sich im Korn verloren hatten, kamen schreiend angerannt: „Poludnica, poludnica!“ Und die Weiber griffen den Schreckensruf auf und gaben sämtlich Fersengeld.
Die Männer blieben zwar stehen, aber auch sie blickten beunruhigt: war da etwa das Mittagsgespenst, die Poludnica, die, wenn die Sonne hoch steht, durchs Korn streicht, um darin herumstreifende Kinder zu fangen?
Gen Niemczyce zu schlug das Korn im heissen Wind Wellen. Wie flutendes Wasser schwappte und wogte der goldene Schwall, und die scheitelrechte Sonne goss noch einen goldenen Strom vom Himmel dazu nieder. Mitten in diesem Meer, im blendenden Mittagszauber der Ähren war plötzlich eine Gestalt aufgetaucht, hell der Hut und das Gewand, hell das Gesicht, und die Flechten wie reifer Weizen.
„Hu, poludnica.“ Noch einmal kreischten die Weiber laut auf.
Selbst die Bräuers waren erschrocken, hatten sie doch niemand kommen gehört noch gesehen. Im wogenden Getreide war jene sacht dahergewandelt gekommen, auf kaum kenntlichen Fusspfädchen. Verdutzt starrten sie in das helle Gesicht.
Aber der Kutscher war blitzschnell von der Deichsel gesprungen; den Hut bis zur Erde reissend, wie vorhin bei dem Heiligen-Häuschen, grüsste er ehrfurchtsvoll, untertänig.
Da zog auch Peter Bräuer den Hut — die schien aber mal eine vornehme Dame!
Ein rascher Blick aus den hellen Augen der blonden Frau streifte ihn, dann nickte sie ihm freundlich zu: „Guten Tag!“
Horch, was war das? War das Musik? Glockenklang aus heimischem Land? Oder kam’s vom Himmel herab?!
Frau Kettchen war auf den Sitz zurückgesunken, ihre Lippen fingen plötzlich an zu zucken; heiss schoss es ihr in die Augen, jähe Tränen der Sehnsucht begannen über ihre Wangen zu rinnen. Aber es waren auch Tränen der Hoffnung. Einen Nebel legten sie wohl vor ihre Augen, doch der Nebel war nicht grau wie die Schleier des Abends, golden durchleuchtete ihn Licht des Morgens, denn mitten in ihm stand eine freundliche Gestalt, die Frau mit blonden Flechten und hellen Augen, und — die sprach deutsch.
„Guten Tag“, schrien die Kinder; es klang jubelnd.
„Guten Tag, gnädige Frau“, rief Valentin keck.
„Guten Tag“, sprach auch bedächtig und respektvoll der alte Bräuer. Und sein Weib stammelte — es konnte nicht laut sprechen vorm heftigen Klopfen des gerührten Herzens — leise nach:
„Guten Tag!“
Zweites Kapitel
Auf Niemczyce-Deutschau stand die Gutsherrin, Helene von Doleschal, am Fenster ihres Zimmers und schaute, beide Hände auf die Brüstung gestützt, hinunter in den Garten. Die Terrassen abwärts, unten am See, von wo die leichte Brise wehte, spielten ihre Knaben; sie hörte die hellen Stimmen zu sich heraufschallen. Sie wartete auf ihren Mann; der war gleich nach dem Mittagessen wieder aufs Feld geritten. Kam er jetzt bald?! Sie neigte sich weiter hinaus; zwischen den Blumenbeeten herauf führte das Pfädchen, das er gern einschlug, wenn er, ungeduldig abkürzend, den Braunen allein zum Hof traben liess und sich selber durchs Seitenpförtchen in den Garten stahl.
Helene blickte über die Hängerosen unterm Fenster, die die Glocken ihrer Kronen auf den samtig geschorenen Rasen niederstülpten, hinüber zum Hügel. Jenseits des Sees ragte der sandige Gipfel, der, mit einer einzigen Kiefer beflaggt, fast wie ein Berg in der Ebene erschien. Dort hinter jenem Berg lag Kolonie Augenweide! Der Weg dahin war weit, und Hanns-Martin hatte versprochen, heute noch mit ihr hinzufahren. Neue Kolonisten bauten ein Haus — ob das die Leute waren, denen sie neulich an der Grenze begegnet war, als sie mit ratterndem Leiterwagen und müden Kindern einzogen?!
Wenn Hanns-Martin doch bald käme! Schon legte sich ein Schatten über die blanke Metallplatte des Sees; die Schwäne, die zur Zeit der hohen Sonne im Schwanenhäuschen unter der alten Silberpappel der Insel Zuflucht gesucht, ruderten jetzt langsam über die mild beleuchtete Fläche, ihr Bild mit den schön gewölbten Flügelbogen schneeig im tiefen Wasser spiegelnd. Von den Blumenkissen der Terrassen stiegen verstärkte Wohlgerüche auf; die Heliotrope, Levkojen und Reseden, die um Mittag schlaff gehangen, standen jetzt erfrischt. Die waldigen Ausläufer des Parks, bis zum sandigen Hügel hin von beiden Seiten den See umschliessend, zeigten um ihre Kronen schon weicheren Flimmer.
Nun kam er wohl nicht mehr zur Zeit!
Enttäuscht wollte Helene vom Fenster zurücktreten, da hörte sie seine Stimme. Die Gruppen der Kannas und Musen verdeckten noch seine Gestalt, aber jetzt — jetzt war er zu sehen! Eiligen Schrittes stürmte er den kleinen Pfad herauf. Die Knaben hatten ihn entdeckt; ausgelassen umsprangen ihn die vier grossen, den kleinen Kurt liess er auf der Schulter reiten. Das Kindermädchen folgte, während wiederum hinter diesem, zeternd vor Besorgnis um ihres Herrn Küchlein, die alte Pelasia dreinhumpelte.
Die Knaben jauchzten: hurra, nun rannte Väterchen auch über den Rasen, und der Gärtner durfte doch nicht schelten!
„Helene!“ Schon war er unter ihrem Fenster. Die weisse Mütze aus der erhitzten Stirn zurückschiebend, schaute er zu ihr hinauf. „Endlich! Entschuldige! Meine liebe Frau! Ich musste noch aufs Vorwerk, Scheftel aus Miasteczko war da wegen der Milchkälber. Der Vogt wusste sich nicht zu helfen, der Kuhschweizer will sich immer von keinem Stück trennen. Sie zankten. Ich musste ein Machtwort sprechen.“
„Wie du dich um alles kümmerst“, sagte sie zärtlich. „Hast du gut verkauft an Löb Scheftel?“
„Es geht. Na“ — er klopfte sich mit der Gerte den Staub aus den enganliegenden Reithosen — „lassen wir das! Ich werde mich erst ein bisschen menschlich machen, und dann fahren wir.“
Sie lächelte ihn an. „Komm herein, trink nur erst Kaffee! Die Mamsell hat schon sechsmal fragen lassen, ob sie die frischen Waffeln heraufschicken dürfte.“
Weniges später fuhren die Doleschals auf dem leichten Korbwägelchen fort. Kein Diener sass hinten auf. Er kutschierte selber, ein Zungenschlag trieb das gut eingefahrene Pferd an. Der schlichte Schleier, den Helene als einzigen Schmuck um den Hut trug, wehte im Sommerwind.
Dem Park zur Linken, immer am hohen Drahtzaun entlang, führte zuerst die Strasse, dann trat sie näher zum See; mühselig knirschten die Räder durch tiefen Sand und dann noch mühseliger die Hügelsteigung hinan. Aber von oben herab lohnte ein herrlicher Blick auf den glatten See mit seiner bebuschten Insel, und auf das weisse Herrenhaus jenseits, mit den Blumenbeeten davor, von den grünen Wipfeln des Parkes wie ein freundliches Bildchen eingerahmt.
Noch ein paar Räderumdrehungen, und rasch ging es jetzt wieder bergab. Der Sandbuckel mit der einsamen Kiefer schob sich wie ein Schutzband vor die Oase von Deutschau. Nichts begrenzte nun mehr den Blick. Felder, Felder, Felder. Einzig in der Ferne, hinter Chwaliborczyce, ein paar Waldlinien; aber sie erschienen heut noch ferner als sonst, der staubige Dunst, der über der reifen Ebene lagerte, hatte das Blau des Kiefernforstes verhängt.
Überall wurde Weizen gehauen. Auf Deutschauer Land waren die Hemden der Schnitter alle weiss. Die Leute schafften schwer. Jeder Mann hatte ein Weib hinter sich, oft ein kaum erwachsenes Mädchen, das mit keuchender Brust, in unablässig gebückter Stellung hinter ihm drein schritt und die Schwaden raffte, die unter der blanken Sense fielen.
„Wir hätten Schnaps für sie mitnehmen können“, sagte Helene, „bei dem Staub tut’s ihnen not!“
„Schnaps?! Du weisst, ich bin nicht für Schnaps. Die Vögte sind angewiesen, Kaffee auszuteilen. Aber wie das Volk so ist! Kaffee wollen sie nicht, dann trinken sie lieber gar nichts.“
„Sie sind eben mal Schnaps gewöhnt“, entschuldigte sie. „Bei uns zu Hause gab es auch immer Schnaps in der Ernte. Mutter mischte ihn selber: ein Liter Kartoffelspiritus, ein Liter Wasser und ein bisschen Himbeersaft dazu. Weisst du, es war für mich das grösste Vergnügen, wenn ich mit meinem Pony herumfahren durfte, ihn austeilen. Und wir waren doch ganz deutsch!“
„Nein, Fusel nicht“, sagte er fast eigensinnig, und eine Falte der Verstimmung trat ihm zwischen die Brauen.
Sie schwieg, kannte sie doch ihren