Pfarrer Hermann Schrader, 80, der damals ein dutzendmal dabei sein mußte. ›Mancher war auch dadurch beruhigt, daß man ihm sagen konnte: Ich stehe hinter Ihnen, bis das Fallbeil fällt.‹ Das dauerte nicht lange. Vom Kommando ›Scharfrichter, walten Sie Ihres Amtes!‹ bis zur Meldung ›Herr Staatsanwalt, das Urteil ist vollstreckt‹ vergingen nur Sekunden – in Friedenszeiten zwanzig bis fünfundzwanzig, im Krieg nur noch sieben oder gar vier. Für jeden Toten hat ein Beamter die Zeiten in ein Formblatt DIN A 5 eingetragen, das immer noch aufbewahrt wird …
Von den rund dreitausend … die in diesem Geviert sterben mußten, gibt es oft nicht einmal ein Foto. Der älteste, ein Arbeiter, war dreiundachtzig Jahre, der jüngste gerade siebzehn. In Berlin-Plötzensee starben einundvierzig Ehepaare, die voneinander nicht Abschied nehmen durften. Mütter, die in der Haft ein Kind geboren hatten, wurden nicht geschont. Recht ging vor Gnade, zweihundertfünfzig Frauen wurden geköpft. Ihnen schnitt ein alter Schuster am letzten Abend die Haare kurz, um den Hals freizulegen. Ein Gefängnispfarrer erinnerte sich daran: ›Der Haarschnitt war ein Vorrecht des Schusters. Er tat es mit Gleichmut, ohne Gemütsbewegung und mit einer gewissen stumpfsinnigen Befriedigung.‹ Richtige Freude am Töten hatten nur wenige Beamte …«
Fraglos: ein Thema – ein ebenso abscheuliches wie notwendiges. Voraussetzung war natürlich, Johann Reichhart zum Reden zu bringen. Wiewohl er ständig sprach, war es nicht so leicht. Ich mußte erst in mehreren Begegnungen einen Schutzwall von Zorn, Trotz, Schuldgefühl und Selbstverteidigung durchbrechen, bevor er wirklich über das sprach, worauf es ankam.
»Sie wissen doch, daß unter den von Ihnen Hingerichteten viele Unschuldige waren?« fragte ich Johann Reichhart vorsichtig.
»Heute weiß ich das«, erwiderte er, »damals nicht. Es war sicher dumm, aber ich habe an den Staat geglaubt. Der Staat erläßt die Gesetze, und die müssen befolgt werden, nahm ich an, und wenn ich dazu beitrug, daß sie befolgt werden, war es doch kein Verbrechen.«
Ich schwieg.
»Sie wissen überhaupt nicht, was da alles passieren kann, wenn der Scharfrichter pfuscht«, fuhr er fort. »Fragen Sie nicht, was mit dem US-Henker, den ich eingearbeitet habe, diesem Sergeant … Sergeant –«
»Woods«, ergänzte ich.
»… alles passiert ist. Das geben Sie mir doch zu, daß es in jedem Fall falsch ist, wenn die Verurteilten länger leiden müssen als nötig«, attackierte er mich, und mit hartnäckiger Logik setzte er hinzu: »Ob sie nun schuldig sind oder unschuldig.«
»Also haben Sie auch Unschuldige hingerichtet«, entgegnete ich.
»Nur mit richterlichem Urteil, das mir vorher gezeigt und das vorgelesen wurde.«
»Waren Sie denn der Meinung, daß zum Beispiel auch Schwarzschlächter den Tod verdient haben?«
»Sie mußten damit rechnen«, antwortete Reichhart. »Das Gesetz war da.«
»Und das ist Ihnen richtig erschienen?«
»Es ist mir sehr hart vorgekommen und übertrieben. Die Leute haben mir leid getan«, erwiderte er. »Aber schlimm ist es erst geworden nach dem Zusammenbruch, da hab’ ich manchmal …«
»Als Sie im Interniertenlager eingesperrt wurden?«
»Nicht deswegen«, versetzte Reichhart. »Als ich in den Zeitungen gelesen habe, daß da Leute enthauptet wurden, die überhaupt nichts angestellt haben – bloß weil sie gegen die Nazis gewesen waren. Dann war es nicht mehr zum Aushalten. Zuerst habe ich mir noch gesagt: Du kannst nichts dafür. Du gar nichts, du hast nur getan, was von dir verlangt wurde, so schnell wie möglich und ohne Pfusch. Aber es wurde immer schlimmer, nachts, wenn ich schlafen wollte –« Er brach ab, starrte auf den Tisch, auf dem er seine Unterlagen ausgebreitet hatte, Berge von Unterlagen. »Es waren auch wirklich abscheuliche Burschen dabei, hundsgemeine Mörder – und ich bin heute noch der Meinung, daß sie den Tod verdient haben.«
»Und die würden Sie heute wieder hinrichten?«
»Nie mehr«, versicherte er. »Keinen einzigen. Nicht ich und auch keiner mehr aus meiner Familie. Ich garantiere Ihnen, daß ich der letzte Reichhart bin, der so etwas gemacht hat, ob nun die Todesstrafe wieder kommt oder nicht.«
»Heißt das, daß Sie gegen die Todesstrafe sind?«
Er schwieg, er wollte nicht bejahen, auch nicht verneinen. Er betrachtete das Problem nicht von übergeordneter Warte, sondern aus der Sicht seiner eigenen Misere, seiner Selbstvorwürfe und auch der Mißachtung, in der er leben mußte. »Sollen doch die Richter künftig ihre Dreckarbeit selbst erledigen«, entgegnete er. »Dann sind sie vielleicht auch etwas … etwas menschlicher.«
Johann Reichharts Antworten kamen nicht so glatt, wie ich sie hier verkürzt wiedergebe, aber dem Sinn nach so lautend. Seit der Mann, der wie ein Einsiedler in einem primitiven Holzhaus lebte, in sein Gewerbe eingetreten war, hatte er gewissermaßen Buch geführt, hatte sich weit mehr für die Verurteilten interessiert, als es die flüchtige, wenn auch für sie tödliche Begegnung, die er mit ihnen hatte, erwarten ließ. Anklageschriften, Abschriften von Urteilen, Zeitungsberichte, Photos, Fahndungsmeldungen waren von ihm gesammelt und sorgfältig geordnet worden. Zusätzlich hatte Reichhart in grobschlächtiger Schrift eine Art Tagebuch geführt.
Erst als es durch die Terrorjustiz des Dritten Reiches zu Massenexekutionen kam, machte er keine Einträge mehr. Es gab ja auch nur kurze Urteilsbegründungen und knappe Vollstreckungsbefehle, und die Namen von fünfunddreißig Menschen, die in Drei-Minuten-Abständen in den Tod gehen, kann sich niemand merken.
Was mir Johann Reichhart erzählte, habe ich in druckreife Form gebracht, ohne ihm dabei die Hand zu führen. Ich habe lediglich Umständlichkeiten und Wiederholungen weggelassen und mit seinem Einverständnis die Kriminalfälle anhand seiner Unterlagen rekonstruiert, ergänzt durch seine mündlichen Mitteilungen.
Sie waren eine Fundgrube.
Und eine Schlangengrube.
Stefan Amberg
Der Tod trug mein Gesicht
Es war so weit. Gewehrkolben hämmerten gegen die Holztür. Vor dem Haus stand ein Jeep. Drei, vier Soldaten in olivgrünen Uniformen waren dabei, in mein Deisenhofener Haus einzudringen. Es war im Mai 45; ein Lenz ohne Frühling.
Ich flüchtete in den Keller. Es war natürlich sinnlos, aber wenn der Mensch Angst hat, benimmt er sich wie ein gejagtes Tier. Einer meiner Nachbarn mußte mich denunziert haben.
Eine Minute später griffen sie mich und zerrten mich aus meinem Versteck. Sie hatten die Waffe im Anschlag und aufgedunsene, rote Gesichter.
»Bloody, dirty bastard!« schrie mir einer zu.
»Murderer!« brüllte ein zweiter.
Sie rissen mich derb am Arm, stießen mich vorwärts. Die Angst, die ich spürte, machte