soll, aber sie sind vorzeitig aus ihren Zelten, Baracken und Bauernstuben gekrochen und hören oder verzapfen Latrinenparolen.
Der Angriff gilt Loge.
Eine Stadt dieses Namens ist auf keiner Karte zu finden. Loge steht für London. Der Angriff auf die Weltstadt soll Vergeltung für Berlin sein, zugleich aber die dezimierte Jagdwaffe der R.A.F. – die erwartungsgemäß die Themse-Metropole erbittert verteidigen wird – endgültig vernichten.
»Am 6. September geht beim Geschwader ein Fernschreiben ein«, schreibt in seinem Buch »Kampfgeschwader 4« Karl Gundelach: »›Bis 7. 9. abends ist Einsatzbereitschaft auf höchsten Stand zu bringen.‹ Während die Techniker fieberhaft arbeiten, findet am nächsten Vormittag bei der Fliegerdivision eine Kommandeurbesprechung über den Einsatz statt: Es geht gegen London. Sämtliche Verbände der Luftflotten 2 und 3 sind zu einem Großangriff auf die englische Hauptstadt eingesetzt.«
Wie immer hat Bletchley Park die britische Luftverteidigung gewarnt, wie immer haben die Radartürme die anfliegenden Geschwader vorzeitig ausgemacht. Das Fighter Command nimmt an, daß seine Gegner heute einen letzten vernichtenden Schlag gegen die schwer angeschlagenen Jägerleitstände führen wollen, und schickt die Spits und Hurris im Alarmstart los – ein schwerer, wenn auch nicht unlogischer Fehler.
In unmittelbar aufeinanderfolgenden Wellen fliegen starke Kampfverbände erstmals den Lauf der Themse entlang. Sie lassen die bisher permanent angegriffenen Fighter-Bastionen in Kent und Essex ungestört und ziehen in Richtung London weiter, nehmen an der Themse-Schleife, die sie bald die »große Angstkurve« nennen werden, Maß.
In der Sieben-Millionen-Stadt heulen die Sirenen; sie heulten schon öfter, und immer war es blinder Alarm gewesen. Die Passanten bleiben auf der Straße stehen, die Gäste in den Pubs sitzen. Die Flak wagt zunächst nicht zu schießen, um nicht durch Schrapnells die Zaungäste des Todes zu gefährden. Endlich, als die ersten Reihenwürfe auf die Docks und auf das Arsenal von Woolwich niederrauschen, flüchten sie in die U-Bahn-Stationen.
Die Abwehr wirkt schwach. London ist fast schutzlos. Als die Spitfires und Hurricanes verspätet dorthin geleitet werden, müssen sie herunter, um aufzutanken.
Im Osten der Stadt turnt ein riesiger Rauchpilz nach oben. Dutzende von Bränden suchen sich zu einem Flammenmeer zu vereinigen. Neue Angreiferformationen erscheinen unter starkem Jagdschutz. Aus den Bombenschächten rauscht der Tod. Die Pulks drehen in Richtung Ärmelkanal ab und begegnen neuen anfliegenden Kampfstaffeln, die Begleitjäger sind so unbeschäftigt, daß einige von ihnen auf dem Rückflug die Sperrballons abknallen. Es sieht aus, als metzelten gierige Großwildjäger hilflose Dickhäuter.
Über der Themse steht eine Feuerglocke; sie beleuchtet die Angreifer von unten. In Radio BBC wiederholt ein aufgeregter Feuerwehroffizier immer wieder: »Schickt uns alle Pumpen, die ihr auftreiben könnt! Hier steht die ganze Welt in Flammen! Alle Pumpen, Leute, hört ihr.«
Die Fahrzeuge auf den Straßen jagen in Richtung Osten zu den Dockanlagen; ein endloser Lindwurm, dem Zug der Lemminge gleich. Mitunter stockt die Kolonne, dann krepieren zwischen ihr Bomben, und die Fahrzeuge laufen Slalom um Trichter. Es wird unerträglich heiß. An manchen Stellen kocht der Asphalt. Wer hineintritt, verliert Fuß, Bein, Leben. Der Tod bahnt seine Gassen quer durch London. Die Feuerzangen fressen sich bis zur City durch.
Das bei den Surrey-Docks gestapelte Bauholz brennt lichterloh. 250 Morgen. Das Feuer greift auf die Lagerhäuser über; Farben und Lacke mästen die Vernichtung. Gleich dahinter platzen verzischend Hunderte von Rumfässern. Der Alkohol heizt die Flammen zusätzlich an. Sie greifen auf ein Lagerhaus mit Pfeffer über. Was der Rauch nicht schafft, erledigt schließlich das Gewürz, quält die geröteten Augen, trocknet sie nässend.
Die meisten Bomben krepieren in der Stadtmitte und im Osten Londons. Auch die City steht in Flammen. Die rollenden Angriffe ziehen sich über acht Stunden hin. 625 Kampfmaschinen, begleitet von 648 Jägern und Zerstörern, werfen 300 Tonnen Sprengbomben und 13 000 Brandgeschosse. »Als die Flugzeuge, die je 1 SC 1800 kg ›Satan‹ geladen haben, kurz vor Mitternacht anfliegen, ist das brennende London schon aus 200 km Entfernung auszumachen«, schildert Karl Gundelach den Einsatz des Kampfgeschwaders »General Wever«. Die Dockanlagen bilden einen Feuersaum links und rechts der Themse. Straßen verwandeln sich in Flammenfallen. Aus Kellern werden Tote und Lebende geborgen. Zum ersten Mal sind die gespenstischen Klopfzeichen Eingeschlossener zu hören. Es ist die erste von sechsundachtzig Bombennächten, die London über sich ergehen lassen muß.
»The Blitz« hat begonnen; in den ersten beiden Bombennächten werden 842 Menschen getötet und 2347 verletzt.
Um 20 Uhr 53 waren sich die britischen Generalstabschefs einig, daß die Bombardierung Londons die Einleitung der Invasion auf die Insel sei. Sie lösen das Kennwort »Cromwell – Invasion imminent« aus, womit alle britischen Truppen und Heimwehrleute vor der unmittelbar bevorstehenden Invasion auf die Insel gewarnt werden.
Plötzlich läuten die Kirchenglocken. Wegkreuzungen werden verbarrikadiert, Brücken gesprengt. Auf den verstopften Straßen stranden Militärfahrzeuge. Die Befehlsverbindungen brechen ab. Die Home Guard, die Besenstielarmee, mobilisiert sich. Von Dorf zu Dorf fliegt die Schreckenskunde, daß deutsche Fallschirmjäger abgesprungen seien. Keiner der martialischen Amateurkrieger weiß während des nächtlichen Spuks, was wirklich los ist.
In Dover meldet man, daß Dungeness von den Deutschen längst erobert sei, und in Dungeness entsetzt man sich über die Besetzung Dovers durch die Hunnen. Und tatsächlich sind die Nachrichten, die jetzt von Dorf zu Dorf gehen, etwa so schnell und so schrecklich wie zu Zeiten Attilas. Laufend werden Angriffe deutscher Fallschirmjäger gemeldet, doch nichts ist zu hören außer zackigen Kommandos, Flüchen, Glockengeläute. Und die Motoren neu einfliegender Kampfverbände.
Auf den Hauptstraßen, die landeinwärts nach Canterbury, Maidstone und Horsham führten, standen Truppen neben drei Meter über der Erde angebrachten 2500-Liter-Tanks bereit, schildert Richard Collier, »aus denen sie die vorrückenden Deutschen mit einer Mischung von Benzin und Dieselöl besprühen würden – ein breiter Strahl von 120 Litern in der Minute, der mit einer Temperatur von fast 300 Grad brannte ...«
Die ganze Nacht hindurch steht die Heimwehr auf Posten. Zum ersten Mal nach neunhundert Jahren sind sie alarmiert worden, und die Leute greifen nach den abenteuerlichsten Waffen – von afrikanischen Wurfspeeren bis zu vier Dutzend rostigen Armeegewehren, Modell 1902, Überbleibseln einer Aufführung des Londoner Drury-Lane-Theaters. Um Southampton herum schlafen Truppen der 4. Division voll angekleidet und mit dem Gewehr neben sich schlecht und recht in Omnibussen.
Nicht Angst und Entsetzen verschulden das heillose Durcheinander, sondern der Tatendrang örtlicher Befehlshaber. Churchill, der zufällig auf seinem Landsitz Chequers weilt, weiß nicht, daß in diesen Stunden Gegenstöße gegen feindliche Luftlandetruppen geführt werden, die an allen Orten gesehen werden und doch unsichtbar bleiben. Er schläft tief, und im übrigen gilt seine Anweisung, daß er erst dann geweckt werden dürfe, wenn die USA in den Krieg eingetreten seien.
Selbst bei Tageslicht setzen sich die Jagdszenen in Südengland noch fort. Gerüchte jagen weiterhin durchs Land. Brandmeister Thomas Goodman von der Londoner Feuerwehr, der vorübergehend nach Dover abgestellt ist, hört von einer versuchten Landung in der Sandwiehes-Bucht und behauptet, das Wasser der Küstennähe sei schwarz von toten Deutschen.
Während Göring, umgeben von seinen Offizieren, auf seinem Kommandostand an der Kanalküste unwürdige Freudentänze aufführt, mitten in der Nacht seine Frau anruft und mit überschwappender Stimme in die Muschel schreit: »Ganz London brennt!«, begreift man in Südengland aufatmend: Blinder Alarm.
Der Seelöwe ist nicht gesprungen; er wird auch nicht – wie geplant – am 15. September 1940 springen. Die »Operation Seelöwe« bleibt wasserscheu. Gerade als die Schlacht um England auf dem Höhepunkt steht, eröffnet Hitler seinen Vertrauten, daß er – so bald wie möglich – die Sowjetunion angreifen wird.
Der 15. September ist ein Tag, an dem beide Seiten noch einmal die Entscheidung suchen: 200 deutsche Bomber, begleitet von etwa 600 Jägern, nähern sich wiederum London.
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