sich unschwer erkennen: es war um die hohe Sommerzeit. Es waren grosse Ferien. Aus den alten Stadtwällen jauchzten sich die Blumen ins Blau wie Raketen; und die Sommervögel schwammen darin herum als bunte Leuchtkugeln.
Auf einmal — da kam es über den Peter zwischen den Mühlsteinen … Es war ein ungeheures Erlebnis. Man denke: ein alter Stadtwall, auf dem seit Landsknechtstagen kein Mensch mehr umhergekrochen ist! Ein alter Stadtwall, an dem die Mühlsteine der jähen Zeit vorbeigerieben haben! Ein alter Stadtwall, an dem vierhundert Jahre ihre stillen Sommerwunder getan! Hurrjeh, dem Peter Lebegern fuhr das Herz aus der Brust — eine singende Flamme! Sommer, Blühen, Seligsein, Heimat — da habt ihr mich wieder! Da habt ihr mich wieder!
Hinter seinem durchgegangenen Herzen her kletterte Peter Lebegern den alten Wall empor. Lichtnelken und Johanniskraut, die ganze Schar der aufgetanen Sonnenkinder sprangen um ihn herum. Und der kleine Professor Ferdinand Wurzler lehnte sitzend gegen das machtvolle Bauwerk des Rundturms und sah forschend dem bunten Leuchten der Schmetterlinge zu. — Er ärgerte sich über den Störenfried.
„Ich sonne und stille mich hier durch meine Ferien,“ sagte er und setzte ein Gesicht auf, das nicht von fern seine jäh verkümmernde Freude erraten liess. Ferdinand Wurzler genoss den Ruf gewichtiger Gelehrsamkeit und Besonderheit. Auch hiess es von ihm, er habe nie einem Menschen wehgetan. — So lernte Peter Lebegern den gescheiten Doktor kennen.
Vordem hätte der Junge dem Älteren und seiner Würde gegenüber leicht eine leidlich geschickte Einleitung zu gedeihlicher Unterhaltung gefunden. Heute hatte er den Kopf voller Gemeinplätze. Aber ein gütiges Geschick — oder war es die Feier der Stunde? waren es Ahnungen, die in ihrem scheuen Dasein sich ihm seit zwei Jahren verborgen? — kurz, er bewahrte sich vor einer Dummheit und sagte:
„Verzeihung, Herr Professor — es war wohl die Sehnsucht nach mir selber, die mich unbedachterweise in Ihre Kreise brechen liess! Ich schätze: Sie verstehen noch immer die Kunst, dem Weltlauf aus einem Sonnenwinkel mit gelassener Entsagung zuzusehen. Auch ich habe das dereinst gekonnt …“ Es klang schmerzlich bewegt.
Der Gelehrte horchte auf. Dies Bekenntnis war nicht gerade ausgelassen gescheit. Jedennoch: es war eine Seltenheit. Der kleine Mann nahm den Faden nicht unwillig auf.
„Dies ist ein besinnliches Geständnis, junger Mann! Aber es ist in einem Tone des Schmerzes gesprochen worden, der mir nicht gerechtfertigt erscheint … Sie haben sich selbst verloren. Hm. Das setzt voraus, dass Sie in eine Welt verschlagen wurden, in der Sie sich nicht zurechtfinden. Noch nicht, mein Freund! Ist das ein Schade? Sie wollen in Ihrem Alter doch kaum schon dem Gotte danken, an dessen Tempelwand Sie ihr triefendes Gewand aufhingen, nachdem er Sie wohlerhalten im Hafen landen liess — wie der greise Horaz.“
Der Doktor Ferdinand Wurzler sprach langsam. Ein Licht tat er damit an und stellte es dem Peter Lebegern mitten ins Herz. Nein, er tat sieben Lichter an, eins nach dem anderen, also, dass es ganz hell ward. Und Peter Lebegern erkannte, wie grausam er sich verbiestert hatte — in sich und in der Welt.
Sie sassen, bis die Sonne ihr glühendes Rot um den alten Turm wob. Da waren sie Freunde geworden. Dennoch suchte Peter das Leben ganz anderswo. Aber er wusste nun: wenn er nicht in diese Welt gegangen wäre, von der er übersättigt war bis zum Widerwillen, so wäre wohl ein kümmerndes Gewächs aus ihm geworden. Etwa: ein Baum, der in einen Winkel gepflanzt ist und seine Äste nach der schmalen Seite wendet, aus der die Sonne kommt.
Und merkwürdig: der Professor Wurzler, während er so gütig und besonnen sprach, pickte ein Gedänklein heraus aus seinem geräumigen Vorrat an Weisheit, das wirkte wie ein Zauberwort … Mit einem Male lehnte Peter gar nicht mehr gegen den Sonnenpurpur am Turm. Mit einem Male sass er auf dem grossen Packen, den er von seiner Fahrt ins Land der Lappen mitgebracht hatte, sass zwei Jahre rückwärts im Leben in einer Dachstube und überlegte, ob er seine grosse Reise nicht jetzt erst beginne. Ferdinand Wurzler nämlich, dem er von seiner Nordlandfahrt erzählte, war der Meinung: „Der Besuch bei den Eskimos war aller Ehren wert. Aber die grosse Reise, mein Freund — das ist die Reise ins Land der Menschen, die um Sie her wohnen im Bannkreis der nächsten Meile. Ich schätze, diese Reise dauert für Sie und ihre Besinnlichkeit noch etliche Jahre. Dabei geht es ohne üble Erfahrungen und vielerlei Unbequemlichkeiten nicht ab. Jetzt find Sie an der ersten Station. Es missfällt Ihnen daselbst. Sie sind um eine Hoffnung ärmer, aber um tausend Erfahrungen reicher geworden. Meinetwegen reden Sie auch von einem Eisenbahnunglück. Der Zug ist entgleist. Sie find mit gesunden Gliedern davongekommen — was wollen Sie mehr?“
„Hm,“ machte Peter Lebegern. „Aber … nun … wenn mir das zehnmal widerfährt, Herr Doktor … hm, und ich merke das immer erst nach zwei Jahren ... finden Sie nicht auch, dass das peinlich ist? Und dass man statt der grossen Reise besser von ‚Peter Lebegerns Entgleisungen‘ rede?“
Der kleine Doktor nahm den vergilbten Strohhut aus dem Gras auf und schupfte die Schultern: „Dann müssen Sie halt sesshaft werden, mein Freund — was in diesem Fall heisst: ein Mann mit der vorgeschriebenen Tagesordnung eines Beamten. Müssen warten lernen, bis Sie in die nächste Gehaltsklasse rücken ... Es ist das ein ehrlich Geschäft. Aber für Peter Lebegern ist es wohl nicht das richtige …“
Es ist aus dieser Rede zu ersehen: die beiden Männer waren in ein Fahrwasser geraten, über dem nicht mehr der rechte Segelwind wehte. Auch hatte das Wasser keine gute Strömung, die das Boot fröhlich vorwärts riss. Das kam daher: der Doktor Ferdinand Wurzler war zwar ein ungeheuer gescheiter Mensch; in dem stillen Gelehrtendasein war eine Erscheinung wie die des Peter Lebegern ein Ereignis — wenngleich nicht von jener umwertenden Macht, die das Auftreten des Doktors in dem Lebensspiel seines jungen Freundes besass … aber zuletzt: die klugen Augen des Gymnasialprofessors waren auf die Welt mit den Sehnsüchten des Peter Lebegern doch nicht ganz richtig eingestellt. Dazu waren der Gnaden, die Peter Lebegern im Übermass empfangen, zu viele. — So aber stand der gütige Doktor am gesicherten Ufer eines wildgewordenen Flusses voller Frühlingswässer. Da trieb einer daher und streckte die Arme aus der Flut. Und Ferdinand Wurzler — weil er einen Rettungsring nicht gerade bei der Hand hatte — reichte ihm den Stab eines Schmetterlingsnetzes …
Nun, das war auch etwas.
Es wäre nun sehr leicht zu sagen: ‚am anderen Tage gab Peter Lebegern seine Stellung auf und wohnte hinfüro wieder in jener Dachstube, in der er vor zwei Jahren so frohmütig vor dem Dasein gesessen und so weiter.‘ Doch, so ging das jetzt nicht mehr. Vor zwei Jahren hatte Peter Lebegern die Kunst verstanden, Paradiesvögel aus seinen Händen hervorfliegen zu lassen. Jetzt hatte er dies Zaubern verlernt; denn er war eine Präzisionsmaschine geworden. Damals vollbrachte er Wunder an Genügsamkeit. Jetzt hatte er Bedürfnisse, die seine Freude am Tage vernichtet hätten, wenn er sie nicht befriedigen konnte. Und das hätte er nicht vermocht; denn von dem fünffach höheren Gehalte des Redakteurs hatte er keine Ersparnisse gewacht wie der Schulmeister von Bogenbach. Es stand einfach so mit Peter Lebegern: er war noch nicht fertig mit der Entdeckung der Welt; aber er erkannte aus verklärenden Fernen, dass er einmal ein König und Wundertäter gewesen sei, dem Leben und Schicksal gedient hatten nach seinem Gefallen. — So wuchsen Sehnsüchte in ihm, Sehnsüchte! Aber es war kein Boot zu erblicken, das ihn über den breiten Strom dieser heimlichen blauen Wässer trug … Des weiteren erkannte er: er war in diesen zwei Jahren ein Sklave geworden. Ein Sklave der Dinge, Menschen, Gewohnheiten, wie ihn das Leben innerhalb der menschlichen Gemeinsamkeiten erzeugt. Er trug Ketten, die die Hunderttausende nicht spüren. Aber der Gedanke liess sich nicht mehr vertreiben: es sei besser, ein Asket und König zu sein, ein Wundertäter draussen im blauen Lande.
Mit derartigen Einfällen brachte er die Nacht herum, die der Begegnung mit dem Doktor Wurzler folgte. In den Tagen, die nun kamen, war er voller Unlust und Gereiztheit. Und er verfiel in eine fürchterliche Vereinsamung. Inmitten von dreimalhunderttausend schlagenden Herzen bekam er Sehnsucht nach einem Menschen! Und in Bogenbach am Rotwasser hatte er Ferientage hindurch dem kleinen Leben im Wald und auf der Heide zugesehen und alles ringsum vergessen über seinem grossen Glück und den tiefen und schönen Gedanken, die ihm die Einsamkeit eingab. — Einsamkeit ist Leben, aber Vereinsamung ist schmerzvolles Siechtum zum Tode.
Sterbensmüde wurde er nun. Er hatte das öde Referieren über Versammlungen