Grafschaft Kent, weiter. Sie hatten keine Feindberührung, als sie die feudalen Herrensitze und verfallenen Burgen, die mittelalterlichen Kathedralen und die riesigen Obstplantagen überflogen. Die Landschaft wirkte schön und friedlich, von keiner Sprengwolke verunstaltet – aber die Idylle erwies sich als trügerisch und hinterhältig.
Kurz vor London, das ein Führerbefehl ausdrücklich zum Sperrgebiet für alle deutschen Flugzeuge erklärt hatte, wendeten die Mes, flogen zum Kontinent zurück. Noch immer keine englischen Jäger im Einsatzraum. Das Fighter Command hatte seine Jagdstaffeln nach hinten verlegt und benutzte die küstennahen Einsatzhäfen nur noch zum Auftanken oder für Notlandungen.
Über dem Kanal begegneten die zurückfliegenden Jäger den ersten Stuka-Staffeln im langsamen Anflug auf die Flugplätze. Mit einem Schlag verwandelte sich Englands südöstliches Paradies in ein feuerspeiendes Inferno. Sperrballons wurden mit Raketen bis zu 1800 Meter hochgeschossen, um Flughäfen und Rüstungszentren vor Tieffliegern zu schützen. Die Flak feuerte wild und zielsicher. Und plötzlich waren die Spits und Hurris da, pickten sich rücksichtslos aus den Verbänden ihre Opfer heraus, sprengten die Angriffskeile noch vor dem Bombenwurf, stellten sich jetzt auch den deutschen Begleitjägern zu verwegenen Zweikämpfen. Die Ju 87 des Sturzkampfgeschwaders 1, die Vorreiter des Angriffs, mußten sich quer durch die britischen Jagdstaffeln quälen. Die langsamen Todesvögel ließen sich über die Tragflächen abrutschen. Die Verfolger schossen an ihnen vorbei wie Jagdhunde an einem kleinen Vierbeiner, der sie mit einem Haken austrickste, aber sie kamen wieder.
Oder sie suchten sich andere Ziele. Verbände von 80 bis 150 Maschinen waren im rollenden Einsatz. Drei Luftflotten setzten jede startklare Maschine ein und brachten so das höchste Aufgebot zusammen, das je während des zweiten Weltkriegs die Insel angreifen sollte. 1786 Flugzeuge waren eine Übermacht, die ausreichen mußte, die Royal Air Force so anzuschlagen, daß ein Kanalübergang unter deutschem Luftschirm zum Ausflug auf die Insel würde.
Die Kampfszenen wechselten ständig, aber die Briten zauberten. Jeder anfliegende Verband wurde schon vor dem Ziel abgefangen und aufs Korn genommen. Wo immer Kampfflugzeuge mit dem Balkenkreuz auftauchten, ob über Middlewallop, West Malling oder Martelsham, die Spitfires standen zum Empfang bereit, immer im rechten Moment, stets am bedrohten Ort. Sie kannten das Angriffsziel, als hätten sie an den Einsatzbesprechungen ihrer Gegner teilgenommen. Es war wie in der Fabel, in der sich der Hase zu Tode hetzt, weil der Igel immer schon vor ihm am Ziel ist.
Die Engländer verfügten über zwei mächtige Trümpfe, von denen ihre deutschen Gegenspieler nichts wußten: In Frankreich hatte ein Geheimkommando die Chiffriermaschine »Enigma« erbeutet, die das deutsche Oberkommando verwandte, und sie auf die Insel geschafft; sie wurde in Bletchley Park installiert. Britischen Wissenschaftlern gelang es, diese elektronische Kassandra in kürzester Zeit in Betrieb zu nehmen. Wenn an die deutschen Kampffliegerstaffeln die Einsatzbefehle ergingen, wußten die Briten bereits im voraus, wo sie zuschlagen würden. Enigma blieb eines der bestgehüteten militärischen Geheimnisse des zweiten Weltkriegs und wurde erst in den letzten Jahren bekannt.
Die zweite Geheimwaffe hätte Göring erkennen müssen, denn die Deutschen verfügten unter dem Namen »Funkmessung« über eine – noch etwas unterentwickelte – gleiche Errungenschaft. Was die Luftwaffenbesatzungen für Spuk hielten, war elektronische Hexerei und hieß Radar. Die gesamte englische Küste war mit einer Kette von elektronischen Stationen überzogen. Die Funktürme der »Chainhome« mit ihrer Höhe bis zu 80 Metern konnten nicht übersehen werden, und sie wurden auch zunächst angegriffen, freilich mit wenig Erfolg.
»Schon über dem Pas de Calais wurden unsere noch in der Sammlung befindlichen Verbände erfaßt und nicht mehr aus dem Radarauge gelassen«, schreibt in seiner Autobiographie »Die Ersten und die Letzten« der deutsche Jagdfliegergeneral Adolf Galland. »Jede unserer Bewegungen projizierte sich auf die nahezu lückenlosen Luftlagebilder in den britischen Jägerleitzentralen, auf Grund deren das Fighter Command in der Lage war, seine Jagdkräfte zum günstigsten Zeitpunkt und am günstigsten Ort in die Schlacht zu führen.
Wir waren auf unser eigenes, menschliches Auge im Kampf angewiesen. Die britischen Jäger konnten sich auf das sichere und um ein Vielfaches weiterreichende Radarauge verlassen. Unsere Einsatzbefehle waren etwa drei Stunden alt, wenn wir in Berührung mit dem Gegner kamen, die britischen nur so viel Sekunden, wie von der Erfassung der jüngsten Lage mittels Radar bis zur Übermittlung des entsprechenden Angriffsbefehls an den in der Luft befindlichen Verband von der Jägerzentrale aus notwendig waren.«
Eine weitere Begünstigung der Engländer war offenkundig: Sie kämpften mit Platzvorteil. Wurde einer ihrer Piloten abgeschossen und konnte sich mit dem Fallschirm retten, saß er unter Umständen schon eine Stunde später wieder in einer Ersatzmaschine. Ein deutscher Flugzeugführer aber geriet in Gefangenschaft und war für die Luftwaffe für den Rest des Krieges verloren. Mit dem neuen englischen Rüstungsminister Lord Beaverbrook saß ein blendender Mann auf dem richtigen Stuhl; er kurbelte die Produktion so an, daß die Briten zweieinhalbmal so viele Jagdflugzeuge bauten wie ihre Gegner.
Zudem war das Fighter Command hervorragend organisiert und geführt. Air Chief Marshal Sir Hugh Dowding, ein schwächlich wirkender Mann mit einem knöchernen Gesicht und leicht stechenden Augen, war ein Sonderling, ein Spiritist, der glaubte, mit seinen abgeschossenen Piloten zu verkehren. Raymond Cartier nennt ihn die »farbloseste und kälteste Persönlichkeit der englischen Fliegerei«. Bei seinen Leuten trug Dowding den Spitznamen »Stuffy«, der Muffel. Er hatte eine Abneigung gegen Uniformen, was ihn nicht daran hinderte, bis Kriegsbeginn 53 Jagdstaffeln aufzubauen und die Spitfire durchzupauken. Sein Hauptquartier war eine Mädchenschule.
Dowding leitete von Bently Priory aus die Battle over Britain, die in erster Linie ein Krieg der Jäger gegen die Jäger war. Er konnte auch auf polnische und französische Piloten zurückgreifen, die sich freiwillig für die Verteidigung Englands gemeldet hatten. Beide Seiten hatten bald ihre Lufthelden, und die Mölders’ und Gallands hießen bei den Briten Sergeant James H. Lacey oder Squadron Leader D. R. S. Bader; sie errangen, gleich ihren Gegenspielern, einen Luftsieg nach dem anderen.
Bader, dem beide Oberschenkel nach einem Flugzeugabsturz amputiert werden mußten, nannte man in England das »Wunder ohne Beine«. Er führte die 242. Staffel. Alarmstart, nachdem über Radar zwei deutsche Pulks mit je dreißig Maschinen gemeldet worden waren. Bader flog auf Südostkurs. Die Bomber standen über Northweald. Die sechs Hurris stellten sich auf die Flächenspitzen, gingen aus der Sonne heraus in die Kurve. Der Group Captain nahm sich die Zweimotorigen vor, versuchend, die gegnerische Formation zu sprengen und durch sie hindurchzufliegen. Der Motor dröhnte. Die Silhouetten der Feindmaschinen wurden groß, größer. Bader erwischte die dritte Welle.
»Während er mit seinen beiden Rottenfliegern herankommt, eröffnet er das Feuer, ist dann plötzlich zwischen den Bombern und stürzt nach unten weg«, schreibt in seinem Buch »Jagdflieger« Edward H. Sims. »Da er so unerwartet durch die Formation durchschießt und nach unten taucht, kurven die erschrokkenen Piloten der Do 17 und Me 110 nach allen Richtungen weg. Die zweite Kette zischt durch die gesprengte Formation und schießt; Bader fängt seinen Sturz ab und zieht wieder hoch – wo er sich nun eines der abgesprengten Flugzeuge aussuchen kann. Im Hochziehen, mit McKnight links und Crowley-Milling rechts hinter ihm, sieht er über sich voraus drei Me 110, die nach rechts kurven. Er nimmt sich den letzten in dieser Formation vor und richtet die Nase seiner Hurricane auf den Zweimot-Jäger. Nach einem Sturz von 3000 Fuß, mit Vollgas, hat er jetzt einen ganz schönen Zahn drauf. Bader beobachtet, wie die Tragflächen der Me 110 in seinem Visier wachsen. Der feindliche Pilot zieht hoch und kurvt scharf nach rechts. Bader folgt ihm. Die Spannweite wächst weiter im Visier. Er holt rasch auf ... Näher ... noch näher. Jetzt ist er dran ... Schußentfernung!
Sein Daumen geht nach unten, und die acht Browning-MGs knattern los. Die Hurricane schüttelt unter dem Feuerstoß. Bader ist so nahe, daß die konzentrierte Garbe genau in die Me 110 hineinfetzt. Stücke fliegen nach hinten ab. An der Flächenwurzel züngeln Flammen auf. Bader sägt jetzt beinahe mit seinem Propeller das Leitwerk des Feindflugeuges an und nimmt den Daumen vom Abzugsknopf. Die zweimotorige Messerschmitt fällt aus ihrem Turn heraus nach unten rechts. Eine schwarze Rauchwolke markiert den Weg ihres Sturzes ...«
Bisher