Will Berthold

Inferno. Siege und Niederlagen - Tatsachenroman


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Operationen abzufinden. Nun gab man auch jeden Vorwand auf, daß das Bombenwerfen etwa moralisch verteidigt werde könnte, umso mehr als man sich bereits am Vorabend der Zerstörung von Coventry und des Angriffs auf Mannheim befand.«

      Nacht für Nacht liegt London im Bombenhagel – 100 bis 300 Maschinen mit dem Balkenkreuz greifen jeweils an –, und stets Kehren weit weniger zurück. Die Wucht der deutschen Schläge nimmt im gleichen Maße ab, wie die Erfolge der Verteidiger größer werden Experten errechnen, daß zwanzigmal mehr deutsche Kampfflugzeuge nötig wären, wenn London, wie von Hitler und Göring angekündigt, tatsächlich »ausradiert« werden sollte.

      »Das Ziel war, einfach gesagt, zu groß, und die Menge der Bomben, im Durchschnitt etwa über eine Tonne pro Flugzeug, war zu gering, so zynisch das auch klingen mag«, stellen die britischen Autoren John W. R. Taylor und Philip J. R. Moyes fest.

      Auch Städte wie Birmingham, Leeds und Sheffield werden zu Bombenzielen. Nicht selten werfen Görings Bomber ihre Todesfracht auch nur in künstlich gelegte Heidebrände, mit denen die Engländer »brennende Städte« darstellen. Ihr Radarnetz funktioniert fast pannenfrei. Sie setzen jetzt »Blenheims« als Nachtjäger ein. Freilich sind die Piloten auf helles Mondlicht oder auf Scheinwerferkegel angewiesen, und die Wahrscheinlichkeit, von der eigenen Flak heruntergeholt zu werden, ist noch immer größer als die Chance, eine Gegnermaschine abzuschießen.

      Aber nicht nur psychologisch sitzen den Angreifern jetzt Abfangjäger im Nacken. Englands größter Trumpf ist noch immer das Enigma-Gerät. In Bletchley Park, meistens schon Stunden vor dem Angriff, sagt den Engländern die elektronische Kassandra das Ziel voraus und ermöglicht dadurch verstärkte Abwehrmaßnahmen.

      Enigma – sie nennen es Ultra – ist für die Briten unersetzbar. Am 14. November 1940 aber verleitet die Geheimhaltung den Regierungschef Winston Churchill zu einer militärisch richtigen, menschlich jedoch unmöglichen Entscheidung. Gegen 15 Uhr dechiffrieren die Codebrecher von Bletchley Park die Meldung, daß in der Nacht ein deutscher Großangriff auf die mittelenglische Stadt Coventry bevorsteht. Görings Geschwader verfügen erstmals über das Knickebein-Verfahren, eine verbesserte Navigationshilfe. Die Wetterbedingungen sind für die Kampffliegerformationen äußerst günstig. Es herrscht Vollmond und Windstille. Unter diesen Umständen muß damit gerechnet werden, daß die beiden Staffeln der Kampfgruppe 100, die als Vorläufer die anderen Verbände in die Industriestadt heranlotsen, das Ziel erreichen, mit Feuerbränden markieren und unter der Zivilbevölkerung eine Katastrophe auslösen werden.

      Noch bliebe Zeit, die Menschen von Coventry zu warnen oder zu evakuieren.

      Zunächst ist der Premierminister nicht erreichbar, dann entscheidet er sich zwar, die Verteidigungsmaßnahmen zu verstärken, die Zivilbevölkerung jedoch nicht zu warnen, um das Enigma-Geheimnis zu wahren. Um 20 Uhr heulen in der Stadt die Sirenen zum ersten Mal. Die Bevölkerung, die sich ohne Eile und Panik in den Keller begibt, ahnt nicht, daß die Angriffe bis 5 Uhr 30 morgens andauern und gleichermaßen Flugzeugwerke und Wohnviertel, unersetzbare Baudenkmäler und die berühmte Kathedrale zerstören werden.

      Das Flammenmeer ist über hundert Meilen weit zu sehen und weist den nachfolgenden deutschen Verbänden den Weg. »Immer näher kamen wir heran«, heißt es in einem vom OKW veröffentlichten Augenzeugenbericht. »Das schaurig-schöne Bild rückte greifbar nahe. Dicker Qualm zog über die Dächer der Stadt weit ins Land hinaus. Wir konnten deutlich hohe Flammen zucken sehen. Ein besonders großer Brandherd neben unzähligen anderen zeigte an, daß eine umfangreiche Industrieanlage schwer getroffen sein mußte. Wir waren über dem Ziel. Die Flak schoß verzweifelt. Um uns die Blitze explodierender Granaten. Wir konnten deutlich die Brandherde in ihrem riesengroßen Ausmaß erkennen und sahen Flammen über große Teile der Industriestadt züngeln. Im gleichen Augenblick lösten sich unsere Bomben. Ein Schlag ging durch die Maschine. Unten zuckte ein tagesheller Schein von neuen Explosionen auf. Wir waren die erste Maschine einer Gruppe deutscher Kampfflugzeuge; andere waren vor uns da, neue folgten – bis zum Dämmerlicht des neuen Tages, der den ganzen Umfang der Katastrophe von Coventry enthüllen sollte.«

      Associated Press meldet aus London: »Deutsche Bomber haben bei einem von der Abenddämmerung bis zum Morgengrauen dauernden Angriff, der Teile der Stadt in eine Hölle verwandelte und mindestens tausend Tote und Verwundete kostete, das Herz dieser ehedem friedlichen Stadt in Mittelengland vernichtet. Coventrys wundervolle berühmte Kathedrale aus rotbraunem Sandstein ist eine rauchende Trümmerstätte ... Die ganze Nacht hindurch zitterten und barsten die engen Straßen, durch die vor bald tausend Jahren Lady Godiva auf ihrem Roß geritten war, unter dem Donner der Sturzkampfflugzeuge, heulenden Bomben und ihren Explosionen und dem Krachen des Flakfeuers.«

      Eine genaue Überprüfung ergab in den nächsten Tagen, daß bei dem von deutscher Seite zum Vergeltungsangriff deklarierten Bombardement 551 Engländer getötet und 865 schwer verletzt worden waren. Die Schäden waren so gewaltig, daß die Nacht vom 14. auf 15. November als der Höhepunkt der nächtlichen Luftoffensive angesehen wurde. Tatsächlich waren in zwölf Flugzeugwerken Treffer erzielt worden, die die englische Produktion vorübergehend um ein Fünftel verringerten.

      Göring läßt sein Vernichtungswerk als gewaltigen Sieg feiern, Goebbels dem deutschen Sprachschatz das neue Wort »coventrieren« einverleiben: Es steht in aller Welt für rücksichtslosen Luftkrieg, wie ihn die Engländer und Amerikaner schon bald mit weit größerem Erfolg führen werden.

      Schon am nächsten Tag melden die Briten Angriffe auf Hamburg, Bremen sowie die Reichshauptstadt. »Der Angriff gegen Berlin begann bereits in den frühen Abendstunden und wurde von einander ablösenden Maschinen mehrere Stunden lang durchgeführt«, behauptet übertreibend das englische Bomberkommando. »Er verursachte eine Reihe schwerer Brände, die noch auf eine Entfernung von 50 Kilometer gesehen wurden.«

      Noch war es mehr Propaganda als Terror, aber bald würde das Ausmaß des Terrors die Propaganda sprachlos machen.

      Noch immer rollte die längst gescheiterte deutsche Luftoffensive weiter. Die Besatzungen, die die Hölle über der Insel ausklinkten, mußten selbst durch die Hölle fliegen, hin und zurück, oft mehrmals in einer Nacht. Sie waren so abgekämpft und erschöpft, daß mitunter unausgebildete Männer vom Bodenpersonal, Zahlmeister und sogar Luftwaffenärzte mitflogen, um Bordschützen zu ein paar Stunden Schlaf zu verhelfen.

      Wie sie von En-gel-land zurückkamen, schildert Oberleutnant Küchle, Schwarmführer vom Kampfgeschwader 51, der bei einem Angriff auf Portsmouth in der Nacht vom 10. auf den 11. Januar 1941 zweimal von britischen Nachtjägern angegriffen worden war und als letzter über dem französischen Hafen kreiste, um bei der zu erwartenden Bruchlandung die anderen Maschinen nicht zu gefährden: »Bei den beiden Angriffen erhielt das Flugzeug 38 Treffer. Der rechte Reifen wurde bereits in der Luft zerschossen. Acht bis zehn größere Einschußlöcher lassen den Schluß zu, daß es sich dabei um Explosivgeschoße aus überschweren MGs oder einer Bordkanone handelt. Bei jeder Fläche wurde das Mündungsfeuer von drei Rohren beobachtet. Vielleicht befindet sich darunter eine Kanone. Der Nachtjäger schoß mit grüner Leuchtspur. Das gepanzerte Kabinendach (Ausführung Opel) hatte mehrere Treffer, die die Panzerung nicht durchschlugen. Die rechte Luftschraube erhielt zwei Durchschüsse. Ebenfalls erhielt das Leitwerk mehrere Durchschüsse, die zum Teil vom Bordfunker stammen könnten.«

      Während Oberleutnant Küchle bei diesem Einsatz noch einmal mit dem Schrecken davongekommen war, endete für eine andere Ju-88-Besatzung des »Edelweiß«-Geschwaders der Angriff auf die Insel weit weniger glimpflich. Flaktreffer und Jägerbeschuß beschädigten die Maschine des Oberleutnants von Claer schwer. Zwei Mann seiner Besatzung lagen tot in der Maschine, die er noch wenden konnte. Aber über dem Kanal war Feierabend; er mußte herunter und eine Notlandung im Kanal bauen.

      Die Ju 88 war nicht mehr zu retten, aber der Oberleutnant und Feldwebel Märte konnten das Schlauchboot aussetzen und die Schwimmwesten anziehen. Sie kamen aus dem Wrack, bevor es unterging. Sie trieben bei stürmischer See in ihrem durchlöcherten Schlauchboot. »Mit Mühe hielten sie sich fest, um nicht ein Spielball der Wellen zu werden«, berichtet in seiner Chronik des Kampfgeschwaders 51 Wolfgang Dierich. »Stunden vergingen. Als die Nacht hereinbrach, hatte sich die schwere Fliegerbekleidung längst mit Salzwasser vollgesaugt und drohte die