Hannes Lindemann

Maritime E-Bibliothek: Sammelband Abenteuer und Segeln


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der Nordwind dieser Jahreszeit an der iberischen Küste entlang. Vor der Ria de Muros liefen wir in eine absolute Flaute. Nachmittags brannte die Sonne mitleidlos aufs Deck, eine träge Dünung rollte unter dem Schiff dahin, das sich wie ein Wal zu wälzen begann. Flimmernd lag backbord die spanische Küste. Sie schien in der Hitze der bewegungslosen Luft zu kochen. Steuerbord voraus stieg die Rauchfahne eines Fischdampfers senkrecht auf. Wo sie in einiger Höhe auf eine kühle Luftschicht stieß, breitete sie sich flächig aus, bildete einen Vorhang, über dem sich der Dampfer als Luftspiegelung überkopf deutlich abzeichnete. Monte Louro, der zwiegegipfelte Berg neben der Einfahrt unseres Zieles – auch sein Spieglbild hob sich empor, reckte und verzerrte sich. Achteraus sahen wir zwei Horizonte, und das Glitzern der Sonne zuckte flirrend bis in den Zenit hinauf. Wir saßen und starrten und fürchteten, daß die Welt bald nur noch aus Unwirklichkeiten bestehen würde.

      Wir warfen die Maschine an und hielten auf die Küste zu. Die vorgelagerten Riffe konnten wir schon bald ausmachen. Hinter ihnen war eine Kursänderung ins Fahrwasser der Bucht notwendig. Wir hatten keine Landpeilungen, bis sich die Verzerrungen vor uns wieder in normale Formen zurückschoben. Aus Unheimlichkeit wurde vertraute Schönheit. Auf welch schmalem Pfad leben wir Menschen! Ein wenig zuviel Hitze genügt, um unser Bild von der Erde zu zerstören. Ein wenig zu kalte Luft reicht aus, um unsere Umwelt auf den Kopf zu stellen.

      In der geschützten Bucht liefen wir zum Ankerplatz. Der Anker fiel und zog rasselnd die Kette hinter sich her. Als Stille eintrat, klangen Menschengeräusche vom Städtchen Muros herüber, das sich in dünnen Häuserreihen an den abenddunklen Hang preßte.

      Die Berge des gegenüberliegenden Ufers färbten sich rot. Wie Behausungen von Zwergen lagen dort Dörfer an den Hängen. Und darüber standen die Gipfel, deren nackter Fels im Schein der Abendsonne zu glühen begann: Heimat fremder Heroen, die in unirdischen Träumen leben und niemals zu uns Menschen niedersteigen.

      Männer nahmen von dieser Küste Abschied, deren Entdeckungsfahrten das europäische Bild der Erde prägten. Columbus, Magallan, de Soto, Balboa, Cortez, Pizarro, zahlreiche andere. In unendlicher Hoffnung fuhren sie aus und in maßlosem Elend kehrten sie zurück: erschöpft, auf morsch gewordenen Schiffen, mit zerrissenen Segeln, nur einen Bruchteil der Gefährten um sich, die mit ihnen ausgezogen waren. Ihrem Elend folgte oft Triumph, ebenso oft auch Gefangenschaft und Hinrichtung. Kein Schicksal ist unausdenkbar in diesem endlosen Zug der Geschichte. Und kehrten sie nicht zurück, blieben sie irgendwo verschollen, ertränkt im Schiffbruch vor fremder Küste, erschlagen von Eingeborenen, erhängt von Meuterern, erdolcht von Neidern, dem Fieber erlegen oder vom Hunger dahingerafft: neue Männer zogen von diesen Küsten aus, immer wieder neue.

      Ihr Traum ist Gold. Ihr Stolz ist beispiellose Tapferkeit. Ihre Leidenschaft ist die Bekehrung von Heiden. Sie finden Gold und sie bekehren Heiden.

      Kein Preis ist ihnen dafür zu hoch und jedes Mittel recht.

      So zerrinnt das Gold und die Bekehrung bessert nichts. Sie stürmen weiter, segeln, entdecken, erobern, metzeln, brandschatzen, rauben. Sie gründen ein Reich, in dem die Sonne niemals untergeht. Aber schon die Söhne müssen verteidigen, was die Conquista ihrer Väter zusammenraffte.

      Der Traum verlischt. Der Stolz zerbröckelt wie das Reich. Die Leidenschaft versiegt. Wehmut bleibt: Eldorado tapferer Hidalgos, intrigierender Granden, einsamer Könige. Da reitet in Unsterblichkeit der Ritter von der traurigen Gestalt – Don Quijote.

      »Abendessen!« rief Elgas Stimme aus der Kajüte.

      Ich blickte nochmals zu den Bergen, deren Konturen nun ins Grau der Nacht sanken. Von dieser Küste werden auch wir Abschied nehmen, um über das Meer dorthin zu segeln, wo sich das Schicksal so vieler entschied. Wie wird sich das unsere entscheiden?

      »Tomatenreis mit verlorenen Eiern, frischer Salat, mit Zitronensaft bereitet!« sang Elga.

      »Ich komme mit gewaltigem Hunger!« rief ich und stieg in den freundlichen Lampenschein unserer Kajüte hinunter.

      Gern würde ich alle Einzelheiten über unsere Küstensegelei in spanischen und portugiesischen Gewässern erzählen. Wir erlebten so viel – zu viel, um alles erzählen zu können. Wir mußten segeln, wenn es das Wetter nur irgendwie gestattete. Spätestens Anfang November wollten wir Las Palmas auf Gran Canaria zur Atlantiküberquerung verlassen. Zuvor mußte »Kairos« überholt und ausgerüstet werden. Im November wird der Westteil des südlichen Nordatlantik – das Seegebiet der Antillen also – sicher: die Jahreszeit der tropischen Wirbelstürme ist dann vorbei.

      Bei nördlichen Winden segelten wir nach Vigo, um unsere Post zu holen. Wir ankerten in der Bucht von Bayona auf gleichem Platz, wo 1493 die Karavelle »La Pinta« unter Martin Alonso de Pinzon vor Anker ging. Als erstes Schiff aus Columbus’ Geschwader brachte sie die Nachricht von der Entdeckung der Neuen Welt. Wir lauschten im Flußgebiet westlich der Stadt Aveiro dem klagenden Ruf der Vögel und sahen über der flachen Sumpflandschaft die weißen Haufen trocknenden Salzes, während die dunklen Segel der Barken, die das einzige Verkehrsmittel in jener Welt von Wasserläufen sind, geheimnisvoll vorüberglitten.

      In Oporto stiegen wir in den Keller und probierten Portwein. Es war eine erschreckend lange Reihe von Gläsern. Die Probe artete fast in Arbeit aus. Jetzt wissen wir wirklich, was Portwein ist.

      Wir lagen in portugiesischen Fischerhäfen, und Elga übersetzte mir die Erzählungen der Fischer von den Neufundlandbänken, von Schoonern und Dorys, von Dorsch und Sturm und Nebel.

      Am Cabo da Roca vorbei segelten wir in die Tejomündung. Es wehte aus Nord mit Stärke 7, und wir wurden naß bis auf die Knochen.

      Und während aller Zeit lag zu Steuerbord der große Atlantik und wartete. Wir kannten nichts von ihm. Sein unerbittlicher Dreiklang von Himmel, Wasser und Horizont war uns fremd und unheimlich.

      »Elga«, sagte ich, »wenn Cabo da Roca nächste Woche achteraus verschwindet, sind wir allein – du und ich und das Schiff.«

      »Ja«, sagte sie.

      In Lissabon warteten wir auf Nordwind. Immer wieder saßen wir in etwas gedrückter Stimmung im Cockpit. In einen heißen, windlosen Himmel hob sich das Monument Heinrich des Seefahrers, der nie eine Seefahrt unternahm. Aber er löste sie aus dem Zustand zwischen Seeräuberei und Eroberungszug. Er machte Seefahrt zu einer geistigen Erfahrung, die Ungewißheit austilgen konnte. Er sammelte die Meldungen seiner Kapitäne, sichtete sie. Er schuf den Grundgedanken des Seehandbuches: Küstenlinien und Untiefen zu beschreiben, Strömungen aufzuzeichnen, damit die Nachfahren Nutzen daraus ziehen konnten. Ein Seefahrer, der nicht die See befuhr – steinern steht er auf seinem dem Bug eines Schiffes ähnlichen Podest, hinter sich die Kapitäne, Geologen, Kartographen und Paladine, über sich die granitene Schwingung des Denkmals wie ein geblähtes Segel. Er blickt über den Tejo, auf dem die Schiffe kommen und gehen, in jene Weiten, denen er so viel von ihren ungewissen Schrecken nahm.

      Wir machten Museumsbesuche und Ausflüge. Dann war es plötzlich so weit: Wind wehte, Nordwind! Wir segelten den Tejo hinab. In der Flußmündung kontrollierten wir durch Azimutpeilungen der Sonne unseren Kompaß. Als wir das grüne Flußwasser unterm Kiel verloren und das Blau des Ozeans tief wurde, frischte der Wind auf. Wir refften das Großsegel. Der Seegang lief grob. Wir fühlten uns seekrank. Kurs Südwest nach Madeira lag an. 500 Seemeilen Ungewißheit.

      Ich blickte zum Cabo da Roca zurück, das wie ein Klotz in Dunst und Sonnenschein lag. Voraus wurde die Linie des Horizontes vom ziehenden Seegang unterbrochen.

      »Bist du zufrieden?« fragte Elga.

      »Ja«, antwortete ich. »Jetzt sind wir mittendrin. Jede Minute und Stunde, jeder Tag zählt – hoppla!« Das Schiff rollte, und ich mußte mich festhalten.

      Während meiner Nachmittagswache zogen Federwolken auf. Sie bleichten den Schein der Sonne und ließen das Meer graubärtig und heimtückisch in ihrem verschleiernden Licht erscheinen. Aber das Barometer stieg. Lauf, »Kairos«, dachte ich, segle die Ungewißheit weg!

      Während dieser Fahrt erlebten wir außer einer Gewitterbö, die mich fast aus dem Mast schleuderte, nur Flauten. Unsere Müdigkeit wurde unerträglich bei der unerbittlichen Reihenfolge der Wachen. Doch