Clara Viebig

Das schlafende Heer


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Chwaliborczycer Jagdwagen sassen, gegenüber von Frau von Garczyńska, ihr einziger Sohn, ein vornehm aussehender Junge, und der Vikar Górka.

      Frau von Garczyńska hatte sich den Sitz auf der seitlichen Bank noch durch eine Menge von seidenen Kissen bequemer machen lassen; sie lag zurückgelehnt, und der Schirm, den eine blonde junge Person, halb Dame, halb Dienerin, zum Schutz zwischen sie und die feurig untergehende Sonne hielt, liess warmrosige Schatten auf ihr blasses Gesicht fallen.

      „Gnädigste Baronin haben sich wohl Neues in der Kolonie angesehen?“ fragte Garczyński. „Sehr erfreuliche Fortschritte, nicht wahr? Wir haben unsern hochverehrten Herrn Vikar ein wenig entführt — die Herrschaften kennen sich? Ah, nur vom Hörensagen. Gestatten Sie!“ Er stellte vor, und dann verwickelte er, den Arm auf die Lehne des Korbwägelchens gelegt, Helene in ein längeres Gespräch. Eingehend fragte er nach ihren Kindern.

      Es blieb Doleschal nichts übrig, als sich mit Frau von Garczyńska zu beschäftigen. Sie winkte ihn zu sich herüber. Mit dem zärtlich-wehmütigen Lächeln, das ihr Gesicht so sehr anziehend machte, lächelte sie ihn an, als er zu ihrem Wagenschlag trat.

      Ob diese Frau glücklich war? Doleschal legte sich im Augenblick, als ihn ihr Lächeln traf, diese Frage vor, die sich schon viele vor ihm vorgelegt hatten. Kam der feuchte Flimmer in diesen schönen Augen von Tränen? Und was suchte dieser starr verlorene Blick in weiter Ferne?

      Als Doleschal die weiche Hand bei der Begrüssung in die seine nahm, fühlte er einen kurzen, festen Druck, den er den zarten Fingern kaum zugetraut.

      „Ich werde zu Ihnen hinüberkommen“, sagte sie. „Ich setze mich in Ihr Korbwägelchen, es ist ganz reizend. Ja, ich will“, setzte sie im Tone eines verzogenen Kindes hinzu, als er etwas von ‚unbequem‘ und ‚eigentlich nur zwei Sitzen‘ murmelte. „Ihre Gattin wird mit Garczyński auf dem Throne sitzen. Alexander“, rief sie ihrem Mann in elegantem Polnisch zu, „wir fahren gleich weiter, ich bin müde. Die Kolonie interessiert mich zu wenig — ein andermal! Nimm die Baronin auf deinen Bock; ich fahre mit Doleschal. Wir fahren über Niemczyce nach Hause zurück!“

      Plötzlich lebhaft geworden, drückte sie ihrem Gegenüber, dem priesterlichen Herrn, ein paar der weichen Kissen in die Arme. „Hier, Herr von Górka, seien Sie auch einmal galant! Bitte, tragen Sie mir die dort hinüber. Herr von Doleschal, bitte!“ Ganz hilflos streckte sie beide Arme aus. „Der Wagen ist abscheulich hoch, ich traue mich nie allein herunter. Ah — ah —!“

      Leicht flog sie durch die Luft; als Doleschal sie herunterhob, fühlte er ihre ganze Grazie. Ihr ein wenig verschobenes Kleid zurechtzupfend, lachte sie jetzt und klatschte lachend in die Hände: „Scharmant, ganz scharmant! Changez les dames, changez!“

      ‚Muss ich?‘ schien Helenes Blick ihren Mann zu fragen, als Herr von Garczyński ihr die Hand zum Umsteigen bot. Doleschal senkte die Lider — sie verstand diese stumme Bejahung; es lag ihm nun einmal daran, mit den Nachbarn, wenn auch nur in rein äusserlich aufrechterhaltenen, guten Beziehungen zu stehen. So schickte sie sich darein; aber ihre Bewegungen waren steif, ihre Miene abgemessen.

      Mit liebenswürdigen Lobpreisungen nestelte sich Frau von Garczyńska auf dem kleinen Korbwägelchen ein: sie war noch nie so niedlich gefahren, hier war’s ja tausendmal bequemer als auf dem grossen Jagdwagen! Als der junge Vikar ihr die gewünschten Kissen in den Rücken schob, dankte sie ihm mit dem zärtlichsten Lächeln; aber die Kissen wies sie gleich wieder zurück: die hatte sie hier ja gar nicht nötig!

      Mit einer stummen Verbeugung trat er zurück. Er hatte sich ebensogut in der Zucht, wie seinen Schüler. Sie hatten beide noch kein Wort gesprochen.

      Auch die blonde Zofe, die sich anschickte, mit dem Schirm hinter ihre Herrin zu klettern, wurde abgewiesen. „Ich brauche dich nicht, Stasia! — Wie herrlich ist die Sonne! Wie wunderbar gefärbt die Wolken sind!“ Frau Jadwigas Augen schwammen. „Fahren Sie, Baron, he, voran!“ Ihre Brust hob sich, als wollte sie springen im Übermass der Empfindung. „Ich bin entzückt. Fahren Sie, fahren Sie — schneller in die Sonne hinein, schneller!“

      Der Traber strengte sich an. Mit ausgezeichneter Kunst die vier wilden Pferde, die der Diener inzwischen kaum hatte zügeln können, zu langsamem Tempo zwingend, fuhr Garczyński nach.

      Im Jagdwagen lachte plötzlich die Zofe halblaut auf, und dann, wie erschrocken über ihr Lachen, warf sie von unten her einen verstohlenen, schielenden Blick auf Lehrer und Schüler. Der Vikar hatte ein Büchlein herausgezogen, in das er mit ernster Miene vertieft war; das junge Herrchen dagegen merkte auf. Ein Aufflackern seines Auges begegnete dem leicht schielenden Blick der Blonden. Da lächelte sie merklich, aber weiche Grübchen kamen dabei in ihre jungen Wangen; sie lehnte sich ein wenig hintenüber, liess die Wimpern über die Augen fallen und spielte am Schirmgriff ihrer Herrin.

      Der Traber, durch die vier Pferde, die hinter ihm schnaubten, und durch das Gebell der Doggen, die wie rasend zwischen beiden Wagen hin und her sprangen, nervös gemacht, schoss dahin wie ein Vogel auf fliehendem Flug. Das Viergespann ihm nach. Sich verfolgende Schatten, durch steigende Nebel vergrössert, jagten über die rasch dunkel werdende Ebene.

      Dudek, der Schäfer, schlug ein Kreuz: Wer war das? Fliegende Pferde, fliegende Wagen und fliegende Hunde! Heilige Mutter, hilf, das war Myśliwy pan, der Nachtjäger, auf wilder Fahrt!

      Scheu pfiff er die Hunde und trieb eilig die Schafe zusammen. Dass die Heilige Mutter sie hüte! Auch über ihnen machte er fromme Zeichen.

      Horch, klang’s jetzt nicht schon ferner, das ‚Huch haha‘ und das ‚Hoho‘? Aber jetzt noch ein Lachen! Hell, wie die Kania lacht, wenn sie am Himmel im Abendrot fliegt und Seelen raubt und sie dahin trägt, von wo sie nie mehr zurückfinden können.

      „Herr, Gott, sei bei uns!“ Sein Haupt verhüllend vorm Grauen der Ebene, betete Kuba Dudek, der Alte.

      Drittes Kapitel

      Tiefes Dunkel der Augustnacht wickelte das Herrenhaus von Chwaliborczyce wie in ein dickes, warmfeuchtes Tuch.

      Der Vikar hatte sich eben von den Herrschaften verabschiedet. Es war spät geworden, der Umweg über Niemczyce hatte das Nachhausekommen verzögert. Dann war gespeist worden, und dann hatte der Vikar, wie immer, wenn er in Chwaliborczyce als Abendgast blieb, eine Andacht abgehalten, an der auch das Gesinde teilnahm. Frau Jadwiga war ihm dankbar dafür; sie hatte ihn auch heute, trotzdem sie erschöpft war ‚bis zum Umsinken‘, wie sie sagte, darum gebeten.

      Nun stand Górka endlich draussen, unten am Fuss der vielfach ausgetretenen und zerrissenen Freitreppe, die vom Gartenzaun hinab in den Park führte, und war erschrocken, als ihm seine Uhr — ein kostbares Namenstaggeschenk der Garczyńskis — halb elf wies. Und zögerte doch noch.

      Drinnen spielte die Garczyńska Chopin — warum tat sie das, wenn sie so müde war?

      Tadellos perlten die Läufe, aber — Xaverius Górka schüttelte den Kopf — so war’s doch nicht gut! Sie spielte denn doch zu willkürlich launenhaft; presto, wo ritardando sein musste, con dolore statt scherzando. Das hatte er schon sehr oft besser spielen hören.

      Aber er blieb noch stehen. Garczyński hatte wie gewöhnlich für ihn anspannen lassen wollen, aber er hatte dankend abgelehnt. Er wollte heute gehen, musste gehen, es war ihm ein Bedürfnis, sich müde zu laufen.

      Zwischen den geborstenen Steinplatten der Treppe und im hohen Grase der verwilderten Parkwiese schirpten Hunderte von Grillen; unausgesetzt, gleich melodielosem Saitenschwirren, klang ihr Gezirp ohne Tonfülle, ohne Poesie, und doch war etwas Gleiches darin wie im Lied der Nachtigallen.

      Der Nachtigallen hatte es viele gegeben im Seminargarten zur Frühlingszeit, und der junge Górka hatte oft gestanden im weichen Dunkel, damals so, wie heute hier. Hörten die andern Seminaristen denn nicht die Nachtigall? Sie hatten es nie gesagt.

      In Chwaliborczyce gab’s keine Nachtigall; in den beiden Frühjahren, die der Vikar nun schon hier erlebt, hatte nie eine ihren schluchzenden Aufschrei erhoben. Man hielt ein Katzenrudel, denn aus dem Wallgraben, der den Park umschloss, stiegen Ratten und zernagten die Portieren