Clara Viebig

Das schlafende Heer


Скачать книгу

und elastisch in jeder Bewegung wie ein Trainierter. Die Leute mussten unterstützt werden, nach Kräften!

      „Ich werde Ihnen morgen meinen Stellmacher herschicken“, wiederholte er noch einmal, „und auch noch den Schmied.“

      Helene sass schon lange wartend auf dem Wagen. Sie hatte ihren Mann, der, einen Fuss auf den Balken stützend und die Hand mit der Peitsche in die Seite stemmend, den Leuten zuhörte, beobachtet; nun waren alle drei miteinander hinterm Neubau verschwunden.

      Sie wartete noch eine Weile ganz geduldig, aber als sie noch immer nicht zurückkehrten, schlang sie die Zügel um den Haken am Kutschbock und sprang vom Wagen. Der Traber stand auch so.

      Über den gläsernen Himmel, leicht angegraut vom mehligen Dunst der Felder, kroch schon ein Abendrot. Im Schleier der sich mählich ankündenden Dämmerung wurde alles milder. Noch lag viel Glanz über der Flur, aber kein grausamer mehr, der den Augen weh tat; er wurde friedlich. Aus einem Tümpel, den man nicht sah, stieg Fröschesang, wie im Schlaf, ganz traumhaft. Und — horch! — war das nicht schon die Wachtel, die zu Abend im Kornfeld rief?

      Die junge Frau lächelte: sieh da, ganz dicht hinter jener Ansiedlerscheune kam jetzt ein Rebhuhn aus dem Acker spaziert! Als wüsste es, dass die Jagd noch nicht drohe, trippelte es, vertrauensselig wie eine gute Henne auf dem Hühnerhof, über die Strasse, in den Acker jenseits, und die jungen Hühnchen folgten unbefangen.

      Langsam glitt das Abendrot weiter und weiter über die Himmelsglocke, während das kolossale Rund des Sonnenballs ungehindert, von überall frei zu sehen, mehr und mehr hinabrutschte gegen ihren Rand. Wie schön war das!

      In einem Gefühl, das sie manchmal überwältigte, angesichts dieses weiten Himmels, der wie ein Meer über dem Meer der Felder schwimmt, ohne Ufer, ohne Begrenzung, schauerte die Einsame. Am wirklichen Meer war sie gewesen, die mächtigen Wogen der Nordsee hatte sie aufgewühlt im Sturm gesehen und auch wieder glatt. Ihr Mann hatte sie auf Schweizergipfel geführt — sie standen auf einem sehr hohen Berg und sahen unter sich alle Schätze der Natur und ihre Herrlichkeit; im sich teilenden Grau der Morgennebel glänzte die Weite der Welt zu ihnen herauf, und sie selber waren ein junges Paar im ersten Rausche nicht endenden Glücks gewesen — aber nie, nie war ihr die ewige Unendlichkeit so klargeworden wie hier.

      Starren Auges schaute sie. Da, gradaus, Pociecha-Dorf, der Turm der schwarzen Holzkirche zeigte es weithin! Dort Chwaliborczyce! Ganz auf der andern Seite: Przyborowo mit Miasteczko, dem kleinen Landstädtchen, im Rücken. Und dort grüsste der Deutschauer Berg. ‚Lysa Góra‘, Kahler Berg, wie ihn die Leute nannten. Jeden Gutskomplex — eine Insel im Meer — wusste sie zu benennen; wusste, wieviel Pappeln die dünne Allee von Chwaliborczyce zählt, hatte achtmal schon die dornigen Akazien von Przyborowo blühen und sich entblättern gesehen, war so glücklich hier, und doch — sie fühlte die Nebel der Niederung, die um Sonnenuntergang plötzlich schauerten, durchs leichte Sommerkleid kalt auf der Haut.

      „Hanns-Martin“, rief sie fröstelnd, „Hanns-Martin, wo bist du?!“

      Ihr Ruf hallte. Aus der Holzbaracke, unweit des Neubaus, trat eine Frau, und die Kinder drängten sich ihr nach; sie schauten alle neugierig zu der fremden Frau hinüber.

      Helene erkannte die Frau: es war dieselbe, die sie letzthin bei den einziehenden Kolonisten gesehen hatte, aber das Gesicht sah jetzt älter aus, als seien nicht erst vier Wochen seit jener Begegnung am Kreuzweg verstrichen.

      „Wünscht die Dame wat?“ fragte die Frau höflich.

      Helene trat rasch auf sie zu. „Mein Mann ist, glaube ich, mit Ihrem Mann fortgegangen, sonst hätte er mich gehört. Ich werde hier bei Ihnen warten.“ Sie hatte das Bedürfnis, nicht länger allein zu sein.

      „Settchen, hol der Madam rasch ’ne Stuhl heraus“, wies Frau Kettchen ihr ältestes Töchterchen an. Und als die Kleine einen Schemel brachte, wischte sie, wie entschuldigend, mit der Schürze darüber hin: „Nehmen Sie vorlieb! Wir sind et auch besser gewöhnt, Madam! Aber mer muss sich als jetzt in alles schicken, sagt mein Mann.“ Sie seufzte. „Mer darf den Mut nit verlieren, und — sagt der Peter — die Kommission hat uns hierhin gebracht, die hat nun auch für uns aufzukommen. Sie sind wohl auch nit von hier, Madam?“

      Augenscheinlich erkannte die Frau die Dame nicht wieder. Als Helene sie an ihre erste Begegnung erinnerte, schossen ihr plötzlich die Tränen in die Augen.

      „Och, wie wir zugezogen sind — dat waren Sie? Och herrje!“ Geschwind fasste sie nach Helenes Hand: „Dat freut mich aber, dat ich Ihnen danken kann. Dat erste ‚Guten Tag‘ — ne, Madam, dat hab ich nit vergessen! Och, Madam, entschuldigen Sie“, — sie fuhr mit der Schürze über die Augen — „bei uns zu Haus bin ich gar nit so, aber hier muss ich immer weinen!“

      Helene tröstete: „Das ist nur im Anfang so, der Anfang ist ja überall schwer. Passen Sie mal auf, nächstes Jahr wissen Sie nichts mehr von Heimweh; da lachen Sie drüber. Es ist hier auch schön!“

      „Meinen Se?“ Zweifelnd schüttelte die Frau den Kopf. „No, wenn Sie ’t sagen, dann soll et wohl wahr sein!“

      Vertrauend schaute Kettchen zu der hochgewachsenen Dame auf, und dann lächelte sie hoffnungsvoll: „Wenn et so kömmt, wie Sie sagen, Madam, dat et uns gut geht hier, dann will ich auch wallfahren gehen nächst Jahr. Sicher un gewiss, dat gelob ich. Hier kann mer doch wallfahren gehen, gelt, Madam?“

      „O ja!“ Eine leichte Zurückhaltung lag plötzlich in Frau von Doleschals Ton — wie schade, diese nette Frau war nicht protestantisch?!

      Und als ob die andre instinktiv diese Enttäuschung fühle, hielt auch sie sich mehr zurück.

      Schweigend blickten beide hinaus auf die Ebene, in den lastenden Horizont, den flammende Abendröte wie mit blutigen Schwertern zerfetzte.

      Als Helene jetzt ihren Mann sehr eilig zwischen den Ansiedlern daherkommen sah, unterdrückte sie nicht einen Vorwurf: „Aber Hanns-Martin — endlich!“

      „Verzeih! Ungeduldig geworden, mein Herz? Bitte, verzeih! Es hatte mich so interessiert. Herr Bräuer hat mir seine ganze Stelle, seinen Bau, seinen Acker, kurz, alles, was drum und dran, gezeigt!“ Doleschal war angenehm erregt und reichte beiden Männern die Hand zum Abschied: „Es wird jetzt schon werden, wird ganz famos werden! Auf Wiedersehen!“

      „Du“, sagte Helene leise, als sie am Arm ihres Mannes zum Wagen schritt, „die sind ja katholisch. Und ich dachte doch, hier sollten nur Evangelische her?“ Es klang bedauernd: „So nette Leute!“

      „Ja, das lässt sich nun doch nicht ganz streng durchführen, diese Sonderung der Konfessionen. Aber was macht’s? Es sind doch wenigstens Deutsche!“

      Der Traber, der bis dahin lammfromm gestanden, stutzte plötzlich, nun sie einsteigen wollten.

      Unruhig zog er an, stieg wild und prallte dann zur Seite, gerade noch, dass Doleschal ihn vom Graben zurückriss. Eine Staubwolke kam vom Dorf her über die Felder geflogen, und in der Staubwolke war Peitschengeknall, Pferdegetrappel und Hundegebell.

      „Ach, die Garczyńskis!“ Nicht angenehm überrascht, fasste Helene nach dem Arm ihres Mannes.

      Da war auch schon der hochrädrige Jagdwagen, glänzend lackiert, mit viel Rot an den Rädern, und innen die Sitze hell ausgeschlagen.

      „Atrappiert, meine Herrschaften! He — halt!“

      Auf einen Ruck standen die vier jungen Pferde neben dem Korbwägelchen, mit schnaubenden Nüstern, noch zitternd vor Erregung, und schäumten ins Gebiss. Zwei englische Doggen, riesige Tiere mit Stachelhalsbändern, schnackten ihnen dumpf bellend nach den Mäulern.

      Der Lenker hoch oben auf dem Bock grüsste galant mit der Peitsche: „Ich lege mich Ihnen zu Füssen, gnädigste Baronin — das nenne ich Glück, Ihnen hier zu begegnen! Ihr Diener, Doleschal! Ihr Weizen ist grossartig! Sehr erfreut, wie steht das Befinden?“

      Herr von Garczyński hatte viel von einem Pariser oder Wiener an sich. Gewandt schwang er sich vom hohen Sitz herunter, dem Diener, der hintenauf hockte und nun beflissen