Clara Viebig

Das schlafende Heer


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wie Milben auf der kranken Rose, hockten die Ansiedler im Land. Unerträgliche Zustände!

      Aleksander von Garczyński vergass ganz, dass in seiner Jugendzeit Przyborowo, und vor allem Niemczyce, längst schon in deutschen Händen gewesen waren; aber er hatte das damals nicht so unliebsam empfunden. Woran lag das?

      Nun, woran es auch liegen mochte, jedenfalls jetzt so schnell wie möglich verkaufen! Und so hoch wie möglich! Wenn Garczyński an die Ansiedlungskommission dachte, fühlte er sich sehr erleichtert. Überdies waren ihm die letzten Jahre nicht günstig gewesen, und die Polnische Landbank würde nicht in der Lage sein, ihn so mit einem Ruck sicher hinzustellen.

      Noch an diesem späten Abend beschäftigten ihn solche Gedanken. Sie beschäftigten ihn so lebhaft, dass er, trotz der Tinte an seinen Fingern und, ohne den Rock zu wechseln, der von der Nähe des Schreibers unliebsamen Duft angezogen hatte, seine Gattin aufsuchte.

      Stasia konnte einen kleinen Freudenschrei kaum unterdrücken, als der gnädige Herr so unvermutet eintrat.

      „Soll ich jetzt gehen und die Nepomucena wegschicken?“ sagte sie geschwind. „Sie wartet schon zwei Stunden.“

      Aber sie kam so leicht nicht fort, wie sie gehofft hatte.

      „Lass sie warten“, war die Antwort. „Und du wartest auch!“

      „Es ist nur Stasia“, sagte Jadwiga zu ihrem Gatten, als sie seinen unwilligen Blick bemerkte.

      „Ich möchte etwas allein mit dir besprechen!“

      „Nun, so sprich doch! Wir sind ja allein. Nun? Was willst du?“

      Sich auf die Seitenlehne ihres Sessels setzend, nahm er spielend ihre Hand. Und dann sagte er ihr, dass er eben vom Schreiber habe ausrechnen lassen, dass Chwaliborczyce im Verkauf soundso viel bringen müsse, wenn der Verkauf lohnen sollte.

      „Du bist eine kluge Frau, Jagusia“, murmelte er zärtlich und küsste ihre Hand. „Und —“, er hielt an und liess seinen Blick über sie hingleiten mit einem leichten lächelnden Nicken, „du bist eine sehr schöne Frau! Was würdest du davon halten, mein Täubchen, wenn wir die Herren von der Kommission zum Diner einlüden? Doleschal möchte ich auch dazu bitten. Er ist mir wichtig. Er ist mit der Regierung liiert; ich habe gehört, dass er erst neulich in Posen war, beim Oberpräsidenten. Ist dir’s recht? Mach’s echt national, mein Seelchen: unsre heimatliche rote Rübensuppe, den Barschtsch, und Entenpotrawka und — ach, du wirst schon wissen! Und viel alten Ungar. Ich sage dir, sie trinken beim Dessert aus deinem Schuh. Sag, was hältst du davon?“

      „Sehr viel“, sagte sie lächelnd und lehnte den Kopf an seine Schulter. „Und dann ziehst du auch mit mir hin, wo mir’s gefällt, nicht wahr, Olek?“

      Er strich ihr sacht über die gelöste Frisur:

      „Dein schönes Haar!“

      „Lass doch!“ Ärgerlich bog sie den Kopf zur Seite; es fing an in ihrem Gesicht zu zucken, als wollte sie weinen. „Verkaufe doch endlich! Was habe ich davon, wenn’s zu spät ist. Sieh, hier“ — sie liess die Strähnen durch die Finger gleiten — „ich werde grau! Schon lange Fäden! Aus Kummer, aus lauter Kummer. Oh, unser armes Polen! Täglich gelobe ich bei der heiligen Mutter: kein Kleid aus Berlin — keinen Hut aus Wien — nicht Wiesbaden, nicht Homburg im künftigen Jahr — nicht einmal in die deutsche Konditorei zu Posen! Ach, hätte ich dich doch nicht geheiratet! Wäre ich in Warschau geblieben! Lieber unter Russen leben als in dieser langweiligen Ödenei!“

      Er wollte etwas sagen, aber sie liess ihren Mann gar nicht zu Worte kommen, heftig schrie sie ihn an: „Gedenke deiner Pflichten gegen Boleslaw! Wenn Górka von hier fortkommt, was doch gewiss bald der Fall sein wird, was dann? Dann ist alles aus! Diese Hauslehrer mit den schwarzen Nägeln, die mit allen Mägden herumliebeln — pfui, widerlich! Wir haben das doch vorher, denke ich, zur Genüge durchgemacht. Górka sagt: ‚die Zukunft Polens ist in der Mütter Hand gegeben‘ — nun, wohlan, ich bin eine Mutter! Und ich sage dir, wenn du nicht bald verkaufst, so ziehe ich allein mit Boleslaw in die Stadt. Ich bin es meinem einzigen Sohn und meinem Vaterland schuldig!“

      Der Gatte erhob sich leise. Seine Frau auf die Schulter küssend, machte er keine weitern Unterhaltungsversuche mehr. Aber er wusste, nun konnte er getrost die Einladungskarten verschicken.

      „Schlafe wohl, mein Herz! Stasia“ — die Zofe fuhr auf — „rufe die Nepomucena!“

      Herr von Garczyński ging wieder ins Büro zurück, wo der todmüde Schreiber noch immer sass und jetzt krampfhaft die verschlafenen Augen aufriss. Die Einladungen wurden noch diese Nacht postfertig gemacht. —

      Oben ins Zimmer der gnädigen Frau trat derweilen die alte Nepomucena ein; ihr schneeweisses Haar war mit Fett unter der Haube gestrählt, und sie hatte sich gewaschen. Zu den Füssen der Herrin, die regungslos sass, das Gesicht in den Händen verborgen, kauerte sie nieder und begann die Pantöffelchen und Strümpfe abzuziehen. Sacht strich sie dabei über den hohen Spann und dann über die Waden, immer hinauf, herunter — und wieder: herunter, hinauf.

      Seit fünfzehn Jahren, seit der Geburt des jungen Panitsch, schonte die Nepomucena ihre Nägel und nahm sie in acht, dass sie nicht immer wieder abstumpften bei der Arbeit; die Pani liebte das Kratzen mit stumpfen Nägeln nicht.

      Garczyński hatte seiner Frau schon mehrmals einen hölzernen Kratzer mit langem Stiel aus Posen mitgebracht, auch ein Händchen aus Elfenbein mit spitzen Krällchen, auch ein Bürstensystem; aber das Streichen und Kratzen der alten Hand, deren Haut von der schweren Arbeit des Lebens so rauh geworden wie ein Reibeisen, war nicht zu ersetzen.

      Nun schnitt die Filomena, die Tochter der Nepomucena und die Mutter der Michalina, schon ihre Nägel spitz, denn Grossmutter Nepomucena fürchtete, dass bald der Tod kommen würde, sie zu holen — und wer sollte dann die Herrin kratzen?

      Auf den schwachen Knien liegend, bückte die alte Nepomucena ihren alten Rücken geduldig. Wie früher hinterm raschen Schnitter im Korn, so hielt sie ihn in einem fort gebeugt; sie richtete ihn gar nicht auf.

      Die Uhr schlug Mitternacht, da liess sich die Herrin ins Bett helfen. Das Gesicht nach der Wand gekehrt, auf der Seite liegend, liess sie sich nun auch den Rücken kratzen. Immer auf, ab — ab, auf.

      Stasia schlief in einem Winkel. Der hübsche Kopf war ihr hintenüber gesunken — so pflegte sie immer am Abend zu sitzen, ein Fettfleck an der rissigen Tapete bezeichnete die Stelle — sie hielt den Mund halb geöffnet und lächelte wie ein Kind im Traum.

      Auch Frau Jadwiga fielen endlich die Augen zu, aber sie riss sie immer noch einmal auf und dehnte und reckte sich im überrieselnden Wohlgefühl.

      Die alte Nepomucena kratzte und kratzte — die Waden, den schlanken Rücken herauf — den Rücken, die Waden herunter — auf, ab — ab, auf — hin, her — her, hin.

      Mit seltener Kraft strömte etwas aus von diesen verarbeiteten Fingern, von dieser Hand, die noch diente an der Schwelle des Grabes.

      Viertes Kapitel

      Wie eine Offenbarung kam es über Herrn Kestner auf Przyborowo, als er, unter seinem Hoftor stehend, von Miasteczko her zwei Wagen in der Richtung nach Chwaliborczyce fahren sah. Sie nahmen nicht die Strasse über Przyborowo—Niemczyce, sondern den viel schlechteren, aber direkteren Landweg quer durch die Felder.

      Aha, also es war wirklich so, die Kommission, die heute vormittag die Parzellierungen beim Städtchen in Augenschein genommen hatte, fuhr jetzt zu Garczyński?! Ja, der Pole war ein Schlauer, der wusste es geschickt anzufangen! Und hier waren sie nicht einmal vorgekommen! Sie hatten Przyborowo links liegen lassen, als wäre das gar nicht vorhanden!

      Der Przyborowoer zog die Stirn kraus: man muss eben Pole sein, um Seide zu spinnen! Diese Bevorzugungen von seiten der Regierung gingen doch wirklich zu weit: das war ja schon das reine Kokettieren!

      Die Sonne blendete. Der Gutsherr trat unter die Akazie beim Hoftor, die wenigstens einigen Schatten gab, und blickte, die Hand über die Augen gelegt, hinaus auf sein Reich.